Onkel Vernon lie? einen tiefen Seufzer vernehmen, der seinen ausladenden, buschigen Schnurrbart erzittern lie?, und nahm den Loffel zur Hand.
Jemand lautete an der Tur. Onkel Vernon wuchtete sich hoch und ging hinaus in den Flur. Wahrend sich Tante Petunia am Teekessel zu schaffen machte, stibitzte Dudley blitzschnell Onkel Vernons restliche Grapefruit.
Harry horte Stimmen an der Haustur, ein Lachen und eine barsche Entgegnung Onkel Vernons. Dann fiel die Tur ins Schlo? und vom Flur kam das Gerausch zerrei?enden Papiers.
Tante Petunia stellte die Teekanne auf den Tisch und sah sich verdutzt nach Onkel Vernon um; sie mu?te nicht lange warten, denn kurz darauf erschien er mit zornrotem Gesicht.
»Du«, blaffte er Harry an.»Ins Wohnzimmer. Sofort.«
Verdutzt und ohne die geringste Ahnung, was zum Teufel er diesmal wieder verbrochen haben sollte, erhob sich Harry und folgte Onkel Vernon ins Zimmer nebenan. Onkel Vernon schlug die Tur hinter ihnen zu.
»So«, sagte er, marschierte hinuber zum Kamin, wandte sich um und fixierte Harry, als wolle er ihn auf der Stelle verhaften.»So.«
Harry hatte am liebsten»Na was denn«gesagt, doch er wollte Onkel Vernons Gemutsverfassung so fruh am Morgen lieber nicht auf die Probe stellen, da sie durch Mangel an Nahrung ohnehin stark belastet war. So versuchte er ein wenig verwirrt auszusehen.
»Das hier ist gerade angekommen«, sagte Onkel Vernon. Er fuchtelte mit einem Blatt purpurroten Schreibpapiers in Harrys Richtung.»Ein Brief. Betrifft dich.«
Harry war nun tatsachlich verdutzt. Wer sollte seinetwegen an Onkel Vernon schreiben? Wen kannte er, der Briefe mit der normalen Post schickte?
Onkel Vernon starrte Harry zornig an, dann hob er den Brief und begann laut vorzulesen.
Liebe Mr und Mrs Dursley,
wir wurden einander nie vorgestellt, doch ich bin sicher, Sie haben von Harry eine Menge uber meinen Sohn Ron gehort. Wie Harry Ihnen vielleicht gesagt hat, findet nachsten Montagabend das Finale der Quidditch-Weltmeisterschaft statt, und mein Mann Arthur hat es soeben geschafft, uber seine Beziehungen zur Abteilung fur Magische Spiele und Sportarten noch ein paar Karten zu besorgen.
Ich hoffe doch, da? Sie uns gestatten, Harry mit zum Spiel zu nehmen, denn ein solches Ereignis darf man sich keinesfalls entgehen lassen; England ist zum ersten Mal seit drei?ig Jahren wieder Gastgeberland und Karten sind kaum noch zu bekommen. Naturlich wurden wir uns freuen, wenn Harry fur die restlichen Sommerferien bei uns bleiben konnte. Wir werden ihn dann zum Zug begleiten, der ihn zuruck in die Schule bringt.
Am besten schickt Harry uns Ihre Antwort auf dem ublichen Wege, denn der Muggelbrieftrager hat bei uns noch nie etwas eingeworfen, und ich bin mir nicht mal sicher, ob er wei?, wo unser Haus ist.
In der Hoffnung, Harry bald zu sehen, und mit freundlichen Gru?en Molly Weasley
PS: Ich hoffe doch, wir haben genug Marken draufgeklebt.
Onkel Vernon verstummte, schob die Hand in die Brusttasche und zog noch etwas hervor.
»Sieh dir das an«, knurrte er.
Er hob den Umschlag hoch, in dem Mrs Weasleys Brief gekommen war. Harry mu?te sich einen Lachanfall verkneifen. Der Umschlag war uber und uber mit Briefmarken beklebt, mit Ausnahme eines kleinen Quadrats auf der Vorderseite, in das Mrs Weasley in Winzschrift die Adresse der Dursleys hineingekritzelt hatte.
»Na also, hat doch gereicht mit den Briefmarken«, sagte Harry, ganz so, als ob Mrs Weasleys Fehler jedem unterlaufen konnte. Onkel Vernons Augen blitzten.
