Alexander Kent
Bruderkampf
«Gewi?, die Fruchte der Erde werde ich nicht ernten. Doch sammle ich dafur den Blumenflor der See.»
Admiral Boscawen 1756
I Die Phalarope
Das Jahr 1782 war erst drei Tage alt. Stetiger Nieselregen, von auffrischendem sudlichem Wind getrieben, fegte durch die engen Stra?en von Portsmouth Point und lie? die dicken Mauern der alten Festungsanlagen wie poliertes Metall glanzen. Eine dichte, bleifarbene Wolkendecke zog drohend uber die zusammengedrangten Gebaude, so da? das Licht, obwohl es erst gegen Mittag war, fahl und bedruckend wirkte.
Wirklich lebendig war nur die See. Der Meeresarm des Solent wurde von heftigen Boen aufgewuhlt; im Gegensatz zu dem stumpfen Grau der Hohenzuge der Insel Wight und des regenverschleierten Kanals zeigten die Wellenkamme in dem entstellenden Licht eine sonderbar gelbe Tonung.
Kapitan Richard Bolitho stie? die Tur des
In einem anderen Zimmer sa?en Offiziere schweigend um mehrere kleine Tische und studierten ihre Spielkarten und die Gesichter ihrer Gegner. Nur wenige sahen auf, als Bolitho eintrat. Nach all den Jahren des Krieges und der Unruhe hatte in Portsmouth hochstens ein Mann in Zivil Aufmerksamkeit erregt.
Bolitho seufzte und betrachtete sich fluchtig im Wandspiegel. Er war gro?, und der blaue Rock mit den Goldtressen kleidete ihn gut. Das wei?e Hemd und die wei?e Weste unterstrichen die ungewohnliche Braune seines Gesichtes. Obwohl die Ruckreise von Westindien lange gedauert hatte, war sein Korper noch immer nicht auf den englischen Winter eingestellt. Deshalb blieb er noch ein wenig langer stehen, um sich aufzuwarmen.
Ein Diener hustelte hoflich neben ihm.»Verzeihung, Sir, aber der Admiral erwartet Sie in seinem Zimmer. «Mit kaum angedeuteter Geste wies er auf die Treppe.
«Danke. «Bolitho warf einen letzten Blick in den Spiegel.
Doch der Blick verriet weder Eitelkeit noch personliches Interesse. Eher lag etwas von der kalten Prufung darin, mit der Bolitho einen Untergebenen gemustert hatte.
Bolitho war sechsundzwanzig Jahre alt, aber seine unbewegten Zuge und die tiefen Falten im Gesicht lie?en ihn alter erscheinen. Fast heftig schob er das schwarze Haar aus der Stirn.
Knapp einen Zoll uber dem Auge begann eine ha?liche Narbe, die sich bis tief in den Haaransatz hinaufzog. Er beruhrte sie kurz wie jemand, der lange Zuruckliegendes durchdenkt. Danach stieg er schnell die Treppe hinauf.
Vizeadmiral Sir Henry Langford stand, die Fu?e leicht gespreizt, dicht vor dem hochsten Holzfeuer, das Bolitho je gesehen hatte. Seine betre?te Uniform glitzerte im Schein der tanzenden Flammen, und sein machtiger Schatten fiel quer durch das geraumige Zimmer.
Die beiden Manner betrachteten sich einige Sekunden: der Admiral, ein Mann in den Sechzigern, dessen schweres Gesicht von einer gro?en, hakenformigen Nase beherrscht wurde, uber der die scharfen blauen Augen wie geschliffene Steine blitzten, und der schlanke, gebraunte Kapitan.
Dann trat der Admiral vom Kamin weg und streckte die Hand aus.»Ich freue mich, Sie zu sehen, Bolitho!«Die drohnende Stimme fullte den Raum, fegte die Jahre beiseite und ersetzte das Bild des beleibten alten Admirals durch die Erscheinung des Mannes, der Bolithos erster Kapitan gewesen war.
Als konne er Bolithos Gedanken lesen, setzte der Admiral wehmutig hinzu:»Vierzehn Jahre, wie? Mein Gott, scheint kaum moglich!«Er trat zuruck und musterte Bolitho kritisch.»Sie waren ein magerer Kadett, zwolf Jahre alt, wenn ich mich recht erinnere. Kaum ein Pfund Fleisch auf den Knochen. Ich nahm Sie nur Ihres Vaters wegen an Bord. «Er lachelte.»Sie sehen noch immer so aus, als konnte Ihnen eine gute Mahlzeit nicht schaden.»
Bolitho wartete geduldig. Das eine hatten ihn seine vierzehn Dienstjahre zumindest gelehrt: altere Vorgesetzte hatten ihre eigene Art, zur Sache zu kommen. Und gewohnlich dauerte es eine Weile.
