Der Wanderer und sein Schatten - Фридрих Ницше 3 стр.


« Vor allem läßt sich dieser Zustand nicht so leichtmehrzur Schau tragen, als er sich selber zur Schau trägt; indem Schopenhauer aber geradenurdie Absichtlichkeit des Zur-Schau-Tragens hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereitgehaltenen» Erklärung «passe. Sodann ist das, was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr: er spricht von» jedem Weibe«; viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der Tat sich auf jenen Zustand etwas zugute tun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, daß sienochvon ihren Männern begehrt werden. Daß bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender Fremder sagt oder denkt:»sollte es möglich sein — «, dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen. Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauers Sätzen zu folgern wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellekts zu gebären, in welchem» der Wille «sich zum allgemeinen Besten wieder einmal» verneinen «kann; die dummen Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen als alles, was sie verbergen. — Man kann nicht sagen, daß diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz im allgemeinen darin recht, daß die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand als die seinige. Man könnte sich ein Gakkern der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des Inhaltes: Seht! Seht! Ich werde ein Ei legen! Ich werde ein Ei legen!

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Der moderne Diogenes.  — Bevor man den Menschen sucht, muß man die Laterne gefunden haben. — Wird es die Laterne desZynikerssein müssen?

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Immoralisten.  — Die Moralisten müssen es sich jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral sezieren. Wer aber sezieren will, muß töten: jedoch nur, damit besser gewußt, besser geurteilt, besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt seziere. Leider aber meinen die Menschen immer noch, daß jeder Moralist auch durch sein gesamtes Handeln ein Musterbild sein müsse, welches die anderen nachzuahmen hätten: sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren Moralisten sezierten nicht genug und predigten allzuhäufig: daher rührt jene Verwechslung und jene unangenehme Folge für die jetzigen Moralisten.

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Nicht zu verwechseln.  — Die Moralisten, welche die großartige, mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarchs, oder den reinen, erleuchteten, wärmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten Männer und Frauen als schwere Probleme der Erkenntnis behandeln und der Herkunft derselben nachspüren, indem sie das Komplizierte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen und das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen zarten Begriffs-Täuschungen und die von alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfindungen richten, — diese Moralisten sind am meisten gerade von denenverschieden,mit denen sie doch am meistenverwechseltwerden: von den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweisen und Seelenzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne Armseligkeit hinter dem Glanze von Größe und Reinheit versteckt wähnen. Die Moralisten sagen:»hier sind Probleme«, und die Erbärmlichen sagen:»hier sind Betrüger und Betrügereien«; sieleugnenalso dieExistenzgerade dessen, was jene zuerklärenbeflissen sind.

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Der Mensch als der Messende.  — Vielleicht hatte alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Maß und das Messen, die Waage und das Wägen entdeckten (das Wort» Mensch «bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner größten Entdeckungbenennenwollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen.

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Prinzip des Gleichgewichts.  — Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der zweite seinen Vorteil anders als der erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältnis wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und dieselbe Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht rätlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur dieVerklügerungder Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich kaufen — womöglich für Nichts als die Unternehmungskosten — , so teuer wie möglich verkaufen). Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den RäuberGleichgewichtzu halten; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einergleichwiegendenMacht zusammentun oder sich einem Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grundezweigefährliche Wesen in Schach hält: das erste durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunkt des Vorteils; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Tatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher immer möglichen völligenVernichtungatmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. — Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zumGleichgewichtmit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum Übergewicht wäre rätlicher, wenn man dabei so stark würde, um die Gegenmacht auf einmal zuvernichten:und handelt es sich um einen einzelnen mächtigen Schadentuer, so wird dies gewißversucht.

Ist aber der eine ein Stammhaupt oder hat er großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde langeFehdezu gewärtigen: diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nötigen Regelmäßigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Deshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung und Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt gleich viel Erz liege: warum wolle man nicht gut Freund miteinander sein? —Gleichgewichtist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt:»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltungerhalten:so daß, wenn jetzt der eine sich gegen den andern vergeht, der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnissewiederhergestellt:denn ein Auge, ein Armmehrist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewichtmehr.  — Innerhalb einer Gemeinde, in der alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt gegen Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts,SchandeundStrafeda: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden einzelnen, der durch den Übergriff sich Vorteile verschafft hat, durch die Schande nun wieder Nachteile erfährt, die den früheren Vorteil aufheben undüberwiegen.Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt gegen das Übergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres Gegengewicht auf, gegen Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevlererinnert,daß er mit seiner Handlungausder Gemeinde und deren Moral —Vorteilenausschied: sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, außer ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat einMehr,ein Etwas von derHärte des Naturzustandes;andiesenwill sie ebenerinnern.

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Ob die Anhänger der Lehre vom freien Willen strafen dürfen?  — Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Übeltäter überhaupt für seine Tat verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwendenkonnte,ob er aus Gründen handelte und nicht unbewußt oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, daß er die schlechteren Gründe den besseren vorzog: welche er alsogekannthaben muß. Wo diese Kenntnis fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei denn, daß seine Unkenntnis, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen und muß jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büßen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm, wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als Tier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muß? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom Irrtum, von der Blindheit her, nicht von einem äußeren, auch von keinem inneren Zwange her? (Man erwäge übrigens, daß jeder sogenannte»äußere Zwang «nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes.) Woher? fragt man immer wieder. DieVernunftsoll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den» freien Willen «zur Hilfe: es soll dasvollendete Beliebenentscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt, wo die Tat alsWundergeschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angeblicheBeliebigkeit,in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom» freien Willen «Gebrauch macht: das heißt, weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aberwarumtat er dies? Dies eben darf nicht einmal mehrgefragtwerden: es war eine Tat ohne» darum?«ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. —Eine solche Tat dürfte man aber,nach der ersten oben vorangeschickten Bedingung aller Strafbarkeit,auch nicht strafen!Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier etwasnichtgetan, etwas unterlassen, von der VernunftnichtGebrauch gemacht sei: denn unter allen Umständen geschah die Unterlassungohne Absicht!und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, aberohneGrund und Absicht: er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht,umsie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, daß er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, — gerade sie ist bei der Annahme des» freien Willens «aufgehoben. Ihrdürftnicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom» freien Willen«, nach euern eigenen Grundsätzen nicht! — Diese sind aber im Grunde nichts, als eine sehr wunderliche Begriffs-Mythologie; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen.

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Zur Beurteilung des Verbrechers und seines Richters.  — Der Verbrecher, der den ganzen Fluß der Umstände kennt, findet seine Tat nicht so außer der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler: seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grad vonErstaunenzugemessen, welches jene beim Anblick der Tat als einer Unbegreiflichkeit befällt. — Wenn die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, somüssendie sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher: der Verteidiger wird schrittweise jenes verurteilende und strafzumessendeErstaunen mildernund zuletzt ganz aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständnis nötigt:»er mußte so handeln, wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Notwendigkeit bestrafen.

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