Neues vom Räuber Hotzenplotz - Otfried Preußler 3 стр.


Plötzlich war es im Spritzenhaus wieder still. Herr Dimpfelmoser hatte den Motor abgewürgt.

„Ei verflixt!", rief er ganz verdattert aus. „Ich bin, wie mir scheint, aus Versehen ein Stück zu weit gefahren – na, so was!"

Kasperl und Seppel erhoben sich.

Das Feuerwehrauto hatte die Rückwand des Spritzenhauses durchbrochen. Es stand mit den Hinterrädern im Freien, friedlich vom Mond beschienen.

Durch das Loch in der Mauer konnten sie ungehindert hinausspazieren.

„Toll!", sagte Kasperl und drückte Herrn Dimpfelmoser die Hand. „Das war Maßarbeit!"




Immerhin motorisiert


Herr Dimpfelmoser wollte vorausradeln und sich um Großmutter kümmern – doch leider musste er feststellen, dass sein Fahrrad verschwunden war.

„Unerhört!", rief er. „Dieser Bursche stiehlt nicht nur Uniformen, er klaut auch behördeneigene Fahrräder! Hat man so etwas schon gehört?"

„Kommen Sie!", drängte Kasperl. „Wir müssen nach Haus!"

„Und zwar schnell!", fügte Seppel hinzu.

„So schnell wie die Feuerwehr!", sagte Herr Dimpfelmoser; und wie sich zu Kasperls und Seppels freudiger Überraschung herausstellte, war das wörtlich gemeint. „Da nämlich erstens Eile geboten und zweitens mein Fahrrad verschwunden ist", fuhr er fort, „müssen wir auf das Feuerwehrauto zurückgreifen. Los, werft den Motor an!"

Herr Dimpfelmoser setzte den Wagen so weit zurück, dass er wenden konnte. Die Freunde kletterten auf den Mannschaftssitz und schon brausten sie los: Linkskurve, Rechtskurve, über den Marktplatz, am Rathaus vorbei und mit Vollgas die Bahnhofstraße hinunter.

Kasperl und Seppel kamen sich vor, als säßen sie in der Achterbahn. Alles, was sie am Achterbahnfahren besonders schätzten, wurde ihnen hier auch geboten: das Ohrensausen, das Kribbeln im Bauch – und das wunderbare Gefühl, in einer Sekunde um zwanzig Pfund leichter zu werden und in der nächsten um dreißig schwerer. Herr Dimpfelmoser machte das ganz hervorragend.

Leider dauerte das Vergnügen nur kurze Zeit, dann kreischten die Bremsen. Kasperl und Seppel rumpelten gegen die Rückwand des Fahrersitzes.

„Aussteigen, wir sind da!"

Aufatmend stellten sie fest, dass im Wohnzimmer Licht brannte. Umso größer der Schreck, als Großmutter nirgends im ganzen Häuschen zu finden war.

Herr Dimpfelmoser legte die Stirn in Falten.

„Weg ist sie", brummte er. „Weg wie das Fahrrad und meine Uniform."

Kasperl bekam einen Heidenschreck.

„Glauben Sie etwa, dass Hotzenplotz sie geraubt hat?"

„Geraubt?", meinte Oberwachtmeister Dimpfelmoser. „ Großmütter raubt man nicht, Großmütter werden entführt."

Er streckte das Kinn vor und rasselte mit dem Säbel.

„Wir müssen sofort mit der Fahndung beginnen!"

„Mit was?"

„Mit der Fahndung! Das heißt, dass wir alles tun müssen, um den Schurken zu fangen und Großmutter zu befreien. Immerhin sind wir ja motorisiert. Alles aufsitzen, es geht los!"

Mit dem Feuerwehrauto fuhren sie kreuz und quer durch den ganzen Landkreis. Sie fuhren nach Norden und Süden, nach Westen und Osten, auf Hauptstraßen, Nebenstraßen und Feldwegen. Aber vom Räuber Hotzenplotz und von Großmutter fehlte jede Spur.

Gegen halb zwei in der Nacht – sie befanden sich unglückseligerweise gerade mitten im Wald – war der Sprit zu Ende. Der Motor begann zu stottern, dann setzte er aus und der Wagen stand.

„Auch das noch!", schimpfte Herr Dimpfelmoser. „Heute bleibt uns auch wirklich nichts erspart!"

