Neues vom Räuber Hotzenplotz - Otfried Preußler


Neues vom Räuber Hotzenplotz Otfried Preußler Illustrationen von F. J. Tripp





Dieses Buch widme ich meinen

NEFFEN

UND NICHTEN

und allen Kindern, die Freude an Kasperlgeschichten haben




Der Mann mit dem roten Kragen


Einmal stand Kasperls Großmutter um die Mittagszeit am Küchenherd und briet Bratwürste. Neben der Bratpfanne stand ein großer Topf Sauerkraut auf dem Herd. Das Sauerkraut dampfte, die Würste brutzelten und das ganze Haus war von einem unbeschreiblich herrlichen Duft erfüllt. Daran konnte jedermann merken, dass heute Donnerstag war; denn am Donnerstag gab es bei Kasperls Großmutter Bratwurst mit Sauerkraut, Bratwurst mit Sauerkraut, das war Kasperls und Seppels Leibspeise. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte die Woche aus sieben Donnerstagen bestehen müssen – oder, noch besser, aus vierzehn. Deshalb kamen sie donnerstags immer besonders pünktlich zum Mittagessen nach Hause.

Umso merkwürdiger fand es Großmutter, dass sie sich heute verspäteten.

„Wo sie bloß stecken?", dachte sie. „Jetzt ist es schon drei Minuten nach zwölf, es wird ihnen doch nichts zugestoßen sein?"

Großmutter rückte die Bratpfanne und den Sauerkrauttopf vom Feuer. Dann öffnete sie den Topfdeckel ein wenig, um das Kraut abdampfen zu lassen. Im nächsten Augenblick war sie in eine mächtige Sauerkrautdampfwolke eingehüllt. Davon beschlugen die Gläser ihres Zwickers so stark, dass sie nichts mehr sah.

„Das ist wirklich zu dumm!", rief sie. „Wenn man schon einen Zwicker tragen muss, sollte man wenigstens durchsehen können!"

Geschwind nahm sie den Zwicker von der Nase, um ihn am Schürzenzipfel abzuwischen – da hörte sie Schritte auf dem Gartenweg, schwere, eilige Schritte, die ganz gewiss nicht von Kasperl und Seppel stammten. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen und jemand kam in die Küche gepoltert.

„Na, na!", sagte Kasperls Großmutter. „Nicht so stürmisch, Herr Oberwachtmeister! Können Sie denn nicht anklopfen?"

Ohne Zwicker sah Großmutter alles nur ganz verschwommen. Aber so viel hatte sie doch gesehen, dass der Mann, der ihr da in die Küche gerumpelt war, einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen und rotem Kragen trug, dazu Helm und Säbel – und dass es sich folglich um den Herrn Polizeioberwachtmeister Alois Dimpfelmoser handeln musste, den einzigen Menschen im Städtchen, der einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen und rotem Kragen besaß.

„Das duftet ja ganz abscheulich gut hier!", sagte der Mann mit dem roten Kragen.

Die Stimme kam Großmutter zwar bekannt vor, doch es war nicht Herrn Dimpfelmosers Stimme. „Wer kann das bloß sein?", überlegte sie. Und vor lauter Überlegen vergaß sie vollkommen den Zwicker abzuwischen und wieder aufzusetzen.

Der Mann mit dem blauen Rock und den Silberknöpfen war unterdessen an den Küchenherd getreten und hatte die Bratpfanne mit den Würsten entdeckt.

„Bratwurst mit Sauerkraut!", sagte er hingerissen. „Vierzehn Tage lang Wasser und Brot – und jetzt Bratwurst mit Sauerkraut!"

Dann drehte er sich zu Großmutter um und drohte ihr mit dem Säbel.

„Los!", rief er. „Her mit den Bratwürsten und dem Sauerkraut, ich hab Hunger und bin in Eile!"

Kasperls Großmutter war empört.

„Erlauben Sie mal, Herr Oberwachtmeister – soll das vielleicht ein Spaß sein?"

Der Mann unterbrach sie in barschem Ton: „Machen Sie keine Geschichten, Großmutter – oder wissen Sie etwa nicht, wen Sie vor sich haben? Setzen Sie mal den Zwicker auf, aber ein bisschen rasch!"

