Matilda - Dahl Roald 6 стр.


Der Junge wurde jetzt langsamer, es war nicht zu bezweifeln. Aber er stopfte sich das Zeug mit der verbiesterten Ausdauer eines Langstreckenläufers in den Mund, der schon die Ziellinie sieht und weiß, er muß nur einfach noch durchhalten. Als der allerletzte Happen verschwand, erhob sich in der Aula ein ohrenbetäubender Jubel, die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf und jubelten und klatschten und riefen: «Bravo, Theo! Gut gemacht, Theo! Du hast eine Goldmedaille gewonnen, Theo!»



Die Knüppelkuh stand reglos auf der Bühne. Ihr großes Pferdegesicht hatte die Farbe von geschmolzener Lava angenommen, und ihre Augen funkelten vor Wut. Sie starrte Theo Torfkopp an, der wie eine fette, überfütterte Made auf seinem Stuhl saß, zum Platzen voll, halb betäubt, unfähig, sich zu rühren oder zu reden. Feine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, aber auf seinem Gesicht lag ein triumphierendes Grinsen.

Plötzlich griff die Knüppelkuh nach vorn und packte die große leere Porzellanplatte, auf der die Torte gewesen war. Sie hob sie hoch in die Luft und ließ sie genau auf den Schädel des unglücklichen Theo Torfkopp knallen, daß es nur so klirrte und die Scherben auf der ganzen Bühne herumflogen.



Der Junge war aber so mit Torte angefüllt, daß er einem Sack voll nassem Zement glich, und man hätte ihn nicht einmal mit einem Schmiedehammer etwas anhaben können. Er schüttelte also nur ein paarmal den Kopf und grinste weiter.

«Fahr zur Hölle!» kreischte die Knüppelkuh und marschierte von der Bühne. Die Köchin folgte ihr auf den Fersen.


Lavendel

Mitten in der ersten Woche von Matildas erstem Schuljahr sagte Fräulein Honig zur Klasse:

«Ich habe einige wichtige Mitteilungen für euch, hört also genau zu. Du auch, Matilda. Leg das Buch einen Augenblick beiseite und paß mit auf.»

Lauter kleine emsige Gesichter schauten auf, und alle hörten zu.

«Es ist die Gewohnheit der Schulleiterin», fuhr Fräulein Honig fort, «die Klasse in jeder Woche für eine Schulstunde zu übernehmen. Sie macht das in allen Klassen in der Schule, und jede Klasse kommt an einem ganz bestimmten Tag und zu einer ganz bestimmten Zeit an die Reihe. Bei uns ist das immer zwei Uhr am Donnerstagnachmittag, unmittelbar nach dem Mittagessen. Fräulein Knüppelkuh wird also morgen um zwei eine Stunde von mir übernehmen. Ich werde selbstverständlich auch dasein, aber nur als stumme Zuhörerin, habt ihr das verstanden?»

«Ja, Fräulein Honig», zirpten sie.

«Noch eine Warnung für euch alle», fuhr Fräulein Honig fort, «die Frau Rektorin ist mit allem sehr streng. Achtet also darauf, daß eure Kleider sauber sind, daß eure Gesichter sauber sind und daß eure Hände sauber sind. Redet nur, wenn ihr angesprochen werdet. Wenn sie euch eine Frage stellt, so steht auf, bevor ihr die Antwort gebt. Laßt euch nie auf einen Streit mit ihr ein. Widersprecht ihr niemals. Versucht niemals, witzig zu sein. Das macht sie ärgerlich, und wenn die Frau Rektorin ärgerlich wird, müßt ihr ganz gehörig auf der Hut sein.»

«Das kann man wohl sagen», murmelte Lavendel.

«Ich bin fest davon überzeugt», fuhr Fräulein Honig fort, «daß sie prüfen wird, was ihr in dieser Woche habt lernen sollen, nämlich das Einmalzwei. Ich rate euch also dringend, es noch einmal schön zu üben, wenn ihr nachher zu Hause seid. Bittet eure Mutter oder euren Vater, euch abzuhören.»