Sie mussten das Feuerwehrauto im Walde stehen lassen und kehrten zu Fuß in die Stadt zurück.

Kurz nach drei fielen Kasperl und Seppel erschöpft ins Bett. Sie waren so hundemüde, dass sie es nicht mehr fertig brachten, sich auszuziehen. Sie schliefen in allen Kleidern, in Jacke und Hose, in Strümpfen und Schuhen, mit Kasperlmütze und Seppelhut.



Fünfhundertfünfundfünfzig Mark fünfundfünfzig


Am anderen Morgen um elf, während Kasperl und Seppel noch wie erschlagen schliefen, suchte Herr Oberwachtmeister Dimpfelmoser Herrn Rübesamen in dessen Büro auf und berichtete ihm, was sich letzte Nacht mit dem Spritzenhaus und dem Feuerwehrauto ereignet hatte.

„Ich hoffe, Sie werden mir das nicht übel nehmen, mein Lieber – nach Lage der Dinge hatte ich keine andere Wahl. Für den bei der Fahndung verbrauchten Treibstoff kommt selbstverständlich die Polizei auf; und was die Rückwand des Spritzenhauses betrifft, so könnte man ja für ihren Wiederaufbau eine öffentliche Sammlung veranstalten: etwa beim nächsten Feuerwehrball."

Herr Rübesamen war mit allem einverstanden und versprach dafür zu sorgen, dass das Feuerwehrauto von einigen seiner Leute in die Stadt zurückgebracht wurde.

„Nur schade", sagte er, „dass Sie den Räuber Hotzenplotz nicht erwischt haben!"

„Tut nichts", meinte Herr Dimpfelmoser. „Der geht uns auf gar keinen Fall durch die Lappen, den kriegen wir schon. Die Fahndung muss nur erst richtig ins Rollen kommen, verstehen Sie ..."

Er verabschiedete sich von Herrn Rübesamen, machte anschließend einen kleinen Rundgang durchs Städtchen, um nachzusehen, ob überall Ruhe und Ordnung herrschte, und nachdem er sich davon überzeugt hatte, kehrte er gegen Mittag zu Kasperl und Seppel zurück. Die beiden hatten noch nicht gefrühstückt und waren in höchster Aufregung.

„Was ist los mit euch?", fragte er.

Kasperl und Seppel redeten beide gleichzeitig auf ihn ein, sehr schnell und sehr lautstark. Herr Dimpfelmoser wurde nicht schlau daraus. Wenn sie Chinesisch mit ihm geredet hätten, wäre es ungefähr auf dasselbe hinausgelaufen.

„Aufhören!", rief er. „Aufhören, man versteht ja kein Wort!"

Als alles Rufen nichts half, steckte er seine Polizeitrillerpfeife in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus, der Kasperl und Seppel sofort verstummen ließ.

„Rrrruhe, zum Donnerwetter! Wenn ihr mir was zu berichten habt, dann tut es gefälligst einzeln und hübsch der Reihe nach! – Also bitte!"

Kasperl und Seppel hatten wahrhaftig alle Veranlassung aus dem Häuschen zu sein. Vor ungefähr einer Viertelstunde hatte sie ein Postbote aus dem Bett geklingelt und ihnen einen Eilbrief überbracht.

„Einen Eilbrief?", fragte Herr Dimpfelmoser. „Von wem?"

„Sie werden es nicht für möglich halten – von Hotzenplotz!"

Kasperl gab ihm den Brief zu lesen. Er war auf die Rückseite eines alten Kalenderblattes geschrieben, mit roter Tinte, in großen, klotzigen Buchstaben:

Herr Dimpfelmoser fand, dieser Brief sei die allerunverschämteste Unverschämtheit, die ihm in seiner langjährigen Dienstzeit untergekommen sei.

„Aber wir werden ihm einen Strich durch die Rechnung machen, diesem gemeinen Erpresser, der nicht einmal seinen eigenen Namen richtig schreiben kann!", rief er zornentbrannt. „Wir verhaften ihn, wenn er morgen zum alten Steinkreuz kommt! Ich telefoniere sofort mit der Kreisstadt und sorge dafür, dass mindestens zwölf Polizeibeamte zu seinem Empfang bereitstehen und ihn hopsnehmen – das verspreche ich euch!"

Kasperl war nicht sehr begeistert von seinem Vorschlag.

„Bloß nicht, Herr Oberwachtmeister!"

„Nein?", fragte Dimpfelmoser. „Wieso denn nicht?"

„Wegen Großmutter", sagte Kasperl. „Wenn Hotzenplotz Lunte riecht, wird es schlimm für sie."

„Hm", brummte Oberwachtmeister Dimpfelmoser. „Dann werdet ihr also zahlen?"

„Was sonst?", meinte Kasperl mit einem Achselzucken. „Großmutter sollte uns fünfhundertfünfundfünfzig Mark wert sein – oder?"

„Fünfhundertfünfundfünfzig Mark fünfundfünfzig!", verbesserte ihn Seppel. „Genau so viel, wie wir vor vierzehn Tagen vom Herrn Bürgermeister als Belohnung bekommen haben – ist das nicht ulkig?"

Herr Dimpfelmoser ließ sich aufs Sofa plumpsen. Dann nahm er den Helm ab und wischte ihn mit dem Taschentuch innen trocken.

„Die Sache gefällt mir nicht", brummte er. „Seid ihr wenigstens damit einverstanden, dass ich euch morgen vorsichtig nachschleiche? So könnte ich aus der Ferne beobachten, was geschieht und im Notfall einschreiten ..."

„Bitte nein!", sagte Kasperl. „Wir wissen doch alle drei, dass mit Hotzenplotz nicht zu spaßen ist. Wenn er verlangt, dass Seppel und ich allein kommen, müssen wir uns dran halten. Er hat uns nun mal in der Hand, da hilft alles nichts."

„Und wenn euch dabei was zustößt?", knurrte Herr Dimpfelmoser. „Wer garantiert mir dafür, dass ihr wohlbehalten zurückkommt?"

Kasperl zögerte einen Augenblick mit der Antwort.

„Wir müssen es abwarten", meinte er dann. „Wir sind keine Hellseher ..."

„Keine – Hellseher?"

Oberwachtmeister Dimpfelmoser sprang auf und packte ihn an der Schulter. „Kasperl", rief er, „ich glaube, du hast mich auf einen Gedanken gebracht! In ungewöhnlicher Lage muss man zu ungewöhnlichen Mitteln greifen – ich wende mich an Frau Schlotterbeck!"




Frau Schlotterbeck


Frau Schlotterbeck wohnte in einem alten, ziemlich heruntergekommenen Häuschen am Waldrand, das ringsum von einer hohen Dornenhecke umgeben war. Am Gartentor hing ein Schild mit der Aufschrift:


Witwe Portiunkula Schlotterbeck


Staatl. geprüfte Hellseherin

Kartenlegen, Traum- und Handliniendeutung

Vorhersagen aus Kaffeesatz

Geisterbeschwörung jeglicher Art u.a.m.

Sprechstunde täglich

sowie nach Vereinbarung


Eine Handbreit darunter war eine rot umrandete Warnungstafel angebracht:

Herr Dimpfelmoser zog an der Glocke neben dem Gartentor. Im nächsten Augenblick kläffte drinnen ein Hund los – so wütend, dass der Herr Oberwachtmeister unwillkürlich zurückzuckte und die Hand an den Säbel nahm.

Während er auf die Witwe Schlotterbeck wartete, musste er daran denken, dass es im ganzen Städtchen keinen Menschen gab, der ihren Hund je zu Gesicht bekommen hatte. Sie pflegte ihn tagsüber nämlich in einer Art Ziegenstall einzusperren und ließ ihn nur nachts im Garten umherlaufen. Aber das konnte sie schließlich halten, wie es ihr passte: Hauptsache, sie bezahlte die Hundesteuer für ihn – und das tat sie gewissenhaft.

Herr Dimpfelmoser ließ eine Weile verstreichen, dann läutete er zum zweiten und später zum dritten Mal. War Frau Schlotterbeck nicht zu Hause?

„Ich werde es gegen Abend noch einmal versuchen ..."

Er wollte gerade gehen, da hörte er eine Tür kreischen und Frau Schlotterbeck kam durch den Garten geschlurft.

Eigentlich hätte sie Wabbelbeck heißen müssen, denn alles an ihr war rund und wabbelig, auch das Gesicht mit dem sechsfachen Doppelkinn und den mächtigen Hängebacken. Obwohl es bereits auf vier Uhr nachmittags ging, trug Frau Schlotterbeck einen geblümten Morgenrock, dazu Lockenwickel im Haar und ausgetretene Filzpantoffeln. Sie schnaufte und keuchte bei jedem Schritt wie eine überanstrengte Dampfmaschine.

„Ach, Sie sind's, Herr Oberwachtmeister!" Ihre Stimme klang tief und hohl, als spräche sie durch ein Ofenrohr. „Was verschafft mir die Ehre?"

„Ich hätte mit Ihnen zu reden, Frau Schlotterbeck. Darf ich eintreten?"

„Bitte sehr, kommen Sie nur herein!"

Während sie durch den verwilderten Garten gingen, bellte der Hund von neuem los wie nicht recht gescheit.

„Willst du wohl still sein, Wasti!" Frau Schlotterbeck blickte Herrn Dimpfelmoser verlegen an. „Sie müssen entschuldigen. Wasti regt sich bei jeder Kleinigkeit schrecklich auf."

In Frau Schlotterbecks Wohnstube herrschte geheimnisvolles Halbdunkel, da sie die Vorhänge tagsüber stets geschlossen hielt – nach dem Grundsatz: Zum Hellsehen muss es dunkel sein.

„Bitte, nehmen Sie Platz!"

Frau Schlotterbeck zündete eine Kerze an, die genau in der Mitte des Tisches stand, dessen Platte mit allerlei seltsamen Zeichen bedeckt war: mit Sternen von unterschiedlicher Größe und Form, mit Quadraten und Kreuzen, mit Ziffern und Kreisen und Buchstaben einer fremden Schrift, die Herr Dimpfelmoser nicht lesen konnte.

„Zigarre?"

Sie schob ihm ein flaches Kästchen hin.

„Danke – im Dienst bin ich Nichtraucher."

„Aber Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich ..."

Damit entnahm sie dem Kästchen eine dicke schwarze Zigarre, schnupperte daran, biss ihr die Spitze ab, rauchte sie an und begann zu paffen.

„Sie hätten also mit mir zu reden?"

„So ist es."

Herr Dimpfelmoser wollte beginnen ihr auseinander zu setzen, worum es sich handelte, doch Frau Schlotterbeck schnitt ihm das Wort ab.

„Nicht nötig, mein Bester – schauen Sie mal hierher!"

Sie klemmte sich ein Monokel ins rechte Auge und deutete mit dem Finger auf dessen unteren Rand.

„Wozu kann ich schließlich Gedanken lesen? Aber nicht zwinkern, bitte!"

Herr Dimpfelmoser gehorchte, obgleich es ihm Unbehagen bereitete, dass ihm Frau Schlotterbeck sozusagen ins Hirn schaute. Zum Glück war die Sache bald ausgestanden.

„Ich weiß nun, wo Sie der Schuh drückt", sagte Frau Schlotterbeck. „Aber ich kann Sie beruhigen. Kommen Sie morgen früh um halb neun zu mir! Ihnen zuliebe werde ich ausnahmsweise den Wecker auf Viertel nach acht stellen."

„Und Sie meinen ..."

Frau Schlotterbeck stieß eine dicke Rauchwolke aus und nickte.

„Wir machen es mit der Kristallkugel", sagte sie. „Damit können wir jeden einzelnen Schritt Ihrer Freunde von hier aus beobachten, ohne dass Hotzenplotz das Geringste merkt. – Doch nun darf ich Sie bitten mich zu entschuldigen: Ich muss Wasti das Frühstück bringen. Hören Sie nur, wie er jault und winselt, der arme Hund!"




Die Kristallkugel


Am anderen Morgen um acht brachen Kasperl und Seppel auf. Wer sie mit ihrer Blechkanne losziehen sah, musste meinen, sie gingen zum Brombeerpflücken. Doch in der Kanne befand sich das Lösegeld. Es stimmte auf Heller und Pfennig, sie hatten es fünfmal nachgezählt. Herr Dimpfelmoser begleitete sie bis zur nächsten Straßenecke.

„Also macht's gut – und verlasst euch drauf, dass ich euch raushole, wenn was schief geht!"

„Wird schon nicht!", meinte Kasperl.

„Also macht's gut – und verlasst euch drauf, dass ich euch raushole, wenn was schief geht!"

„Wird schon nicht!", meinte Kasperl.

Nun trennten sich ihre Wege. Die beiden Freunde mussten zum alten Steinkreuz im Wald, Herr Dimpfelmoser begab sich zur Witwe Schlotterbeck. Wieder musste er einige Male klingeln und wieder brach Wasti in wildes Gekläff aus. Hatte Frau Schlotterbeck etwa verschlafen?

Endlich kam sie und öffnete: barfuß in Schlappen, ein gehäkeltes Betthäubchen auf dem Kopf, über dem Nachthemd ein Wolltuch mit langen Fransen.

„Kommen Sie nur, es ist alles vorbereitet!"

Auf dem Tisch in der abgedunkelten Wohnstube brannte bereits die Kerze. Daneben ruhte auf einem Kissen aus schwarzem Samt eine kokosnussgroße, bläulich schimmernde Kugel von Bergkristall.

„Nicht anfassen!", warnte Frau Schlotterbeck. „Bei der geringsten Erschütterung trübt sie sich und es kann Stunden, ja sogar Tage dauern, bis man sie wieder verwenden kann."

„Und wozu ist sie gut?", fragte Oberwachtmeister Dimpfelmoser.

„Sie können mit ihrer Hilfe alles beobachten, was sich an jedem beliebigen Ort im Umkreis von dreizehn Meilen ereignet – vorausgesetzt, es geschieht unter freiem Himmel."

Sie setzte sich an den Tisch und fasste das Kissen mit der Kristallkugel vorsichtig an zwei Ecken, dann fragte sie:

„Haben Sie eine Ahnung, wo Kasperl und Seppel jetzt ungefähr sein könnten?"

Herr Dimpfelmoser warf einen Blick auf die Taschenuhr.

Zehn vor neun ... Jetzt müssten sie unweit der Stelle sein, wo die Brücke über den Moosbach führt."

„Schön, das genügt mir – wir werden sie bald gefunden haben."

Mit spitzen Fingern drehte Frau Schlotterbeck Kissen und Kugel einige Male hin und her.

„Das Einstellen dauert immer am längsten", meinte sie. „Dafür geht es dann, wenn das Ziel gefunden ist, von allein weiter ... Aber wer sagt's denn! Da haben wir ja die Moosbachbrücke – und wenn mich nicht alles täuscht, tauchen dort hinten im Wald schon Kasperl und Seppel auf."

„Wirklich?", fragte Herr Dimpfelmoser.

Frau Schlotterbeck nickte und zog ihn am Ärmel zu sich heran.

„Kommen Sie hierher, an meinen Platz. Es wird besser sein, wenn Sie die beiden von jetzt an selber beobachten. Aber nicht an den Tisch stoßen, sonst ist alles verpatzt!"

Herr Dimpfelmoser gab höllisch Acht. So behutsam wie diesmal hatte er sich sein Lebtag an keinen Tisch gesetzt.

„Bravo!", sagte Frau Schlotterbeck. „Und nun blicken Sie fest in die Kugel – was sehen Sie?"

Zunächst sah Herr Dimpfelmoser bloß einen bläulichen Schimmer in der Kristallkugel, doch allmählich begann sich ein Bild darin abzuzeichnen, das rasch immer klarer wurde – und richtig, nun konnte er Kasperl und Seppel erkennen, wie sie gerade über die Brücke gingen. Auch hörte er ihre Schritte und wenn er die Ohren spitzte, verstand er sogar, was sie miteinander redeten.

„Nun, wie finden Sie das, mein Bester?", fragte Frau Schlotterbeck. „Habe ich Ihnen zu viel versprochen?"

Herr Dimpfelmoser war ehrlich begeistert.

„Ich finde es großartig!", rief er. „Hotzenplotz würde vor Wut aus der Haut fahren, wenn er wüsste, dass Kasperl und Seppel durch Ihre Kristallkugel polizeilich beobachtet werden!"




Vorwärts marsch!


Seit die Brücke über den Moosbach hinter ihnen lag, hatten Kasperl und Seppel das Gefühl, als ob ihre Füße mit jedem Schritt ein halbes Pfund schwerer würden. Am liebsten wären sie jetzt noch umgekehrt.

Um sich Mut zu machen, spielten sie Wörterverdrehen. Das war eines ihrer Lieblingsspiele, Kasperl begann damit.

„Hast du Angst vor dem Räuber Plotzenrotz?", fragte er.

„Ich?", meinte Seppel und tippte sich an den Hut. „Der Kerl hat ja Stieselheine im Kirn!"

„Oder Klaumenpfnödel!"

„Fragt sich, was besser ist. Jedenfalls ist er ein alter Kummdopf!"

„Ein Vindrieh, wie es im Stuch beht!"

„Ein Krohstopf!"

„Ein Aumenpflaugust!"

Je länger sie das Spiel fortsetzten und je mehr Schimpfnamen sie für Hotzenplotz fanden und aussprachen, desto leichter wurde ihnen ums Herz.

Als sie beim alten Steinkreuz ankamen, waren sie fast schon wieder ein bisschen übermütig.

„Halt! Stehenbleiben!"

Die Pfefferpistole im Anschlag, brach Hotzenplotz aus den Sträuchern hinter dem Steinkreuz hervor, diesmal wieder in seinem Räubergewand mit dem schwarzen Hut und der krummen Feder.

„Seid ihr allein?"

„Das sehen Sie ja", sagte Kasperl; und Seppel beteuerte eifrig: „Hei Dringer aufs Ferz!"

„Oha!", rief Hotzenplotz. „Machst du dich über mich lustig, Bürschlein? Was soll der Blödsinn?"

„Oh –, Entschuldigung!" Seppel bekam einen roten Kopf. „Ich wollte natürlich sagen: Drei Finger aufs Herz – wir sind wirklich allein gekommen!"

„Schön", brummte Hotzenplotz. „Und das Geld?"

„Das Geld ist hier drin", sagte Kasperl und schepperte mit der Blechkanne. „Fünfhundertfünfundfünfzig Mark fünfundfünfzig in Münzen."

„Vorzählen!"

„Wie Sie wünschen. Wir haben es zwar schon fünfmal gezählt – aber bitte sehr!"

Seppel nahm den Hut vom Kopf und Kasperl schüttete alles Geld hinein. Dann zählten sie Münze für Münze einzeln in die Kanne zurück. Hotzenplotz sah ihnen scharf auf die Finger und zählte mit, bis sie fertig waren.

„Und nun", sagte Kasperl, „nun geben Sie Großmutter bitte wieder heraus!"

„Großmutter?" Hotzenplotz tat verwundert. „Wieso denn?"

„Weil Sie uns das versprochen haben." Kasperl zog aus der Hosentasche den Eilbrief hervor. „Hier haben wir's rot auf weiß!"

„Dass ich Großmutter freilasse?" Hotzenplotz nahm ihm den Brief aus der Hand. „Ihr könnt wohl nicht richtig lesen, wie? Von Freilassen steht hier kein Wort! Ich habe euch nur versprochen, dass ihr sie lebend wiederseht, wenn ihr das Geld bringt..."

„Eben!", rief Kasperl. „Und was man verspricht, muss man halten – auch wenn man ein Räuber ist!"

„Findest du?"

Hotzenplotz grinste. Dann kniff er das linke Auge zu, spannte den Hahn der Pfefferpistole und sagte:

„Natürlich werdet ihr Großmutter wiedersehen – aber als meine Gefangenen!"

Nun ging alles sehr schnell. Er hob die Pistole, er brüllte: „Umdrehen! Arme nach hinten! Rasch – oder muss ich nachhelfen?"

Kasperl und Seppel waren so verdattert, dass sie alles mit sich geschehen ließen. Hotzenplotz fesselte ihnen die Hände auf den Rücken und band sie an einen Kälberstrick.

„Vorwärts marsch!"

Die Blechkanne mit dem Lösegeld in der einen Hand und den Kälberstrick in der anderen, führte er Kasperl und Seppel davon, in den finsteren Wald hinein.




Wasti


Herr Dimpfelmoser hatte mit wachsendem Unmut beobachtet, wie sich die Dinge beim alten Steinkreuz entwickelt hatten. Als er nun sehen musste, wie Hotzenplotz Kasperl und Seppel gefangen wegführte, verlor er für einen Augenblick die Beherrschung.

„Dieser Schuft!", rief er. „Dieser Schurke! Der Blitz soll ihm in die Knochen fahren!"

Dabei haute er mit der Faust auf den Tisch, dass die Kristallkugel auf dem Samtkissen einen Hüpfer machte.

„Aber Herr Dimpfelmoser!"

Frau Schlotterbeck konnte das Unglück nicht mehr verhindern. Vor ihren Augen verdüsterte sich die Kugel. Es war, als ob schwarzer Rauch aus der Tiefe emporquirlte und das Bild verhüllte.

„Da haben wir die Bescherung!" Frau Schlotterbeck schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wenn ich Sie nicht gewarnt hätte, würde ich ja nichts sagen, Sie Unglücksmensch! Wie konnten Sie bloß auf den Tisch hauen!"

„Tut mir Leid", brummte Oberwachtmeister Dimpfelmoser. „Was kann man dagegen machen, wenn einen der Zorn packt?"

Frau Schlotterbeck schlug die Kristallkugel in ein schwarzes Tuch ein und räumte sie weg.

„Für mich ist die Sache nicht weiter schlimm", erklärte sie. „In ein bis zwei Tagen kann ich die Kugel wieder verwenden, das lässt sich abwarten. Aber für Sie! Wie wollen Sie nun herausfinden, wohin Hotzenplotz ihre Freunde verschleppt?"

Ach du liebe Zeit, daran hatte Herr Dimpfelmoser gar nicht gedacht! Ob Frau Schlotterbeck ihm da helfen konnte? Mit Kartenlegen zum Beispiel – oder mit Wahrsagen aus dem Kaffeesatz?

„Das alles könnte man selbstverständlich versuchen", meinte sie. „Aber ich will Ihnen ehrlich sagen, dass ich nicht allzu viel davon halte. Ein Hund wäre weitaus besser für Sie – ganz entschieden!"

„Ein Hund?"

„Um ihn Hotzenplotz auf die Spur zu setzen."

Herr Dimpfelmoser kratzte sich im Genick.

„Ihr Vorschlag hat manches für sich. Wie wäre es, wenn Sie mir – Wasti liehen? Das ginge am schnellsten, da brauchte ich nicht erst lange bei meinen Bekannten herumzufragen ..."

„Wasti?" Frau Schlotterbeck tat einen kräftigen Zug an ihrer Zigarre. „Mit Wasti ist das so eine Sache, wissen Sie ..."

„Ist er zu dumm für so was?"

„Im Gegenteil!"

„Oder zu furchtsam?"

„Da kennen Sie Wasti schlecht!"

„Ah, ich verstehe, er würde mir nicht gehorchen ..."

Frau Schlotterbeck winkte ab.

„Sie haben noch gar nichts verstanden, Herr Dimpfelmoser – wie sollten Sie auch? Als Hund hat mein guter Wasti bloß einen einzigen Fehler. Kommen Sie bitte mit!"

Sie führte Herrn Dimpfelmoser zu Wastis Verschlag. Als Wasti sie kommen hörte, begann er zu winseln und mit den Pfoten am Holz zu kratzen.

„Erschrecken Sie nicht, wenn ich öffne – er tut Ihnen nichts."

Frau Schlotterbeck schob den Riegel zurück. Mit lautem Freudengebell stürmte Wasti ins Freie und sprang an ihr hoch.

Herr Dimpfelmoser wich ein paar Schritte zurück und fasste sich an den Kragen.

„Aber – das ist ja ein Krokodil!", rief er fassungslos.

„Eben nicht!", berichtigte ihn Frau Schlotterbeck. „Wasti sieht nur so aus wie ein Krokodil; in Wirklichkeit ist er ein echter Dackel. Meinen Sie, dass ich sonst Hundesteuer für ihn bezahlen würde?"

Tatsächlich trug Wasti ein Halsband mit einer Hundemarke.

„Trotzdem!", sagte Herr Dimpfelmoser. „Das Äußere Ihres – hm – Hundes befremdet mich außerordentlich."

Frau Schlotterbeck zupfte verlegen an ihrem Wolltuch.

„Ich will Ihnen nicht verheimlichen", sagte sie, „dass ich in jungen Jahren neben der Hellseherei auch ein wenig hexen gelernt habe. Und ich gestehe ganz offen, dass es mir großen Spaß gemacht hat am Feierabend ein bisschen herumzuhexen – bis mir dann dieses entsetzliche Missgeschick unterlaufen ist..."

Sie zeigte auf Wasti, der hechelnd zu ihren Füßen lag und genau zu verstehen schien, dass die Rede von ihm war.

„Ich weiß selbst nicht, weshalb ich ihn eines Tages in einen Bernhardiner umhexen wollte. Aus Langeweile vermutlich, nur so zum Zeitvertreib ... Was ich an jenem Unglückstag falsch gemacht habe, ist mir bis heute schleierhaft. Jedenfalls sieht mein armer Wasti seither wie ein Krokodil aus – auch wenn er im Grunde genommen der brave Dackel geblieben ist, der er immer war."