»Der Brieftrager war sehr interessiert«, sagte er mit zusammengebissenen Zahnen.»Wollte unbedingt wissen, wo dieser Brief herkommt. Deshalb hat er auch gelautet. Hielt es offenbar fur komisch.«
Harry sagt nichts. Andere Menschen mochten nicht verstehen, warum Onkel Vernon einen solchen Aufstand wegen ein paar uberzahliger Briefmarken machte, doch Harry lebte nun lange genug bei den Dursleys, um zu wissen, wie gereizt sie auf alles reagierten, was auch nur ein wenig neben der Spur lag. Ihre schlimmste Befurchtung war, jemand konnte herausfinden, da? sie (wie entfernt auch immer) mit Leuten wie Mrs Weasley in Verbindung standen.
Onkel Vernen starrte Harry immer noch zornfunkelnd an, wahrend Harry versuchte eine arglose Miene aufzusetzen. Wenn er jetzt nichts Dummes tat oder sagte, dann stand ihm vielleicht die tollste Zeit seines Lebens bevor. Er wartete darauf, da? Onkel Vernon den Mund aufmachte, doch Onkel Vernon starrte ihn nur unverwandt an. Harry beschlo?, die Stille zu durchbrechen.
»Und – darf ich gehen?«, sagte er.
Ein fluchtiges Zucken huschte uber Onkel Vernons breites, purpurnes Gesicht. Der Schnurrbart straubte sich. Harry glaubte zu wissen, was hinter dem Schnurrbart vor sich ging: ein erbitterter Kampf zwischen zwei der starksten Antriebe Onkel Vernons. Wenn er Harry erlaubte zu gehen, wurde er ihn glucklich machen, und dagegen hatte Onkel Vernon sich seit dreizehn Jahren gewehrt. Wenn Harry jedoch fur den Rest der Ferien zu den Weasleys verschwand, war er ihn zwei Wochen fruher los, als er gehofft hatte, und Onkel Vernon konnte es nicht ausstehen, wenn Harry im Haus war. Offenbar um sich ein wenig Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, betrachtete er noch einmal Mrs Weasleys Brief.
»Wer ist diese Frau?«, fragte er und starrte voller Abscheu auf die Unterschrift.
»Du hast sie schon mal gesehen«, sagte Harry.»Sie ist die Mutter meines Freundes Ron, sie hat ihn zu Ferienbeginn vom Hog-, vom Schulzug abgeholt.«
Fast hatte er»Hogwarts-Express«gesagt und damit Onkel Vernon sicher zur Wei?glut gereizt. Im Haus der Dursleys wurde der Name von Harrys Schule niemals laut ausgesprochen.
Onkel Vernon verzog sein riesiges Gesicht zu einer Grimasse, als ob er versuchte sich an etwas sehr Unangenehmes zu erinnern.
»So ein plumper Typ von Frau?«, knurrte er schlie?lich.»Und 'ne Menge Kinder mit roten Haaren?«
Harry runzelte die Stirn. Es war schon ein starkes Stuck von Onkel Vernon, jemanden»plump«zu nennen, wo doch sein eigener Sohn Dudley es endlich geschafft hatte, womit er seit dem Alter von drei Jahren gedroht hatte, namlich breiter als lang zu werden.
Onkel Vernon uberflog abermals den Brief.»Quidditch«, murmelte er in seinen Schnurrbart.»Quidditch – was ist das fur ein Blodsinn?«Harry spurte zum zweiten Mal einen Anflug von Arger.»Das ist eine Sportart«, sagte er knapp.»Wird auf Besen-«»Schon gut, schon gut!«, rief Onkel Vernon. Harry sah mit einiger Befriedigung einen Anflug von Panik auf Onkel Vernons Gesicht. Offenbar wurden seine Nerven dem Klang des Wortes»Besenstiele«in seinem Wohnzimmer nicht standhalten. Er fluchtete sich wieder in den Brief. Harry sah, wie seine Lippen die Worte»Ihre Antwort auf dem ublichen Wege schicken«formten. Sein Blick verfinsterte sich.
»Was hei?t, ›auf dem ublichen Wege‹?«, fauchte er.»Ublich fur uns«, sagte Harry, und bevor sein Onkel ihn aufhalten konnte, fugte er hinzu:»Du wei?t ja, Eulenpost. Das ist so ublich unter Zauberern.«
Onkel Vernon sah so emport aus, als hatte Harry gerade ein abscheuliches Schimpfwort ausgesprochen. Zitternd vor Zorn warf er einen nervosen Blick durchs Fenster, als furchtete er, einer der Nachbarn hatte das Ohr an die Scheibe gedruckt.
»Wie oft mu? ich dir noch sagen, da? du diese Abartigkeit unter meinem Dach nicht erwahnen sollst?«, zischte er, das Gesicht von der Farbe einer reifen Pflaume.»Da stehst du, in den Kleidern, die Tante Petunia und ich in deine undankbaren Hande gelegt haben -«
»Erst nachdem Dudley sie abgetragen hatte«, sagte Harry kuhl, und tatsachlich trug er ein Sweatshirt, bei dem er die Armel funfmal zuruckschlagen mu?te, um uberhaupt seine Hande gebrauchen zu konnen, und das ihm bis uber die Knie seiner sackbauchigen Jeans schlotterte.
»So sprichst du nicht mit mir!«, sagte Onkel Vernon bebend vor Wut.
Doch diesmal gab Harry nicht klein bei. Vorbei war die Zeit, da er gezwungen wurde, jede einzelne der bescheuerten Vorschriften der Dursleys zu befolgen. Er hielt sich nicht an Dudleys Diat, und er wurde es nicht hinnehmen, da? Onkel Vernon ihm verbot, zur Quidditch-Weltmeisterschaft zu gehen, jedenfalls nicht, solange er sich wehren konnte.
Harry holte tief Luft, um sich zu beruhigen, dann sagte er:»Gut, ich darf nicht zur Weltmeisterschaft. Kann ich jetzt gehen? Ich mu? noch meinen Brief an Sirius fertig schreiben. Du wei?t ja – mein Pate.«
Er hatte es getan. Er hatte die magischen Worte ausgesprochen. Nun beobachtete er, wie das Purpurrot fleckweise aus Onkel Vernons Gesicht wich, so da? es aussah wie ein schlecht gemischtes Johannisbeereis.
»Du – du schreibst ihm, ja?«, sagte Onkel Vernon mit angestrengt ruhiger Stimme – doch Harry hatte bemerkt, wie sich die Pupillen seiner kleinen Augen in jaher Angst zusammenzogen.
»Jaah – sicher«, sagte Harry beilaufig.»Er hat schon lange nichts mehr von mir gehort, und, nun ja, wenn er ungeduldig wird, konnte er auf falsche Gedanken kommen.«
Er hielt inne, um die Wirkung seiner Worte zu genie?en. Fast konnte er die Radchen hinter Onkel Vernons dichtem, schwarzem, fein sauberlich gescheiteltem Haar arbeiten sehen. Wenn er Harry davon abhielt, Sirius zu schreiben, wurde Sirius denken, Harry wurde schlecht behandelt. Wenn er Harry verbot, zur Weltmeisterschaft zu gehen, wurde Harry Sirius davon berichten, und dann ware Sirius uberzeugt, da? Harry schlecht behandelt wurde. Onkel Vernon konnte nur eines tun. Als ware das gro?e Schnurrbartgesicht durchsichtig, sah Harry, wie die Schlu?folgerung in Onkel Vernons Schadel einrastete. Harry unterdruckte ein Grinsen und muhte sich, eine Unschuldsmiene aufzusetzen. Und dann -
»Na schon, von mir aus. Du kannst zu diesem blodsinnigen – zu diesem idiotischen – dieser komischen Weltmeisterschaft gehen. Aber du schreibst diesen – diesen Weasleys, sie sollen dich abholen. Ich hab keine Zeit, dich in der Gegend rumzufahren und irgendwo abzuladen. Und du kannst die restlichen Sommerferien bei denen bleiben. Und du kannst deinem – deinem Patenonkel… sag ihm… sag ihm, da? du gehen darfst.«
»Einverstanden«, sagte Harry strahlend.
Er wandte sich um und ging zur Wohnzimmertur, wahrend er gegen die Lust ankampfte, jauchzend in die Luft zu springen. Er durfte fort… zu den Weasleys, zur Quidditch-Welt-meisterschaft!
Drau?en im Flur prallte er fast mit Dudley zusammen, der hinter der Tur gelauert hatte, naturlich in der Hoffnung, belauschen zu konnen, wie Harry zur Schnecke gemacht wurde. Erschrocken sah er das breite Grinsen auf Harrys Gesicht.
»Das war ein tolles Fruhstuck, findest du nicht?«, sagte Harry.»Ich fuhl mich so richtig satt, du auch?«
Harry lachte uber die verdutzte Miene Dudleys, nahm drei Stufen auf einmal nach oben und sturzte in sein Zimmer.
Als Erstes fiel ihm auf, da? Hedwig zuruck war. Sie sa? in ihrem Kafig, starrte Harry mit ihren riesigen Bernsteinaugen an und klapperte mit dem Schnabel, wie sie es tat, wenn sie sich uber etwas argerte. Woruber, wurde ihm im nachsten Moment klar.
»Autsch!«
Etwas wie ein kleiner, grauer, gefiederter Tennisball knallte gegen Harrys Schlafe. Harry rieb sich wutend den Kopf und sah sich nach dem Missetater um. Eine winzige Eule, klein genug, um in eine hohle Hand zu passen, flatterte aufgeregt im Zimmer umher wie ein angezundeter Knallfrosch. Erst jetzt bemerkte Harry, da? sie ihm einen Brief vor die Fu?e geworfen hatte. Er buckte sich, erkannte Rons Handschrift und ri? den Umschlag auf. Drin war ein hastig bekritzelter Zettel.