Der Admiral ging schwerfallig zum Tisch und schenkte zwei gro?e Glaser Branntwein ein.»Seit fast die ganze Welt gegen uns steht, ist Branntwein so etwas wie Luxus geworden. «Er zuckte mit den Schultern.»Da mir Rheumatismus jedoch mehr zusetzt als Gicht, betrachte ich ihn als letzte Annehmlichkeit, die mir geblieben ist.»
Bolitho trank vorsichtig, wobei er seinen Vorgesetzten uber den Rand des Glases hinweg studierte. Er war erst vor drei Tagen, gerade zum Jahreswechsel, aus Westindien zuruckgekehrt. Sein Schiff, seine geliebte
war zur Uberholung auf die Werft gekommen, wahrend ihre weniger gluckliche Besatzung uber die ewig hungrige Flotte verteilt worden war, um die klaffenden Lucken aufzufullen, die Tod oder Verstummelung gerissen hatten. Die meisten Leute der Korvette waren seit sechs Jahren nicht mehr in der Heimat gewesen. Sie hatten gehofft, mit ihrem kleinen, aber wohlverdienten Prisengeld ihre Angehorigen besuchen zu konnen. Es war nicht dazu gekommen, aber Bolitho wu?te, da? alle Mitleidsgefuhle nutzlos waren.
Die blassen Augen hefteten sich plotzlich auf Bolithos Gesicht.»Ich gebe Ihnen die
Bolitho. «Der Admiral beobachtete, wie es in dem Gesicht des jungen Kapitans arbeitete.»Sie liegt drau?en vor Spithead, bereit zum Auslaufen. Eine schonere Fregatte hat es nie gegeben.»
Bolitho stellte das Glas langsam auf den Tisch, um Zeit zu gewinnen. Die
war eine mit zweiunddrei?ig Kanonen bestuckte Fregatte und noch keine sechs Jahre alt. Er hatte sie durch sein Fernglas gesehen, als er Spit Sand vor drei Tagen rundete. Sie war tatsachlich ein schones Schiff und alles, was er nur erhoffen konnte. Nein, mehr, als er je zu traumen gewagt hatte.
Ruhig sagte er:»Sie erweisen mir eine gro?e Ehre, Sir.»
«Unsinn, Sie haben es mehr als verdient. «Der Admiral schien sonderbar erleichtert und sprach, als hatte er seine kleine Rede vorher geprobt.»Ich habe Ihre Laufbahn verfolgt, Bolitho. Sie machen der Marine und dem Lande alle Ehre.»
«Ich hatte einen ausgezeichneten Lehrer, Sir.»
Der Admiral nickte.»Ja, das waren gro?e Tage, wie? Gro?e Tage. «Er schuttelte sich und go? sich noch einen Branntwein ein.»Die gute Nachricht haben Sie gehort. Nun folgt der andere Teil. «Er sah Bolitho nachdenklich an.»Die
hat bisher in der Kanalflotte Dienst getan, meist als Blockadeschiff vor Brest.»
Bolitho spitzte die Ohren. Blockadedienst, das war nichts Neues. Bei dem Bemuhen, franzosische Schiffe am Auslaufen aus den Kanalhafen zu hindern, wurden die Fregatten gebraucht wie das liebe Brot. Fregatten waren Madchen fur alles. Sie besa?en genugend Feuerkraft, um es im offenen Kampf mit jedem Schiff aufzunehmen, au?er mit Linienschiffen. Und sie waren schnell genug, ein Linienschiff auszumanovrieren. Daher waren sie standig gefragt. Was die Aufmerksamkeit Bolithos sogleich erregte, war die Betonung, die der Admiral auf» bisher «legte. Also lagen neue Befehle vor. Vielleicht sollte das Schiff nach Suden, um die belagerte Festung Gibraltar zu entlasten.
Der Admiral fuhr rauh fort:»Die meisten Schiffe verfaulen von au?en. Wind und See sind grausame Herren, sie spielen selbst dem besten Holz ubel mit. «Sein Blick haftete an den Fenstern, gegen die der Regen schlug.»Aber die
verfaulte von innen!«Er ging zornerfullt hin und her, sein Schatten glitt wie ein Gespenst durch den Raum.»Vor einem Monat kam es beinahe zu einer Meuterei. Und als das Geschwader mit einigen Blockadebrechern im Gefecht stand, griff die
nicht ein.»