„Ja doch, ja doch!" Großmutter wischte den Zwicker ab und setzte ihn auf. Im nächsten Augenblick wurde sie weiß im Gesicht wie ein frisch gewaschenes Bettlaken. „Ach du liebe Zeit – Sie sind das? Ich denke, Sie sitzen seit vierzehn Tagen im Spritzenhaus hinter Schloss und Riegel!"

„Dort hat es sich ausgesessen, Großmutter."

„Und wie kommen Sie an die Uniform und den Säbel? Wenn das der Herr Oberwachtmeister Dimpfelmoser erfährt!"

Der Mann mit dem Polizeihelm lachte und sagte:

„Das weiß der längst. Doch nun her mit den Bratwürsten und dem Sauerkraut oder Sie sollen mich kennen lernen, so wahr ich der Räuber Hotzenplotz bin!"

Kasperls Großmutter warf einen Blick auf die Küchenuhr, es war acht Minuten nach zwölf. Wo nur Kasperl und Seppel blieben? Sie nahm einen Teller aus dem Geschirrschrank und tat eine Bratwurst und einen Löffel Kraut darauf.

„Eine Bratwurst?" Der Räuber schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sie sind wohl nicht recht bei Trost? Ich will alle Bratwürste haben – und alles Kraut, das im Topf ist. Verstanden?"

Was blieb Großmutter übrig? Sie legte ihm alle Bratwürste auf den Teller und stellte den Sauerkrauttopf daneben.

„Na also!", rief Hotzenplotz und verlangte, dass Großmutter sich zu ihm an den Tisch setzte. „Damit Sie mir keine Dummheiten machen. Mahlzeit!"

Großmutter saß auf dem Stuhl und musste zusehen, wie Hotzenplotz über die Bratwürste herfiel. Es waren im Ganzen neun Stück, wie an jedem Donnerstag. Er vertilgte sie ratze-putz, dass es nur so schnurpste. Das Sauerkraut aß er gleich aus dem Topf. Dass er dabei das Tischtuch bekleckerte, war ihm einerlei.

„Oh, das hat gut geschmeckt!", grunzte er, als er das Kraut und die Würste verschlungen hatte. „Ganz verdammt gut geschmeckt hat mir das, Großmutter! Und jetzt geben Sie mal hübsch Acht. Auf der Küchenuhr ist es gerade Viertel nach zwölf. Sie werden nun zehn Minuten hier sitzen bleiben und still sein, mucksmäuschenstill. Nach zehn Minuten dürfen Sie meinetwegen um Hilfe rufen – aber nicht eine Minute früher. Haben Sie mich verstanden?"

Großmutter gab ihm keine Antwort.

„He, Sie!", rief der Räuber Hotzenplotz. „Haben Sie überhaupt zugehört? Warum sagen Sie nichts?"

Großmutter konnte nichts sagen.

Sie saß auf dem Stuhl und rührte sich nicht.

Genau in dem Augenblick, als Hotzenplotz den letzten Zipfel der letzten Bratwurst vertilgt hatte, war sie ohnmächtig geworden – teils aus Ärger und teils vor Schreck.




Laßt mich raus!


Kasperl und sein Freund Seppel waren am Stadtbach zum Angeln gewesen, hatten aber nichts gefangen, außer einem alten Schneebesen und einer leeren Essigflasche. Den Schneebesen hatten sie wieder ins Wasser geworfen, die Flasche nicht. „Denn", hatte Kasperl gesagt, „daraus können wir eine Flaschenpost machen, wenn wir mal eine brauchen sollten."

Wie jeden Donnerstag wären sie auch heute besonders pünktlich zu Tisch gekommen, wenn sie nicht unterwegs eine merkwürdige Geschichte erlebt hätten.

Als sie über den Marktplatz gingen, hörten sie aus dem Spritzenhaus dumpfes Geschrei.

„Nanu?", sagte Kasperl. „Hotzenplotz scheint einen schlechten Tag zu haben. Horch, wie er flucht und schimpft!"

„Der schimpft nicht", erwiderte Seppel, „der ruft um Hilfe. Vielleicht hat er Zahnschmerzen oder Bauchweh."

Seit der Geschichte mit Großmutters Kaffeemühle war Kasperl auf Hotzenplotz schlecht zu sprechen. „Hoffentlich hat er Bauchweh und Zahnschmerzen", meinte er, „und dazu noch an jeder Zehe zwei Hühneraugen!" Trotzdem lief er mit Seppel zum Spritzenhaus, um zu hören, was es da gäbe.

Das Spritzenhaus hatte ein einziges kleines Fenster, das selbstverständlich vergittert war. Wenn man sich unter das Fenster stellte, verstand man die dumpfe Stimme recht gut.

„Hilfe!", tönte es aus dem Spritzenhaus. „Hilfe, man hat mich hier eingesperrt! Aufmachen, lasst mich raus!"

Kasperl und Seppel lachten.

„Das könnte Ihnen so passen!", riefen sie. „Wir sind froh, dass Sie endlich drin sind, Herr Hotzenplotz!"

Vor vierzehn Tagen hatten sie mitgeholfen den Räuber einzufangen. Sie hatten dafür vom Herrn Bürgermeister eine Belohnung von fünfhundertfünfundfünfzig Mark fünfundfünfzig bekommen und der Herr Wachtmeister Dimpfelmoser war seither Oberwachtmeister.

„Rauslassen!", rief die Stimme. „Ich bin nicht der Räuber Hotzenplotz!"

„O ja!", unterbrach ihn Kasperl. „Wir wissen Bescheid, Sie sind Rotkäppchen mit den sieben Zwergen!"

„Nein, zum Kuckuck! Ich bin doch der Oberwachtmeister Dimpfelmoser!"

„Hören Sie endlich mit dem Geschrei auf, Sie Oberkrachmeister – gleich wird die Polizei kommen!"

„Unsinn! Die Polizei bin ich selbst! Erkennt ihr mich nicht an der Stimme? Lasst mich hier raus, ich bin eine Amtsperson!"

Kasperl und Seppel glaubten der dumpfen Stimme kein Wort. Für sie war die Angelegenheit sonnenklar. Hotzenplotz wollte sie hinters Licht führen, aber das sollte ihm nicht gelingen.

„Wenn Sie wirklich Herr Dimpfelmoser sind", sagte Kasperl, „dann kommen Sie doch ans Fenster, damit wir Sie sehen können!"

„Das geht nicht. Ich liege gefesselt am Boden. Wenn ihr mich nicht sofort hier rauslasst, macht ihr euch strafbar. Habt ihr verstanden? Ihr macht euch straaaf-baaar!"

Wie immer, so wussten sich Kasperl und Seppel auch jetzt zu helfen. Seppel stellte sich mit dem Rücken an die Wand des Spritzenhauses, dann stieg Kasperl ihm auf die Schultern und schaute zum Gitterfenster hinein.

„Also los!", rief er. „Zeigen Sie sich, wo stecken Sie?"

„Ich liege hier unten, hinter dem Feuerwehrauto. Kannst du mich sehen?"

„Nein", sagte Kasperl, „dann müsste das Auto aus Glas sein. Glauben Sie bloß nicht, dass jemand auf Ihre dummen Lügengeschichten hereinfällt!"

„Aber das sind keine Lügen! Das ist die reine, amtliche, polizeilich erwiesene Wahrheit! Ich bitte euch, glaubt mir und lasst mich hier raus! Was soll ich denn tun, damit ihr mir endlich Glauben schenkt?"

Kasperl und Seppel hätten ihm gern noch ein Weilchen zugehört. Es freute sie, dass sich der Räuber Hotzenplotz nun aufs Betteln verlegt hatte.

Doch da schlug es vom Rathausturm Viertel nach zwölf und plötzlich fiel ihnen ein, dass heut Donnerstag war.

„Winseln Sie ruhig weiter!", rief Kasperl zum Gitterfenster hinein. „Mein Freund Seppel und ich müssen leider nach Hause zum Mittagessen, Herr Oberschmachtmeister Plotzenhotz – oder glauben Sie, dass wir Ihretwegen die Bratwürste platzen lassen?"




Neuigkeiten


Zunächst hatten Kasperl und Seppel den Eindruck, als nähme es Großmutter ihnen gewaltig übel, dass sie so spät nach Hause gekommen waren. Sie saß regungslos hinter dem Küchentisch und strafte sie, wie es schien, mit Verachtung.

„Großmutter!", sagte Kasperl. „Bitte, sei wieder lieb – es war wirklich nicht unsere Schuld!"

Jetzt erst merkte er, was mit Großmutter los war.

„Ach du grüne Sieben! Ich glaube fast, sie ist wieder ohnmächtig!"

Seppel deutete auf die leere Bratpfanne und den Sauerkrauttopf.

„Vielleicht war sie böse, weil wir nicht pünktlich zum Essen gekommen sind", meinte er. „Da hat sie vor lauter Ärger alles allein verputzt und dann ist ihr schlecht geworden."

„Kann sein", sagte Kasperl. „Neun Bratwürste und ein ganzer Topf Sauerkraut sind ein bisschen viel für sie."

Gemeinsam schleppten sie Großmutter auf das Sofa. Sie betupften ihr Stirn und Schläfen mit Franzbranntwein, sie


hielten ihr eine frisch aufgeschnittene rohe Zwiebel unter die Nase. Davon musste Großmutter fürchterlich niesen; und nachdem sie sich ausgeniest hatte, richtete sie sich auf und blickte umher wie jemand, der seinen eigenen Namen vergessen hat. Dann fiel ihr Blick auf die leere Bratpfanne und den Sauerkrauttopf auf dem Küchentisch – und da kehrte mit einem Schlag ihr Gedächtnis zurück.

„Stellt euch vor, was geschehen ist!"

Hastig erzählte sie Kasperl und Seppel von ihrem Abenteuer mit Hotzenplotz.

„Ist es nicht haarsträubend?", rief sie. „Am hellen Mittag ist man in dieser Stadt seines Lebens und seiner Bratwürste nicht mehr sicher! Ich möchte bloß wissen, wozu es hier eine Polizei gibt!"

Großmutter ließ sich mit einem Seufzer aufs Sofa zurücksinken und es hatte den Anschein, als gedenke sie im nächsten Augenblick erneut in Ohnmacht zu fallen. Mit matter Stimme bat sie Kasperl und Seppel zum Oberwachtmeister Dimpfelmoser zu laufen und ihm den Vorfall zu melden.

„Wie ich ihn kenne", hauchte sie, „sitzt er um diese Zeit in der Wachstube hinterm Schreibtisch und hält sein Mittagsschläfchen."

„Heut kaum!", sagte Kasperl.

Und obgleich er einen grässlichen Hunger hatte (donnerstags aß er zum Frühstück immer nur halb, um zu Mittag den richtigen Bratwurst-und-Sauerkraut-Appetit zu haben) versetzte er seinem Freund Seppel eins in die Rippen und rief:

„Nichts wie zum Spritzenhaus!"

Ohne sich weiter um Großmutter zu kümmern, machten die Freunde kehrt und flitzten zur Tür hinaus.

„Aber, aber – was habt ihr denn?"

Großmutter blickte ihnen verwundert nach.

Es gelang ihr die aufkommende Ohnmacht zu überwinden. Sie tastete sich am Sofa entlang zum Tisch und vom Tisch zum Küchenschrank. Dort genehmigte sie sich zur Stärkung zwei Gläschen Melissengeist und nachdem sie sich dreimal kräftig geschüttelt hatte, rannte sie Kasperl und Seppel nach.

Ein Ausbund an Unverschämtheit

Zum Spritzenhaus gab es zwei Schlüssel. Den einen hatte Herr Oberwachtmeister Dimpfelmoser in Verwahrung, den andern der Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr, ein Herr Rübesamen, im Hauptberuf Inhaber einer kleinen Senffabrik.

Herr Rübesamen dachte sich weiter nichts dabei, als Kasperl und Seppel ihn um den Spritzenhausschlüssel baten: Herr Oberwachtmeister Dimpfelmoser habe sie hergeschickt, es sei dringend ...

„Aber natürlich, gern – und bestellt dem Herrn Oberwachtmeister einen schönen Gruß von mir!"

Sobald Kasperl und Seppel den Schlüssel hatten, rannten sie hast-du-was-kannst-du zum Spritzenhaus, wo sie von Großmutter schon erwartet wurden.

„Sagt mir um Himmels willen – was soll das alles?"

„Du wirst es gleich sehen, Großmutter!"

Kasperl steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte das Tor auf.

Der Herr Polizeioberwachtmeister Alois Dimpfelmoser lag im hintersten Winkel des Spritzenhauses, zwischen der Wand und dem Feuerwehrauto. Er war von unten bis oben in einen Feuerwehrschlauch eingewickelt. Am einen Ende der Rolle schauten die nackten Füße heraus, am anderen Ende der Hals und der Kopf. Der Kopf aber steckte in einem leeren Wassereimer: Deshalb hatte Herrn Dimpfelmosers Stimme so dumpf und fremd geklungen, dass Kasperl und Seppel sie nicht erkannt hatten.

