Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur,Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing tätig gewesen ist). Aber jene andern fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise; und so gründlich, daß das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, daß seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herders Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, — aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben geraten! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, daß ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. — Und was hat diese fünf zurückgedrängt, so daß gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen: also lauter Tugenden, welche gerade durch jene fünf (und durch zehn und zwanzig andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschlandangepflanztworden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. — AberKlassikersind nichtAnpflanzervon intellektuellen und literarischen Tugenden, sondernVollenderund höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zugrundegehen: denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchernlebt:in den Klassikern.
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Interessant, aber nicht schön. — Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man erraten möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der das Rätsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist.
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Gegen die Sprach-Neuerer. — In der Sprache neuern oder altertümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edle Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie wollenwenigerhaben, als das Volk hat — denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem — aber sie wollen dies Wenigerbesserhaben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat.
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Die traurigen und die ernsten Autoren. — Wer zu Papier bringt, was erleidet,wird eintraurigerAutor: aber einernster,wenn er uns sagt, was erlittund weshalb er jetzt in der Freude ausruht.
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Gesundheit des Geschmacks. — Wie kommt es, daß die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten — überhaupt, und namentlich im Geschmack? Oder gibt es Epidemien der Gesundheit? —
130
Vorsatz. — Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde.
131
Den Gedanken verbessern. — Den Stil verbessern — das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! — Wer dies nicht sofort zugibt, ist auch nie davon zu überzeugen.
132
Klassische Bücher. — Die schwächste Seite jedes klassischen Buches ist die, daß es zu sehr in der Muttersprache seines Autors geschrieben ist.
133
Schlechte Bücher. — Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.
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Sinnesgegenwart. — Das Publikum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer amrechtenSinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart.
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Gewählte Gedanken. — Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, — und zwar beide aus demÜblichenundHerrschenden:die gewagten und allzufrisch riechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht beides — der gewählte Gedanke und das gewählte Wort — leicht nach Mittelmäßigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Übliche und Alltägliche daran geschmeckt wird.
136
Hauptgrund der Verderbnis des Stils. — Mehr Empfindung für eine Sachezeigenwollen, als man wirklichhat,verdirbt denStil,in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle große Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nichtganzans Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner gibt, als sie ist.
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Zur Entschuldigung der schwerfälligen Stilisten. — Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer ins Gehör, als die Sache wirklich wiegt — das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heißt derRede, übergehen müssen.
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Vogelperspektive.
— Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reißt das Auge so mit sich fort, daß die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern wiehinabzufliehenscheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, daß man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspektive nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit.
139
Gewagte Vergleichungen. — Wenn die gewagten Vergleichungen nicht Beweise vom Mutwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten Geschmackes.
140
In Ketten tanzen. — Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist derneue Zwang,den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (so daß er Nachahmer findet)? Denn was man» Erfindung«(im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte Fessel.»In Ketten tanzen«, es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, — das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmeninnerhalbderen er tanzen mußte: und er selber schuf neue Konventionen für die Kommenden hinzu. Dies war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn sich auferlegen und ihn anmutig besiegen: so daß Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden.
141
Fülle der Autoren. — Das Letzte, was ein guter Autor bekommt, ist Fülle; wer sie mitbringt, wird nie ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde sind mager, bis sie von ihren Siegenausruhendürfen.
142
Keuchende Helden. — Dichter und Künstler, die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen: sie verstehen sich auf das leichte Atmen nicht.
143
Der Halb-Blinde. — Der Halb-Blinde ist der Todfeind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, daß sein Verfasser fünfzig Seiten braucht, um fünf Gedanken mitzuteilen; jenen Ingrimm darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt in Gefahr gebracht zu haben. — Ein Halb-Blinder sagte:alleAutoren haben sich gehen lassen. — »Auch der heilige Geist?«— Auch der heilige Geist. Aber der durfte es; er schrieb für, die Ganz-Blinden.
144
Der Stil der Unsterblichkeit. — Thukydides sowohl wie Tacitus — beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile zu erraten sein. Der eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der andere durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet.
145
Gegen Bilder und Gleichnisse. — Mit Bildern, und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, dasGlaublich -Machendenichtund fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der Gewißheit ist.
146
Vorsicht. — Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht:»er ist unwissend«, sondern:»er ist von zweifelhaftem Charakter«. — Dieser übereilte Schluß macht übrigens den Deutschen alle Ehre.
147
Bemalte Gerippe. — Bemalte Gerippe: das sind jene Autoren, welchedas,was ihnen an Fleisch abgeht, durch künstliche Farben ersetzen möchten.
148
Der großartige Stil und das Höhere. — an lernt es schneller, großartig schreiben, als leicht und schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich ins Moralische.
149
Sebastian Bach. — Sofern man Bachs Musiknichtals vollkommener und gewitzigter Kenner des Kontrapunktes und aller Arten des fugierten Stiles hört und demgemäß des eigentlichen artistischen Genusses entraten muß, wird es uns als Hörern seiner Musik zumute sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären,wie Gott die Welt schuf.Das heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes im Werden ist, aber noch nichtist:unseregroßemoderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch daß sie die Kirche, die Nationalitäten und den Kontrapunkt überwand. In Bach ist noch zuviel krude Christlichkeit, krudes Deutschtum, krude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um.
150
Händel. — Händel, im Erfinden seiner Musik kühn, neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt, dessen ein Volk fähig ist, — wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja an sich selber müde; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel und war froh, wenn er fertig war, — aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktages gewesen sind.
151
Haydn. — Soweit sich Genialität mit einem schlechthingutenMenschen verbinden kann, hat Haydn sie gehabt. Er geht gerade bis an die Grenze, welche die Moralität dem Intellekt zieht; er macht lauter Musik, die» keine Vergangenheit «hat.
152
Beethoven und Mozart. — Beethovens Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegteBetrachtungbeim unerwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes» Unschuld in Tönen«: es ist MusiküberMusik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiener, beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des Karnevals, — da entdeckt er seine» Melodien«: er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärteErinnerungenaus der» besseren Welt«: ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte.