Ein Kampf mit Hélène war sinnlos, weil sie sich schon entschieden hatte, weil er schon entschieden war. Ich konnte sie nicht zwingen, ihren Vater zu verraten. Woran sollte ich denn bei ihr appellieren? An die Ideale? An welche? An die Wahrheit? Die hatte sie verschwiegen. An die Liebe? Sie hatte mich verraten. An die Gerechtigkeit? Dann würde sie mich fragen: Für wen? Für eine lokale Geistesgröße? Asche ist zufrieden. Für einen windelweichen, verlogenen Schürzenjäger? Der ist auch kremiert. Für mich? Nicht der Mühe wert. Die Gerechtigkeit ist keine Privatsache. Und dann würde sie mich fragen: Wozu Gerechtigkeit? Für unsere Gesellschaft? Nur ein Skandal mehr, nur Redestoff, übermorgen längst eine andere Tagesordnung. Resultat der Denkübung: Der Nutzwert der Gerechtigkeit wog für Hélène ihren Papa nicht auf. Für einen Juristen eine lähmende Erleuchtung. Sollte ich noch den Lieben Gott ins Spiel bringen? Ein sicher sehr freundlicher, doch ziemlich unbekannter Herr mit ungesicherter Existenz. Und dann: Was hat der Mann alles zu tun! (Durchmesser des Universums nach de Sitter — veraltet, viel zu bescheiden gerechnet — in Zentimetern: eine Eins mit achtundzwanzig Nullen.) Aber es galt durchzuhalten, sich aufzurappeln, die Philosophie hinunterzuwürgen, den Kampf gegen die Gesellschaft, gegen Kohler, gegen Stüssi-Leupin weiterzuführen und den gegen Hélène aufzunehmen. Denken ist ein nihilistischer Zug, stellt die Werte in Frage, und so wandte ich mich denn wieder rüstig dem tätigen Leben zu, wanderte erfrischt nach der Innenstadt zurück, See, Schwäne und Segelschiffe nun zur Linken, an Liebespaaren und Rentnern vorbei, aufs angenehmste durch einen Sonnenuntergang kosmisch beleuchtet, trank dann den ganzen Abend durch Klävner (den ich gar nicht vertrage), und als ich gegen ein Uhr mit einer zwar berüchtigten, dafür aber kühngewachsenen Dame in ihrem Appartementhaus verschwand, stand dort im Eingang Stuber von der Sittenpolizei, notierte Adressen, verbeugte sich höflich, die Geste sollte wohl ironisch wirken, Kohlen aufs Haupt eines verlotterten Rechtsanwalts. Das war Pech. Möglich. (Dafür war die Dame anständig, ihr war's eine Ehre, sagte, ich könne das nächste Mal zahlen, was ich bezweifelte, ich beichtete ihr, auch das nächste Mal sei ich dazu kaum imstande, gestand meinen Beruf, worauf sie mich engagierte.)
Land und Leute: Einige Bemerkungen sind unumgänglich. Zu einem Mord gehören auch nähere und weitere Umgebung, die mittlere Jahrestemperatur, die durchschnittliche Häufigkeit von Erdbeben und menschliches Klima. Alles ist miteinander verflochten: Gegründet wurde das Unternehmen, welches sich bald unser Staat, bald unser Vaterland nennt, vor etwas mehr als zwanzig Generationen, grob gerechnet. Ort: Zuerst spielte sich alles der Hauptsache nach im Kalk, Granit und in der Molasse ab, später kam Tertiäres hinzu. Klima: leidlich. Zeit: Zuerst mittelmäßig, die habsburgische Hausmacht braute sich zusammen, viel Faustrecht, es galt sich durchzuprügeln, und man prügelte sich durch, knackte Ritter, Klöster und Burgen wie Panzerschränke, gewaltige Plünderungen, Beute, Gefangene wurden keine gemacht, vor den Schlachten Gebet und nach dem Gemetzel Orgien, enorme Saufereien, der Krieg rentierte, dann aber leider die Erfindung des Pulvers, die Großmachtpolitik stieß auf steigenden Widerstand, dem Dreschen mit Hellebarde und Morgenstern wurden Grenzen gesetzt, die Nahkämpfer wurden aus der Ferne zusammengetätscht, nach kaum acht Generationen schon der berühmte Rückzug, von da noch weitere sieben Generationen relative Wildheit, teils mordete man sich nun untereinander, unterjochte Bauern (mit der Freiheit nahm man es nie so genau) und schlug sich um die Religion, teils betrieb man Söldnerei im großen Stil, gab sein Blut für den Meistbietenden, beschützte die Fürsten vor den Bürgern, ganz Europa vor der Freiheit. Dann endlich gewitterte die Französische Revolution herauf, in Paris wurde die verhaßte Garde zusammengeschossen, tapfer stand sie auf verlorenem Posten, im Dienste eines verrotteten Systems von Gottes Gnaden, während einer ihrer aristokratischen Offiziere in einer Dachkammer und in Sicherheit dichtete: > Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt
Gegenwart (1957 n. Chr.): Große Teile der Bevölkerung leben beinahe sorglos dahin, gesichert und versichert, Kirche, Bildung und Spitäler stehen zu gemäßigten Preisen zur Verfügung, die Kremierung erfolgt im Notfall kostenlos. Das Leben gleitet auf festen Gleisen, aber die Vergangenheit rüttelt am Bau, erschüttert die Fundamente. Wer viel hat, fürchtet, viel zu verlieren.
Man sinkt nach bestandener Gefahr vom Pferd wie der Reiter nach seinem Ritt über den Bodensee: man ist zu zaghaft, die eigene Klugheit als notwendig zu begreifen, man hält es nicht mehr aus, zwar kein Held, aber vernünftig gewesen zu sein, man reiht sich in die Reihen der Sieger ein, die Sage der kriegerischen Väter kommt hoch, von den Mythen her droht Kurzschlußgefahr, man träumt von den alturalten Schlachten, dichtet sich selbst zu Widerstandskämpfern um, und schon sind die Generalstäbler dabei, eine Nibelungenwelt zu beschwören, von Atomwaffen zu träumen, vom heldenhaften Vernichtungskampf im Falle eines Angriffs, das Ende der Armee soll auch der Nation das Ende bereiten, gründlich, stur und endgültig, während ringsherum schon längst unterjochte Völker mit Mut und List davonzukommen wissen. Doch bahnt sich das mögliche Ende noch anders an, witziger. Ausländer kaufen den Boden auf, den man verteidigen will, die Wirtschaft wird von fremden Händen in Schwung gehalten und von den eigenen nur noch verwaltet, kaum noch gesteuert, der Staatsbürger bildet eine Oberschicht, unter der sich, in oft zu unverschämten Preisen vermieteten Wohnungen zusammengepfercht, sparsam und emsig Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen und Türken einnisten, zum Teil verachtet, oft noch Analphabeten, Heloten, ja für viele ihrer Herren Untermenschen, die einmal, zum bewußten Proletariat geworden, überlegen in ihrer genügsamen Vitalität ihre Rechte fordern könnten, in der Erkenntnis, daß der Betrieb, der sich unser Staat nennt, halb schon aufgekauft von fremdem Kapital, nur noch von ihnen abhängt. Unser kleines Land, so ahnt man und reibt sich verblüfft die Augen, ist in Wirklichkeit von der Geschichte abgetreten, als es ins große Geschäft eintrat.
Die Reaktion der Öffentlichkeit: Vor diesem Hintergrund hob sich der Mord des Dr.h.c. ab. Seine Wirkung war zu berechnen: da wir die Politik entpolitisiert haben — hier weisen wir in die Zukunft, nur hier sind wir modern, wirklich bahnbrecherisch, die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern —, da von der Politik nichts mehr zu erwarten ist, keine Wunder, kein neues Leben, nur nach und nach vielleicht noch etwas bessere Straßen, da sich das Land selbst biologisch erfreulich benimmt und sich im Kinderzeugen zurückhält, (daß wir nicht zahlreich sind, ist unser großer, daß sich unsere Rasse dank der Fremdarbeiter langsam verbessert, unser größter Vorzug), herrscht Dankbarkeit über jede Unterbrechung des täglichen Trotts, ist jede Abwechslung willkommen, um so mehr als der jährliche Festzug der Zünfte in seiner steifen Würde bei weitem nicht die fehlende Fastnacht zu ersetzen vermag. Die Handlungsweise des Dr.h.c. Isaak Kohler wirkte daher befreiend, man hatte inoffiziell über etwas zu lachen, worüber man sich offiziell entrüstete, und schon am Abend seines Hinschieds ging das Wort um, das man einem hohen Stadtbeamten, wenn nicht gar dem Stadtpräsidenten zuschrieb, Kohler habe sich einen neuen Dr.h.c. verdient, indem er Professor Winters nächste Erst-August-Rede verhindert habe. Auch ließ das unglückliche Vorgehen der Polizei kaum zusätzliche sittliche Empörung zu, die Schadenfreude war einfach zu groß: Das Verhältnis der Bevölkerung zur Polizei ist gespannt, entspricht doch unsere Stadt schon lange nicht mehr ihrem Ruf. Unvermutet eine Großstadt geworden, will sie das Trauliche, Bürgerfleißige, Tugendliche bewahren, das sie sich immer zuschrieb und zuschreibt, will sie persönlich auch im