«Worin wird sie uns denn noch prüfen?» erkundigte sich jemand.

«Im Buchstabieren», antwortete Fräulein Honig. «Versucht euch gut an alles zu erinnern, was ihr in diesen letzten paar Tagen gelernt habt. Und noch etwas. Es muß hier immer ein Krug Wasser und ein Glas auf dem Tisch stehen, wenn die Frau Rektorin eintritt. Ohne das erteilt sie niemals Unterricht. Wer will also die Verantwortung übernehmen und darauf achten, daß alles vorhanden ist?»

«Ich», antwortete Lavendel sofort.

«Sehr gut, Lavendel», sagte Fräulein Honig, «es wird nun deine Aufgabe sein, kurz vor Beginn der Stunde in die Küche zu gehen und den Krug zu holen und mit Wasser zu füllen und hier auf diesen Tisch neben ein sauberes leeres Glas zu stellen.»

«Und was, wenn der Krug nicht in der Küche ist?» erkundigte sich Lavendel.

«Es gibt in der Küche Dutzende von Krügen und Gläsern, die der Frau Rektorin gehören», antwortete Fräulein Honig, «sie werden überall in der Schule gebraucht.»

«Ich werde es nicht vergessen», sagte Lavendel. «Ich verspreche, daß ich es nicht vergesse.»

Schon begann Lavendels planender Verstand sich mit den Möglichkeiten zu befassen, die sich durch diese Wasserkrugsache für sie eröffneten. Sie war ganz versessen darauf, eine wahre Heldentat zu vollbringen. Sie betete das ältere Mädchen Hortensia fast an wegen seiner wagemutigen Streiche, die es hier in der Schule gespielt hatte. Sie bewunderte auch Matilda, die ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Papageiengeschichte erzählt hatte, die sie zu Hause durchgeführt hatte, und auch von dem großen Haarwasserstreich, dem ihr Vater die blonden Haare verdankt hatte. Jetzt war sie an der Reihe, eine Heldin zu werden, sie mußte sich nur einen fabelhaften Plan zurechtlegen.

Als sie an diesem Nachmittag von der Schule nach Hause ging, begann sie die verschiedenen Möglichkeiten zu erwägen, und als sie schließlich den Keim einer blendenden Idee erwischte, hegte und pflegte sie ihn, ließ ihn wachsen und gedeihen und arbeitete ihren Schlachtplan genauso sorgfältig aus wie der Herzog von Wellington vor der Schlacht von Waterloo. Wenn der Feind in diesem Fall auch nicht Napoleon war, so hätte man in Mahlheim Hall doch keinen getroffen, der zugegeben hätte, daß die Schulleiterin ein weniger gefährlicher Gegner als der berühmte Franzose wäre. Lavendel sagte sich, daß sie mit großem Geschick vorgehen und tiefes Schweigen bewahren müßte, wenn sie diese Unternehmung bei lebendigem Leibe überstehen wollte.

Am Ende von Lavendels Garten gab es einen verschlammten Teich, der eine Kolonie von Wassermolchen beherbergte. Der Molch, obgleich in englischen Teichen und Seen recht verbreitet, zeigt sich den Menschen nur selten, weil er ein scheues Geschöpf ist, das im Schatten lebt. Er ist ein unbeschreiblich häßliches Tier, sieht eklig aus, ungefähr wie ein Krokodilbaby, nur mit einem kürzeren Kopf. Er ist vollkommen harmlos, was man ihm aber nicht ansieht. Er ist etwa zwanzig Zentimeter lang und ziemlich glitschig, die Haut auf seinem Rücken ist grünlichgrau und die unten auf dem Bauch orangefarben. Er gehört, ganz korrekt gesagt, zu den Amphibien, die im Wasser und auf dem Trockenen leben können.

An diesem Abend ging Lavendel hinten in den Garten und war fest entschlossen, einen Molch zu fangen. Molche sind sehr flinke Tiere, und sie lassen sich nicht leicht erwischen.

Lavendel lag lange Zeit auf der Lauer und wartete geduldig, bis sie einen wahren Mordskerl ausmachte. Da schlug sie zu, indem sie ihren Schulhut als Fangnetz benutzte, und erwischte den Molch. Sie hatte ihren Griffelkasten schon vorsorglich als Behältnis für das Tier mit Gras ausgefüttert, stellte nun aber fest, daß es gar nicht so einfach war, den Molch aus dem Hut und in den Griffelkasten zu bugsieren. Er zippelte und zappelte wie Quecksilber, und der Kasten war nur so lang, daß er gerade hineinpaßte. Als sie ihn schließlich drinnen hatte, mußte sie aufpassen, daß sie ihm den Schwanz nicht einklemmte, als sie den Deckel zuschob. Ein Junge in der Nachbarschaft, der Rupert Einwinkel hieß, hatte ihr erzählt, daß der abgehackte Schwanz eines Molches lebendig blieb und aus sich heraus einen neuen Molch wachsen ließ, der zehnmal größer war als der erste. Er konnte ganz gut so groß wie ein Alligator werden. Lavendel glaubte das zwar nicht ganz, wollte jedoch dieses Risiko vermeiden.

Schließlich gelang es ihr, den Deckel des Griffelkastens richtig zuzuschieben, und damit hatte sie den Molch. Dann fiel ihr aber etwas ein, und sie schob den Deckel ein winziges bißchen auf, damit das Tier auch atmen konnte.



Am nächsten Tag transportierte sie ihre Geheimwaffe im Ranzen in die Schule. Sie platzte fast vor Aufregung. Sie hätte am liebsten Matilda in ihren ganzen Schlachtplan eingeweiht. Am allerliebsten hätte sie es der ganzen Klasse erzählt. Aber sie kam schließlich zu dem Entschluß, keinem etwas zu sagen. So war es besser, denn dann konnte keinem ihr Name entschlüpfen, selbst wenn die härteste Folter angewandt wurde.

So kam die Zeit für die Mittagspause. Es gab heute Würstchen und gebackene Bohnen, Lavendels Lieblingsessen, aber sie konnte keinen Bissen herunterbringen.

«Geht’s dir nicht gut, Lavendel?» fragte Fräulein Honig vom Tischende.

«Ich hab so viel gefrühstückt», antwortete Lavendel, «ich kann wirklich noch nichts wieder essen.»

Sofort nach dem Essen stürzte sie in die Küche und nahm sich einen der berühmten Knüppelkuh-Krüge. Es war ein großes dickes Ding aus blauglasiertem Steingut. Lavendel füllte den Krug halb mit Wasser voll, trug ihn mit einem Glas ins Klassenzimmer und stellte ihn auf den Lehrertisch. Blitzgeschwind holte Lavendel ihren Griffelkasten aus dem Ranzen und schob den Deckel nur ein klitzekleines bißchen auf. Der Wassermolch lag reglos da. Da hob sie den Kasten mit großer Vorsicht über die Schnauze des Kruges, zog den Deckel ganz und gar auf und kippte den Molch hinein. Es platschte, als er im Wasser landete, und dann fuhr er ein paar Sekunden lang wie wild herum, ehe er sich in dem Krug einrichtete. Und damit er sich dort auch richtig wie zu Hause fühlte, beschloß Lavendel, ihm auch das Grünzeug aus dem Griffelkasten ins Wasser zu geben.



Damit war die Tat getan. Alles war fertig und vorbereitet. Lavendel packte ihre Bleistifte wieder in den ziemlich feuchten Griffelkasten und stellte diesen auf seinen angestammten Platz auf ihrem eigenen Pult. Dann lief sie hinaus und gesellte sich zu den anderen auf dem Schulhof, bis es Zeit für die nächste Unterrichtsstunde war.


Wochenprüfung

Schlag zwei Uhr versammelte sich die Klasse wieder, Fräulein Honig eingeschlossen, die sich davon überzeugte, daß der Wasserkrug und das Glas an ihrem Platz standen. Dann nahm sie den ihren ein und stellte sich hinten in das Zimmer. Und schon nahte die gewaltige Gestalt der Schulleiterin in ihrem gegürteten Kittel und den grünen Kniehosen und marschierte herein.