Harry – DAD HAT DIE KARTEN – Irland gegen Bulgarien, Montagabend. Mum schreibt an die Muggel und fragt, ob du zu uns kommen darfst. Vielleicht haben sie den Brief schon, ich wei? nicht, wie schnell die Muggelpost ist. Dachte, ich schick das hier lieber mit Pig.
Harry stutzte bei dem Wort»Pig«und sah zu der kleinen Eule hoch, die um den Lampenschirm herumschwirrte. Er hatte noch nie etwas gesehen, das weniger Ahnlichkeit mit einem Schwein hatte. Vielleicht hatte er Rons Gekritzel nicht richtig gelesen. Er las weiter.
Wir holen dich ab, ob die Muggel wollen oder nicht, damit du die Weltmeisterschaft nicht versaumst, nur denken Mum und Dad, es sei besser, wenn wir so tun, als ob wir sie erst um Erlaubnis fragten. Wenn sie ja sagen, schick Pig sofort mit deiner Antwort zuruck und wir holen dich am Sonntagnachmittag um funf Uhr ab. Wenn sie nein sagen, schick Pig sofort zuruck und wir holen dich trotzdem am Sonntagnachmittag um funf ab. Hermine kommt heute zu uns. Percy hat angefangen zu arbeiten – in der Abteilung fur Internationale Magische Zusammenarbeit. Sag kein Wort uber andere Lander, solange du hier bist, wenn du dich nicht zu Tode langweilen willst.
Bis bald – Ron
»Beruhige dich!«, sagte Harry zu der kleinen Eule, die jetzt seinen Kopf umkreiste und wie verruckt zwitscherte. Vor Stolz, vermutete Harry, weil sie den Brief dem Richtigen uberbracht hatte.»Komm her, du mu?t jetzt meine Antwort zuruckbringen!«
Die Eule lie? sich flatternd auf Hedwigs Kafig nieder. Hedwig sah mit kuhlem Blick zu ihr auf, als wollte sie sagen: Komm mir ja nicht naher.
Harry nahm seine Adlerfeder und ein frisches Blatt Pergament zur Hand und schrieb:
Ron, alles in Ordnung, die Muggel sagen, ich darf gehen. Bis morgen um funf. Kann es kaum erwarten.
Harry
Er faltete das Blatt klitzeklein zusammen und band es muhsam an dem winzigen Bein der Eule fest, die voll Aufregung hin und her flatterte. Kaum war die Nachricht sicher befestigt, machte sich die Eule davon. Sie schwirrte aus dem Fenster und verschwand.
Harry wandte sich Hedwig zu.
»Fuhlst du dich fit fur eine lange Reise?«, fragte er.
Hedwig lie? ein vornehmes Troten horen.
»Konntest du das hier zu Sirius bringen?«, sagte er und hob seinen Brief hoch.
»Wart mal… ich mu? ihn nur kurz zu Ende schreiben.«
Er entfaltete das Pergament noch einmal und setzte hastig einen Nachsatz hinzu.
Falls du Verbindung mit mir aufnehmen willst, ich bin fur den Rest der Ferien bei meinem Freund Ron Weasley. Sein Dad hat uns Karten fur die Quidditch-Weltmeisterschaft besorgt!
Den fertigen Brief band er an Hedwigs Bein; sie hielt ungewohnlich still, als ware sie entschlossen ihm zu zeigen, wie eine echte Posteule sich benehmen sollte.
»Ich bin bei Ron, wenn du zuruckkommst, ja?«, erklarte ihr Harry.
Sie kniff zutraulich in seinen Finger, spannte dann mit einem leisen Rascheln ihre machtigen Flugel und schwebte durchs offene Fenster davon.
Harry sah ihr nach, bis sie verschwunden war, kroch dann unter sein Bett, ri? das lose Dielenbrett hoch und holte ein gro?es Stuck Geburtstagskuchen hervor. Auf dem Boden sitzend und essend geno? er in vollen Zugen das Glucksgefuhl, das ihn durchstromte. Er hatte Kuchen und Dudley hatte nichts als Grapefruit; es war ein strahlender Sommertag, morgen wurde er aus dem Ligusterweg verschwinden, seine Narbe fuhlte sich wieder vollig normal an und er wurde die Quidditch-Weltmeisterschaft sehen. In diesem Moment war es schwer, sich wegen irgend etwas Sorgen zu machen – und sei es Lord Voldemort.