„Kommt, helft mir!", rief Kasperl. „Wir müssen ihn wieder auswickeln!"

Sie packten das eine Ende des Feuerwehrschlauches und zogen daran.

Da begann sich der Herr Oberwachtmeister um die eigene Achse zu drehen wie eine Spindel – und je eifriger sie zogen, desto schneller drehte er sich.

„Sachte, sachte!", rief er. „Mir wird ganz schwindlig im Kopf, der Mensch ist kein Brummkreisel!"

Es dauerte eine Zeit lang, bis sie ihn fertig ausgewickelt hatten. Nun zeigte es sich, dass der arme Herr Dimpfelmoser nur noch mit Hemd und Unterhose bekleidet war. Alles Übrige hatte ihm Hotzenplotz ausgezogen und weggenommen, sogar die Strumpfsocken.

„Warum lasst ihr mich denn in diesem verdammten Eimer so lange stecken?"

Richtig, der Wassereimer! Den hatten sie ganz vergessen. Kasperl befreite Herrn Dimpfelmoser davon und Herr Dimpfelmoser holte ein paarmal tief Luft.

„Na endlich! Unter dem Ding bin ich halb erstickt!" Er rieb sich die Augen und blickte an sich hinunter. „Dieser Halunke! Er hat mir sogar die Hose geraubt! – Ich bitte Sie, Großmutter, gucken Sie weg!"

Großmutter nahm den Zwicker ab.

„Das ist besser als Weggucken", meinte sie. „Doch nun sagen Sie mal: Was, um alles in der Welt, ist hier eigentlich vorgefallen?"

Herr Dimpfelmoser hängte sich Kasperls Jacke um und setzte sich auf das Trittbrett des Feuerwehrautos.

„Hotzenplotz hat mich reingelegt", brummte er. „Kurz nach halb zwölf war es. Plötzlich – ich stehe wie immer um diese Zeit auf dem Marktplatz und sorge für Recht und Ordnung – ertönt aus dem Spritzenhaus lautes Wehgeschrei. ,Hilfe, Herr Oberwachtmeister, Hilfe! Ich hab eine Blinddarmverrenkung, ich muss zum Doktor! Kommen Sie, schnell, schnell, kommen Sie!' Ich renne natürlich sofort zum Spritzenhaus. ,Eine Blinddarmverrenkung', denke ich, ,darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen! Wie, wenn er daran eingeht?' Ich sperre das Tor auf und nichts wie hinein! Da bekomme ich unversehens, ich weiß nicht woher, einen Schlag auf den Kopf – und dann bin ich für eine Weile weg gewesen."

„Entsetzlich!", rief Großmutter. „Haarsträubend und entsetzlich! Ich sage ja, heutzutage muss man bei Räubern auf alles gefasst sein, selbst wenn sie sterbenskrank sind."

„Der war gar nicht sterbenskrank!", knurrte Herr Dimpfelmoser. „Er hat mir mit seiner Blinddarmverrenkung bloß etwas vorgeschwindelt, damit er mich auf den Kopf hauen konnte. Und wissen Sie was? Er hat es mit einer Feuerpatsche getan! Das hat er mir hinterher, als ich gefesselt aufwachte, selbst erzählt."

„Auch das noch!", rief Großmutter. „Dieser Mensch ist doch wirklich ein Ausbund an Unverschämtheit! Man muss ihn auf schnellstem Weg wieder einfangen und der gerechten Bestrafung zuführen, finden Sie das nicht auch?"

„Und ob ich das finde!"

Herr Dimpfelmoser sprang auf und schüttelte die geballten Fäuste.

„Ich werde es dem Halunken zeigen, zum Donnerwetter – und wenn er sich hinterm Mond verkriecht!"

Damit wollte er losstürmen und die Jagd nach dem Räuber Hotzenplotz aufnehmen. Seppel gelang es gerade noch rechtzeitig, ihn am Hemdenzipfel zu packen und festzuhalten.

„Nicht doch, Herr Oberwachtmeister!", rief er. „Vergessen Sie nicht, dass Sie keine Hose anhaben!"




Hotte hotte hü!


Kasperl und Seppel schlugen dem Oberwachtmeister vor, ihm die zweite Uniform aus der Wohnung zu holen – doch leider stellte es sich heraus, dass Herr Dimpfelmoser die zweite Uniform gestern früh in die Reinigungsanstalt gebracht hatte; und dort war ihm gesagt worden, er bekomme sie frühestens nächsten Mittwoch zurück, vielleicht auch erst Donnerstag oder Freitag.

„Schön", sagte Kasperl, „es muss ja nicht ausgerechnet die Uniform sein. Sie haben gewiss noch andere Anzüge."

„Eben nicht!", stöhnte der Herr Oberwachtmeister und gestand ihnen, dass er keinen anderen Anzug im Schrank habe, nicht einmal eine einzelne Hose. „Denn", sagte er, „wie ihr wisst, bin ich immer im Dienst und im Dienst trägt man Uniform."

Da war guter Rat teuer.

„Wissen Sie was?", meinte Kasperl nach einigem Grübeln. „Wir bringen Sie erst mal zu uns nach Hause, dort sind Sie am besten aufgehoben. Großmutter hat gewiss nichts dagegen – oder?"

Großmutter war mit allem einverstanden.

Kasperl und Seppel liehen sich bei der Gemüsefrau an der Ecke den Handwagen und ein leeres Gurkenfass. Es war nicht ganz einfach, Herrn Dimpfelmoser dazu zu bringen, dass er ins Fass stieg und sich darin nach Hause befördern ließ.

„Bin ich vielleicht eine saure Gurke?", schimpfte er. „Amtspersonen haben in einem solchen Fass nichts verloren!"

Zuletzt stieg er aber doch hinein, was wäre ihm denn auch anderes übrig geblieben? Kasperl und Seppel hoben den hölzernen Deckel aufs Gurkenfass, spannten sich vor den Handwagen und wollten losfahren.

„Wartet!", rief Großmutter. „Nicht so rasch, erst muss ich das Spritzenhaus abschließen! Hotzenplotz bringt es fertig und stiehlt uns auch noch das Feuerwehrauto, wenn wir nicht aufpassen!"

„Aber er hat doch den anderen Schlüssel – den von Herrn Dimpfelmoser! Damit kann er sowieso ins Spritzenhaus!"

„Trotzdem!", erwiderte Großmutter. „Ordnung muss sein, da hilft alles nichts!"

Kasperl und Seppel warteten, bis sie das Spritzenhaus zugesperrt hatte. Dann setzten sie sich mit dem Handwagen in Bewegung. Großmutter lief hinterdrein und schob. Die Leute, denen sie unterwegs begegneten, mussten den Eindruck haben, die drei hätten auf dem Gemüsemarkt ein Fass Gurken gekauft und schafften es nun nach Hause. Wären sie nahe genug herangekommen, so hätten sie freilich gehört, dass im Gurkenfass jemand saß, der unaufhörlich mit dumpfer Stimme vor sich hin schimpfte:

„O verflucht, ist das eine Luft hier drin! Ich werde mein

Lebtag nach sauren Gurken stinken, fürchte ich. Und so eng ist es hier! Ich bin nur noch ein einziger blauer Fleck. Au, meine Nase! O weh, meine linke Schulter! Ihr glaubt wohl, ich habe Gummiknochen und einen Wattekopf?"

Je länger die Fahrt dauerte, desto weniger wohl fühlte sich der Herr Oberwachtmeister im Gurkenfass; und je weniger wohl er sich fühlte, desto lauter schimpfte er.

Ein paarmal versuchte Großmutter ihm gut zuzureden.

„Still doch, Herr Oberwachtmeister, still doch! Was sollen die Leute denken?"

Als dies alles nichts half, stimmten Kasperl und Seppel ein Lied an:



Großmutter sang aus voller Kehle mit und es gelang ihnen, wenn auch mit einiger Mühe, Herrn Dimpfelmoser zu übertönen.




Es muß etwas geschehen


Großmutter hatte im Dachgeschoss ihres Häuschens ein kleines Zimmer mit schiefen Wänden und einem Gästebett. Dort brachten sie den Herrn Oberwachtmeister unter.

„Mögen Sie Baldriantee?", fragte Großmutter. „Baldriantee beruhigt die Nerven und wird Ihnen gut tun – nach allem, was Sie erlebt haben."

„Wenn ich ehrlich bin", sagte Herr Dimpfelmoser, „dann möchte ich lieber etwas zu essen. Was meinen Sie, wie mir der Magen knurrt!"

„Uns auch!", riefen Kasperl und Seppel. „Uns auch!"

Großmutter lief in die Küche und strich einen Haufen Butterbrote. Herr Dimpfelmoser, Kasperl und Seppel sorgten dafür, dass nichts übrig blieb. Großmutter konnte das nicht verstehen: Bei ihr schlug sich jede Aufregung auf den Magen und hinterher brachte sie stundenlang keinen Bissen hinunter.

Sie stellte Herrn Dimpfelmoser ein Kännchen Baldriantee ans Bett und erklärte, sie müsse nun in die Stadt gehen. Erstens habe sie einiges zu besorgen – „und zweitens", versprach sie ihm, „werde ich in der Reinigungsanstalt ein bisschen Dampf machen wegen Ihrer Uniform."

„O ja!", rief Herr Dimpfelmoser. „Die sollen sich ausnahmsweise einmal beeilen! – Und noch etwas könnten Sie für mich tun ..."

„Nämlich?"

„Bringen Sie mir von daheim ein Paar Schuhe und Strümpfe, den zweiten Helm und den anderen Säbel mit, den Paradesäbel, den ich normalerweise bloß sonntags trage! Frau Pfundsmichel, meine Zimmerwirtin, wird Ihnen alles geben. Und noch was, damit ich es nicht vergesse! Im Fahrradständer auf unserem Hof steht ein blaues Fahrrad mit roten Felgen. Ob Sie das auch noch mitbringen könnten? Es ist mein Dienstrad. Sowie ich die Uniform aus der Reinigungsanstalt zurückbekomme, radle ich damit los – und dann wird es nicht lange dauern, bis Hotzenplotz wieder im Loch sitzt, das schwöre ich Ihnen!"

„Gut", sagte Großmutter. „Also den Säbel, die Schuhe und Strümpfe, den Helm und das blaue Fahrrad."

„Und Bratwürste!", fügte Kasperl hinzu.

„Bratwürste?", fragte Großmutter.

„Ja", sagte Kasperl. „Vergiss nicht, dass heute Donnerstag ist! Bratwurst mit Sauerkraut könnte man ausnahmsweise auch einmal am Abend essen ..."

„Bratwurst mit Sauerkraut?" Großmutter schüttelte heftig den Kopf. „Solange der Räuber Hotzenplotz frei herumläuft, kommen mir keine Bratwürste mehr ins Haus. Und Sauerkraut auch nicht! Glaubt ihr, ich locke mir diesen Menschen ein zweites Mal auf den Hals? Einmal genügt!"

Dabei blieb sie und es gab nichts auf der ganzen Welt, was sie davon abbringen konnte.

Weil Kasperl und Seppel das wussten, versuchten sie gar nicht erst es ihr auszureden. Traurig gingen sie in den Garten. Sie setzten sich hinter dem Haus in die Sonne und überlegten.

Die Rechnung war einfach: Je schneller der Räuber Hotzenplotz hinter Schloss und Riegel kam, desto früher gab es bei Großmutter wieder Bratwurst mit Sauerkraut.

„Wollen wir eigentlich warten, bis Dimpfelmoser ihn fängt?", fragte Kasperl. „Es muss was geschehen, finde ich ..."

„Hast du schon einen Plan?", wollte Seppel wissen.

„Man müsste ihn einfach wieder ins Spritzenhaus locken, verstehst du ..."

„Fragt sich nur, wie!", meinte Seppel. „Mit Speck vielleicht – oder mit Bratwürsten?"

„Das ist alles Quatsch!", sagte Kasperl.

Er legte die Stirn in Falten und dachte nach. Er dachte an dies und jenes – und plötzlich fiel ihm die Essigflasche ein, die sie heut aus dem Stadtbach gefischt hatten.

„Ich hab's!", rief er. „Seppel, ich hab's! Wir bringen ihm eine Flaschenpost!"

„Eine Fla..."

„Eine Flaschenpost!"

„Und die schicken wir Hotzenplotz?"