Bolitho bi? sich auf die Lippen. Meuterei drohte stets. Die Besatzung bestand zumeist aus Mannern, die man an Land aufgegriffen und zum Dienst gepre?t hatte. Ein paar Unruhestifter konnten ein gut gedrilltes Schiff in eine Holle verwandeln. Aber im Verband mit anderen Schiffen geschah das selten. Gewohnlich brach diese Raserei auf einem Schiff aus, das fur sich allein unter unbarmherziger tropischer Sonne in einer Flaute lag.
Sir Henry Langford fugte scharf hinzu:»Selbstverstandlich habe ich den Kapitan seines Kommandos enthoben.»
Bolitho empfand eine sonderbare Zuneigung zu dem muden, gereizten alten Mann, dessen Flaggschiff, ein machtiger Dreidecker, im Hafen Vorrate ubernahm und sich vorbereitete, den Admiral wieder zu seinem Geschwader vor der feindlichen Kuste Frankreichs zu bringen.»Selbstverstandlich«, hatte der Admiral gesagt. Doch Bolitho wu?te, da? viele Admirale ihre Kapitane gedeckt hatten, auch wenn sie wu?ten, da? sie schuldig oder unfahig waren.
Der Admiral lachelte ein wenig.»Ich furchte, die Ehre, die
zu ubernehmen, hat zwei Seiten. Ein Unglucksschiff ist nie leicht zu fuhren, vor allem nicht in Kriegszeiten. «Er deutete auf einen versiegelten Umschlag, der auf dem Tisch lag. Die Siegel glanzten im Licht des Kaminfeuers wie frisches Blut.»Ihre Befehle. Sie enthalten die Order, das Schiff sofort zu ubernehmen und in See zu gehen. «Der Admiral wog seine Worte sorgfaltig ab.»Sie werden zu Sir Samuel Hoods Geschwader sto?en und sich ihm zur Verfugung stellen.»
Bolitho war wie betaubt. Hood stand in Westindien, von wo er selber eben zuruckgekehrt war. Im Geiste sah er die abertausend Meilen leerer See vor sich — und sich als Kommandanten eines fremden Schiffes, mit einer Mannschaft, unter der es vor Unzufriedenheit nur so brodelte.
«Wie Sie sehen, Bolitho, bin ich noch immer ein harter Lehrmeister. «Der Admiral schauderte, als ein Windsto? das Fenster traf.»Ich furchte, Sie haben fast hundert Mann zuwenig an Bord. Ich mu?te viele Unruhestifter vom Schiff entfernen, und Ersatz ist schwer aufzutreiben. Einige werde ich hangen lassen mussen, sobald ein Kriegsgericht einberufen werden kann. Sie haben also kaum genug Manner, das Schiff zu segeln, von kampfen ganz zu schweigen. «Er rieb sich das Kinn, seine Augen funkelten.»Ich schlage vor, Sie laufen unverzuglich aus, und zwar erst zur Westkuste. Nach meiner Information liegen die meisten Fischereiflotten im Augenblick in den Hafen von Devon und Cornwall. Das Wetter scheint nicht nach ihrem Geschmack zu sein. «Er lachelte jetzt starker.»Nichts sprache dagegen, da? Sie Ihrer Heimat Falmouth einen Besuch abstatten, Bolitho. Wahrend Ihre Offiziere einige dieser Fischer fur den Konig zwangsausheben, finden Sie womoglich Zeit, Ihren Vater aufzusuchen. Sie werden ihm hoffentlich meine besten Gru?e ausrichten.»
Bolitho nickte.»Danke, Sir. Das werde ich gern tun.»
Er wunschte sich plotzlich fort aus diesem Zimmer. Es gab so viel zu tun. Fur die lange Reise mu?ten die Magazine und die Takelage uberpruft werden, es galt, sich um Proviant und Vorrate zu kummern.
Der Admiral nahm den Segeltuchumschlag und wog ihn in den Handen.»Ich will Ihnen keinen Rat geben, Bolitho. Sie sind jung, aber erprobt und mehr als das. Erinnern Sie sich nur an eins. Es gibt schlechte Leute auf Ihrem Schiff und gute. Seien Sie fest, aber nicht zu hart. Betrachten Sie Mangel an Erfahrung nicht als Insubordination, wie Ihr Vorganger das tat. «Sein Ton wurde scharf.»Wenn es Ihnen schwerfallt, sich daran zu erinnern, dann versuchen Sie daran zu denken, wie Sie als Midshipman[1] auf mein Schiff kamen. «Er lachelte nicht mehr.»Sie konnen der
wieder den ihr gebuhrenden Platz zuruckerobern, indem Sie ihr den Stolz zuruckgeben. Wenn Sie es nicht schaffen, kann nicht einmal ich Ihnen helfen.»
«Das wurde ich auch nicht erwarten, Sir. «Bolithos Augen waren jetzt so kalt und grau wie die See jenseits des Hafens.