Unpersönlichen bleiben, der Tradition verhaftet, auch wenn diese längst zum Teufel ging: Die Zeit ist mächtiger geworden als die Stadt mit all ihrem beflissenen Tun, sie macht mit ihr, was sie will. Und so sind wir denn weder die, die wir einmal waren, noch die, die wir nun sein müßten, leben im Kriege mit der Gegenwart, wollen nicht, was wir dennoch müssen, tun aus Trotz nie ganz, was nötig ist, sondern nur halb, bestenfalls, und auch das widerwillig. Der Ausdruck dieser Misere ist das Anwachsen der polizeilichen Funktionen: denn wer im Krieg mit der Gegenwart lebt, reglementiert. Unser Gemeinwesen ist weitgehend ein Polizeistaat geworden, der in alles hineinredet, in die Sittlichkeit und in den Verkehr (beide in chaotischem Zustand). Der Polizist stellt daher nicht so sehr ein Symbol des Schutzes dar als eines der Schikane. Schluß. Schwer alkoholisiert. Dazu ist eben die Appartementsdame in mein Büro gekommen (wieder die Mansarde in der Spiegelgasse), braucht juristischen Schutz. Werde ihr raten, sich einen Hund anzuschaffen. Den kann sie und sich selber nächtlich zweimal ausführen (Empfehlung des Tierschutzvereins, von Jämmerlin zähneknirschend akzeptiert).
Staatsanwalt Jämmerlin: er haßte den Kantonsrat. Dessen Nonchalance ging ihm auf die Nerven. Er konnte es Kohler nie verzeihen, daß dieser ihm, Jämmerlin, im Tonhallesaal die Hand geschüttelt hatte. Er haßte ihn so sehr, daß er sich mit sich selber entzweite. Die Spannung zwischen seinem Haß und seinem Gerechtigkeitssinn war ins Unerträgliche gewachsen. Er erwog, sich als befangen zu erklären, dann wieder hoffte er, der Kantonsrat würde ihn als Staatsanwalt ablehnen. In seiner Ratlosigkeit vertraute er sich dem Oberrichter Jegerlehner an. Der Oberrichter sondierte beim Untersuchungsrichter, dieser beim Kommandanten, der seufzend den Kantonsrat aus dem Bezirksgefängnis in sein Büro führen ließ, damit man es gemütlicher habe. Der Dr.h.c. war bester Laune. Der Cheval Blanc vortrefflich. Der Kommandant kam ihm wieder mit Stüssi-Leupin, sein Offizialverteidiger sei ein berüchtigter Versager. Kohler erwiderte, das spiele doch keine Rolle. Der Kommandant rückte endlich mit den Bedenken Jämmerlins heraus. Der Kantonsrat versicherte, er könne sich keinen ihm gewogeneren Ankläger denken, eine Antwort, die, als sie Jämmerlin mitgeteilt wurde, diesen zum wütenden Ausruf verleitete, jetzt werde er es dem Kantonsrat zeigen und diesen lebenslänglich versenken, worauf der Oberrichter den Staatsanwalt beinahe dispensierte, es aber bleibenließ, aus Furcht, diesen treffe dann vor Wut der Schlag, stand doch Jämmerlins Gesundheit nicht zum besten.
Der Prozeß: er fand vor dem Obergericht vor fünf Oberrichtern statt, früh für unsere Verhältnisse, in Windeseile sozusagen, ein Jahr nach dem Mord, wieder im März. Das Verbrechen war öffentlich geschehen, wer der Mörder war, mußte nicht bewiesen werden. Nur über das Motiv der Tat war nichts auszumachen. Es schien keines zu geben. Aus dem Kantonsrat war nichts herauszubringen. Man stand vor einem Rätsel. Auch der sorgfältigen Befragung des Angeklagten durch die zuständigen Richter gelang es nicht, den geringsten Anhaltspunkt ans Tageslicht zu fördern. Die Beziehungen zwischen Mörder und Ermordetem waren die denkbar korrektesten. Geschäftlich hatten sie nichts miteinander zu tun, Eifersucht war ausgeschlossen, nicht einmal Vermutungen waren in dieser Hinsicht möglich. Angesichts dieser seltsamen Tatsache gab es zwei Interpretationen: Entweder war Dr.h.c.