„Du musst zuhören, wenn ich dir etwas sage: Wir bringen sie ihm – das macht einen großen Unterschied. Weißt du was, Seppel? Sei doch so gut und besorge mir im Papiergeschäft eine Stange Siegellack!"

„Siegellack?"

„Ja", sagte Kasperl. „Bei einer richtigen Flaschenpost ist der Siegellack fast noch wichtiger als die Flasche selbst."




Daheim ist daheim


Der Räuber Hotzenplotz freute sich bis in die letzten Bartstoppeln. Erstens war er seit heute Mittag wieder ein freier Mann und das war natürlich die Hauptsache; zweitens besaß er nun eine vollständige Polizeiuniform – ein Umstand, den er beruflich nach besten Kräften zu nutzen gedachte; und drittens, das musste er Kasperls Großmutter lassen, hatten ihm ihre Bratwürste und das Sauerkraut ganz verteufelt gut geschmeckt.

„Wenn es nun mit der Höhle auch noch klappt, kann ich wirklich zufrieden sein", dachte er.

Die Uniform des Herrn Oberwachtmeisters Dimpfelmoser passte ihm auf den Leib wie für ihn geschneidert. Die eigenen Sachen trug er zu einem Bündel verschnürt unterm linken Arm; in der Rechten schwenkte er den erbeuteten Säbel wie einen Spazierstock. Während er durch den Wald schritt, pfiff er laut und nicht immer ganz richtig sein Leib- und Magenlied:


Weil er sich Zeit ließ, brauchte er nahezu anderthalb Stunden, bis er zu Hause ankam. Wie nicht anders erwartet, war der Eingang zu seiner Höhle mit Brettern zugenagelt. Am Türpfosten hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift:


Polizeilich vernagelte Räuberhöhle

Unbefügte Entnagelung strengstens verboten! Wer es dennoch tut, wird bestraft.

Die Ortspolizeibehörde

Dimpfelmoser

Oberwachtmeister


Hotzenplotz rieb sich augenzwinkernd die Hände.

„Bis hierher ist alles in schönster Ordnung. Mal sehen, ob wir auch weiter Glück haben ..."

Andere Räuber pflegen sich für den Fall, dass ihr Schlupfwinkel eines Tages entdeckt wird, Zweithöhlen anzulegen, in die sie dann ausweichen können. Nicht so der Räuber Hotzenplotz.

„Wozu eine Zweithöhle?", hatte er sich gefragt. „Die erste tut es genauso. Das Einzige, was man braucht, ist ein zweiter Zugang, den niemand kennt. Man muss es nur schlau genug anstellen, dann ist alles ganz einfach und bombensicher."

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er von niemandem belauscht wurde, lief er zu einer einzelnen alten Eiche, die stand etwa zwanzig Schritte vom Eingang der Höhle entfernt und war innen hohl. Er stieg in die Öffnung und scharrte das Laub und die Rindenstücke beiseite, mit denen der Boden bedeckt war. Darunter kam eine starke, aus Eichenbrettern gezimmerte Tür zum Vorschein. Hotzenplotz holte aus einer Spalte des Baumstammes einen Schlüssel hervor, den kein Mensch dort vermutet hätte. Nun öffnete er die Falltür – und damit den Einstieg zu einem schmalen unterirdischen Gang.

Der Gang war genau zwanzig Schritte lang, dann stieß man auf eine Bretterwand. Hotzenplotz bückte sich, drückte auf einen verborgenen Knopf – und nun ließ sich die Bretterwand einfach beiseite schieben.

Grinsend betrat er die Räuberhöhle.

„Daheim ist daheim!", rief er. „Wie ich die Polizei kenne, wird sie mich überall suchen, bloß hier nicht. Schließlich ist meine Behausung ja amtlich zugenagelt!"

Er knallte das Bündel mit seinen Sachen in eine Ecke und blickte sich in der Höhle um. Schränke und Truhen waren geöffnet, der Inhalt lag auf dem Fußboden. Alles war durcheinander geworfen: Wäsche und Küchengerät, der Hausrock, die Kaffeekanne, der Stiefelknecht, eine Schachtel mit Schnurrbartwichse, das Schuhputzzeug, Streichhölzer, Schürhaken, Feuerzange und Nudelbrett, ein Paar Hosenträger, mehrere Päckchen Schnupftabak, eine Ofengabel, die Spiritusflasche und hundert andere Dinge.

Дальше