«Ich wei?. Darum habe ich das Kommando auch fur Sie freigehalten. «Vor der Tur horte man Stimmengemurmel, und Bolitho wu?te, da? die Unterredung kurz vor ihrem Abschlu? stand. Doch der Admiral schickte noch etwas nach.»Ein Neffe von mir fahrt auf der
sagte er.»Einer Ihrer jungen Midshipmen. Sein Name ist Charles Farquhar, und er konnte ein guter Offizier werden. Aber begunstigen Sie ihn nicht um meinetwegen, Bolitho. «Er seufzte und reichte dem Kapitan den Umschlag.»Das Schiff ist segelfertig, also nutzen Sie den gunstigen Sudwind. «Er druckte Bolitho die Hand.
Bolitho hob den Degen an und klemmte den Dreispitz wieder unter den Arm.»Dann mochte ich mich verabschieden, Sir. «Es gab nichts weiter zu sagen.
Fast ohne etwas wahrzunehmen, ging er hinaus und an der kleinen Gruppe flusternder Offiziere vorbei, die darauf warteten, vom Admiral empfangen zu werden.
Ein Offizier stand etwas abseits, ein Kapitan etwa seines eigenen Alters. Das war aber auch die einzige Ahnlichkeit. Er hatte blasse, vorstehende Augen und einen kleinen, verkniffenen Mund. Er befingerte seinen Degen und starrte auf die Tur. Bolitho vermutete in ihm den bisherigen Kommandanten der
Doch der Mann schien weniger besorgt als gereizt. Wahrscheinlich verfugt er uber Einflu? am Hof oder im Parlament, dachte Bolitho grimmig. Aber selbst das wurde nicht ausreichen, um Sir Henry mit Erfolg entgegenzutreten.
Vor dem Gasthaus umheulte ihn der Wind, als er langsam zum Sally Port hinunterging, doch er merkte es nicht.
Im Hafen sah er, da? die kurzen, zischenden Wellen die Hochwassergirlande aus Schlamm und Algen schon beinahe bedeckten. Das sagte ihm, da? das Hochwasser bald erreicht sein wurde. Mit etwas Gluck wurde er sein neues Schiff noch mit ablaufendem Wasser aus dem Hafen bekommen.
Als er aus dem Windschatten der letzten Gebaudereihe trat, bemerkte er ein Boot. Es wartete darauf, ihn zum Schiff hinuberzubringen. Das kleine Fahrzeug dumpelte heftig in der Dunung, und die zum Salut erhobenen Riemen schwankten wie eine Zwillingsreihe nackter Baume. Er vermutete, da? jeder Mann im Boot sein langsames Naherkommen beobachtete. An der Spitze der steinernen Mole zeichnete sich der vertraute, massige Umri? Stockdales, seines personlichen Bootsfuhrers, gegen die Wellen ab.
haben, uberlegte Bolitho grimmig.
Stockdale war ihm von einem Schiff zum anderen gefolgt, fast wie ein treu ergebener Hund. Bolitho fragte sich oft, was sie zusammenhielt; es war eine Bindung, die sich mit Worten nicht erklaren lie?.
Als frischgebackener Leutnant zur See war Bolitho einst mit einem Pre?kommando an Land geschickt worden, damals wahrend des unruhigen Friedens, als er sich fur einen Gluckspilz hielt, weil ihm das Ungemach so vieler erspart geblieben war, bei halbem Sold an Land gesetzt zu sein. Er hatte nur wenige Leute auftreiben konnen, doch als er gerade zum Schiff zuruckkehren wollte, um sich dem Zorn seines Kapitans zu stellen, war ihm Stockdale aufgefallen, der nackt bis zur Hufte elend vor einer Kneipe stand. Sein robuster, vor Muskeln und Kraft strotzender Oberkorper beeindruckte Bolitho. Neben dem Mann verkundete ein Ausrufer lauthals, da? Stockdale ein beruhmter Faustkampfer sei. Jeder aus Bolithos Truppe, der ihn werfen wurde, bekame eine goldene Guinea, Auszahlung sofort. Bolitho war mude. Der Gedanke an einen kuhlen Schluck, wahrend seine Leute ihr Gluck versuchten, besiegte seine inneren Einwande gegen dieses entwurdigende Spektakel.
Zufallig gehorte zu seiner Truppe ein Stuckmeister, der nicht nur ein sehr geubter Faustkampfer war, sondern ein Mann, der sich daran gewohnt hatte, mit den Fausten oder auf jede ihm sonst geeignet erscheinende Art die Disziplin aufrechtzuerhalten. Der Stuckmeister zog seinen Rock aus und ging, von den anderen Seeleuten angefeuert, zum Angriff uber.