Frau Schlotterbeck hatte feuchte Augen bekommen, sie musste sich schnauzen. „Verstehen Sie nun, weshalb ich ihn vor den Leuten versteckt halte, meinen armen Wasti?"

Herr Dimpfelmoser verstand.

„Und – haben Sie nie versucht ihn zurückzuhexen?"

„Natürlich", sagte Frau Schlotterbeck. „Aber es hat nicht geklappt und da habe ich's schließlich aufgegeben. Sie werden begreifen, dass mir seit damals die Lust am Hexen vergangen ist. Doch genug von den alten Geschichten! Falls Sie sich nicht an Wastis Aussehen stoßen – von mir aus dürfen Sie ihn auf die Räuberjagd mitnehmen."




Ein Dutzend Rotkappen


Hotzenplotz führte Kasperl und Seppel am Strick vor sich her. Sie ließen die Köpfe hängen und hatten Bauchweh vor Wut. Wenn sie Herr Dimpfelmoser im Stich ließ, gingen sie trüben Zeiten entgegen, das wussten sie.

„Na, ihr zwei lahmen Enten – ich glaube fast, ihr habt schlechte Laune. Soll euch der gute Onkel was vorpfeifen?"

Hotzenplotz pfiff sein Lieblingslied, das vom lustigen Räuberleben im Wald. Dazu schepperte er im Takt mit der Geldkanne.

„Hört sich nicht schlecht an, wie? Ich möchte bloß wissen, warum ihr nicht mitpfeift, ihr alten Sauertöpfe, hö-hö-hö-höööh!"

Wenig später entdeckte er unter den Bäumen am Wegrand ein ganzes Nest Rotkappen: mehr als ein Dutzend, bildschön gewachsen und kerngesund.

„Brrr!", rief er. „Stehen bleiben! Dass ihr mir nicht aus Versehen die herrlichen Pilze zertrampelt! Die nehme ich mit, das gibt eine prima Schwammerlsuppe für mich."

Er band Kasperl und Seppel am nächsten Baum fest, zog eines der sieben Messer aus dem Gürtel und schnitt die Rotkappen ab. Dann säuberte er die Stiele von Tannennadeln und Erdkrumen, holte ein großes kariertes Taschentuch aus dem Hosensack, packte die Pilze hinein und knüpfte es über Kreuz zusammen.

„So, fertig!", sagte er. „Und nun rasch nach Hause! Schwammerlsuppe von Rotkappen mag ich nämlich fürs

Leben gern – fast noch lieber als Bratwurst mit Sauerkraut. Bildet euch ja nicht ein, dass ihr was davon abbekommt! Nicht einen halben Löffel kriegt ihr von meiner Schwammerlsuppe, die esse ich ganz allein auf!"

„Ach nein", meinte Kasperl.

Ihm war ein Gedanke gekommen: ein guter Gedanke, der beste seit mindestens vierzehn Tagen.

„Kennen Sie diese Pilze denn überhaupt?", fragte er. „Sind Sie sicher, dass keine giftigen drunter sind?"

„Giftige?" Hotzenplotz tippte sich an die Stirn. „Du hältst mich für sehr blöd, wie? Das sind Rotkappen wie aus dem Bilderbuch, da gibt's keinen Zweifel dran. Und jetzt vorwärts, wir müssen weiter!"

Seit er die Pilze gefunden hatte, war seine Laune noch besser geworden. Von jetzt an pfiff er so laut und falsch und machte dazu mit der Geldkanne einen solchen Krach, dass es Kasperl nicht schwer fiel, mit Seppel heimlich über seinen Plan zu sprechen.

Wenn sie ein bisschen Glück hatten, konnte ihnen die Schwammerlsuppe von großem Nutzen sein; und eigentlich waren sie ja, nach dem vielen Pech in der letzten Zeit, mit dem Glückhaben wieder mal an der Reihe, fanden sie ...

So kam es, dass sie einen ganz vergnügten Eindruck machten, als Hotzenplotz sie zu Großmutter in die Höhle brachte – und Großmutter schloss daraus, dass sie gekommen seien, sie abzuholen.

„Endlich!", rief sie, vor Freude schluchzend. „Ich wusste ja, dass ihr mich hier herausholen würdet, ihr beiden Guten! Was meint ihr, wie froh ich bin, dieses scheußliche Ding da loszuwerden! Das scheuert einem ja Haut und Knochen durch!"

Назад Дальше