Der Wanderer und sein Schatten - Фридрих Ницше 8 стр.


«»Nun«, sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener,»was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns alle ein: es wäre wirklich recht gutmütig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben aber laß beiseite!«»Und«, rief ein jüngerer Mann dazwischen,»ich glaub' es ihm auch nicht: er hat sich nur etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefängniswärter weißnichts.« »Und wenn er etwas gewußt hat, so weiß er's nicht mehr«, sagte der letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den Hof hinabkam,»der Gefängniswärter ist eben plötzlich gestorben.«—»Holla«, schrien mehrere durcheinander,»holla! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetztdeineGefangenen?«—»Ich habe es euch gesagt«, entgegnete der Angeredete mild,»ich werde jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiß als mein Vater noch lebt.«— Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und ließen ihn stehen.

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Der Verfolger Gottes.  — Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und daß dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare: Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, — um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welche grausame und unersättliche Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der so etwas sich zuerst oder zu zweit ausdachte! — Paulus ist also doch Saulus geblieben —der Verfolger Gottes.

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Sokrates.  — Wenn alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständnis des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesamt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schließen möchte, daß das Eigentümlichste an Sokrates ein Anteilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. — Vor dem Stifter des Christentums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jeneWeisheit voller Schelmenstreichevoraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Überdies hatte er den größeren Verstand.

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Gut schreiben lernen.  — Die Zeit des Gutredens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Kulturen vorbei ist. Die letzte Grenze, welche Aristoteles der großen Stadt erlaubte — es müsse der Herold noch imstande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen — , diese Grenze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Deshalb muß jetzt ein jeder, der gut europäisch gesinnt ist,gut und immer besser schreibenlernen: es hilft nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das Schlecht-schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heißt zugleich auch besser denken; immer Mitteilenswerteres erfinden und es wirklich mitteilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, daß alles Gute Gemeingut werde und den Freien alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dingevorbereiten,wo den guten Europäern ihre große Aufgabe in die Hände fällt: die Leitung und Überwachung der gesamten Erdkultur. — Wer das Gegenteil predigt, sich nicht um das Gutschreiben und Gutlesen zu kümmern — beide Tugenden wachsen miteinander und nehmen miteinander ab — , der zeigt in der Tat den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehrnationalwerden können: er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister.

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Die Lehre vom besten Stile.  — Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für diewünschenswertesteStimmung eines Menschen zu finden, deren Mitteilung und Übertragung also auch am meisten zu wünschen ist: für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Dies wird die Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.

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Auf den Gang acht geben.  — Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft diktierte, wenn er müde war.

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Schon und noch.  —

A: Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, daß Wieland ihr Vater sei.

B: So jung und schon so häßlich!

C: Aber — soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfilas deutsche Prosa; sie ist also gegen 1500 Jahre alt.

B: So alt und noch so häßlich!

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Original-deutsch.  — Die deutsche Prosa, welche in der Tat nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugnis des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen, originalen, deutschen Kultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. — Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus:»Aber, um des Himmels willen, vielleichthabenwir schon diese originale Kultur — man spricht nur nicht gerne davon!»

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Verbotene Bücher.  — Nie etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie haben: sie wenden dielogischenFormen gerade dort an, wo alles im Grunde frech improvisiert und in die Luft gebaut ist. (»Also «soll bei ihnen heißen» du Esel von Leser, für dich gib es dies `also' nicht — wohl aber für mich«— worauf die Antwort lautet:»du Esel von Schreiber, wozu schreibst du denn?«)

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Geist zeigen.

 — Jeder, der seinen Geistzeigenwill, läßt merken, daß er auch reichlich vom Gegenteil hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.

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Deutsche und französische Literatur.  — Das Unglück der deutschen und französischen Literatur der letzten hundert Jahre liegt darin, daß die Deutschen zu zeitigausder Schule der Franzosen gelaufen sind — und die Franzosen, späterhin, zu zeitig in die Schule der Deutschen.

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Unsere Prosa.  — Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen: esgibtkeine deutsche Prosa — so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, daßder Deutsche nur die improvisierte Prosa kenntund von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener sagt, daß Prosa gerade um so viel schwerer sei als Poesie, um wie viel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen — das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreif-Dichtung einen besonders hohen Wert zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? — es ist ihm, also ob man ihm etwas aus dem Fabelland vorerzählte.

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Der große Stil.  — Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt.

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Ausweichen.  — Man weiß nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches Wort jeder mittelmäßige Schriftsteller beim Ausdrücken derselben Sache unvermeidlich geraten sein würde. Alle großen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt — doch nicht zum Umfallen.

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Etwas wie Brot.  — Brot neutralisiert den Geschmack anderer Speisen, wischt ihn weg; deshalb gehört es zu jeder längeren Mahlzeit. In allen Kunstwerken muß es etwas wie Brot geben, damit es verschiedene Wirkungen in ihnen geben könne: welche, unmittelbar und ohne ein solches zeitweiliges Ausruhen und Pausieren aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen würden, so daß einelängereMahlzeit der Kunst unmöglich wäre.

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Jean Paul.  — Jean Paul wußte sehr viel, aber hatte keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe in den Künsten, aber hatte keine Kunst, fand beinahe nichts ungenießbar, aber hatte keinen Geschmack, besaß Gefühl und Ernst, goß aber, wenn er davon zu kosten gab, eine widerliche Tränenbrühe darüber, ja er hatte Witz, — aber leider für seinen Heißhunger danach viel zu wenig: weshalb er den Leser gerade durch seine Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. Im ganzen war er das bunte, starkriechende Unkraut, welches über Nacht auf den zarten Fruchtfeldern Schillers und Goethes aufschoß; er war ein bequemer, guter Mensch, und doch ein Verhängnis, — ein Verhängnis im Schlafrock.

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Auch den Gegensatz zu schmecken wissen.  — Um ein Werk der Vergangenheit so zu genießen, wie es seine Zeitgenossen empfanden, muß man den damals herrschenden Geschmack, gegen den es sichabhob,auf der Zunge haben.

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Weingeist-Autoren.  — Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen geraten und geben dann Wärme.

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Der Mittler-Sinn.  — Der Sinn des Geschmacks, als der wahre Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu seinen Ansichten der Dinge überredet und ihnenseineGesetze und Gewohnheiten eingegeben. Man kann bei Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste Aufschlüsse erhalten: man beachte, was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt.

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Lessing.  — Lessing hat eine echt französische Tugend und ist überhaupt als Schriftsteller bei den Franzosen am fleißigsten in die Schule gegangen: er versteht seine Dinge im Schauladen gut zu ordnen und aufzustellen. Ohne diese wirklicheKunstwürden seine Gedanken sowie deren Gegenstände ziemlich im Dunkel geblieben sein, und ohne daß die allgemeine Einbuße groß wäre. An seinerKunsthaben aber viele gelernt (namentlich die letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige sich erfreut. Freilich hätten jene Lernenden nicht nötig gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch seine unangenehme Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei und Biederkeit, abzulernen. — Über den» Lyriker «Lessing ist man jetzt einmütig: über den Dramatiker wird man es werden.

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Unerwünschte Leser.  — Wie quälen den Autor jene braven Leser mit den dicklichten, ungeschickten Seelen, welche immer, wenn sie woran anstoßen, auch umfallen und sich jedesmal dabei wehe tun!

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Dichter-Gedanken.  — Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher wie die Ägypterinnen: nur das tiefeAugedes Gedankens blickt frei über den Schleier hinweg. — Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht so viel wert, als sie gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit.

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Schreibt einfach und nützlich.  — Übergänge, Ausführungen, Farbenspiele des Affekts, — alles das schenken wir dem Autor, weil wir dies mitbringen und seinem Buche zugute kommen lassen, falls er selber uns etwas zugute tut.

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Wieland.  — Wieland hat besser als irgend jemand deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches Genügen und Ungenügen gehabt (seine Übersetzungen der Briefe Ciceros und des Lucian sind die besten deutschen Übersetzungen); aber seine Gedanken geben uns nichts mehr zu denken. Wir vertragen seine heiteren Moralitäten ebensowenig wie seine heiteren Immoralitäten: beide gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen ihre Freude hatten, waren doch wohl im Grunde bessere Menschen als wir, — aber auch um ein gut Teil schwerfälligere, denen ein solcher Schriftsteller ebennottat. —Goethetat den Deutschen nicht not, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die Besten unserer Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt — nicht haben können.

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Seltene Feste.

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