«Guten Tag, Kinder», bellte sie.

«Guten Tag, Fräulein Knüppelkuh», zirpten sie.

Die Schulleiterin stellte sich vor der Klasse auf, Beine gespreizt, Hände auf den Hüften, und funkelte die kleinen Buben und Mädchen an, die voller Unruhe vor ihr an ihren Pulten saßen.

«Kein sehr erfreulicher Anblick», sagte sie. Ihre Miene drückte tiefsten Ekel aus, als ob sie etwas betrachtete, was ein Hund mitten auf dem Fußboden erledigt hatte. «Was seid ihr nur für eine Horde von kotzwürdigen kleinen Kröpsen.»

Alle waren vernünftig genug, um mucksmäuschenstill zu bleiben.

«Ich möchte mich übergeben», fuhr sie fort, «wenn ich nur daran denke, daß ich mich in den nächsten sechs Jahren mit so einem Haufen Müll in meiner Schule befassen muß, wie ihr es seid. Aber ich werde schon dafür sorgen, daß möglichst viele rausfliegen, und zwar ein bißchen plötzlich, sonst wär’s ja nicht zum Aushalten.» Sie hielt inne und schnaubte ein paarmal. Das war ein merkwürdiges Geräusch. Man kann die gleichen Töne hören, wenn man einmal beim Füttern durch einen Pferdestall geht. «Ich nehme an», fuhr sie fort, «daß euch eure Mütter und Väter einblasen, ihr wäret wunderbar. Also, ich bin hier, um euch das Gegenteil zu sagen, und ihr solltet lieber mir glauben. Alle Mann aufgestanden!»

Sie stellten sich geschwind auf ihre Füße.

«Jetzt die Hände nach vorne gestreckt. Und wenn ich an euch vorbeigehe, dann wünsche ich, daß ihr sie umdreht, damit ich prüfen kann, ob sie von beiden Seiten sauber sind.»

Die Knüppelkuh begann einen langsamen Marsch zwischen den Bankreihen hindurch und inspizierte die Hände. Alles ging gut, bis sie zu einem kleinen Jungen in der zweiten Reihe kam.

«Dein Name?» bellte sie.

«Nigel», antwortete der Junge.

«Nigel was?»

«Nigel Hicks», sagte der Junge.

«Nigel Hicks was?» bellte die Knüppelkuh. Sie bellte so laut, daß sie den kleinen Kerl fast durchs Fenster gepustet hätte.

«Das ist alles», antwortete Nigel, «außer Sie wollen meinen zweiten Vornamen auch noch wissen.» Er war ein tapferer kleiner Junge, und man konnte sehen, daß er versuchte, sich nicht in Angst und Schrecken versetzen zu lassen von der Menschenfresserin, die da vor ihm aufragte.

«Ich bin nicht im geringsten an deinem zweiten Vornamen interessiert, du Wanze!» bellte die Menschenfresserin. «Wie lautet mein Name?»

«Fräulein Knüppelkuh», antwortete Nigel.

«Dann benutz ihn gefälligst, wenn du mit mir sprichst! Also los, wollen wir es noch mal versuchen. Wie heißt du?»

«Nigel Hicks, Fräulein Knüppelkuh», entgegnete Nigel.

«Schon besser», knurrte die Knüppelkuh. «Deine Hände starren vor Dreck, Nigel! Wann hast du sie das letzte Mal gewaschen?»

«Also, da muß ich mal nachdenken», sagte Nigel. «Es ist ziemlich schwer, sich genau daran zu erinnern. Es könnte gestern gewesen sein, oder vielleicht auch vorgestern.»

Der ganze Körper der Knüppelkuh samt ihrem Gesicht schienen so anzuschwellen, als ob sie jemand mit der Fahrradpumpe aufgepumpt hätte. «Wußte ich’s doch!» bellte sie. «Ein Blick auf dich, und ich hab genau gewußt, daß du nichts als ein Stück Dreck bist. Was tut dein Vater, karrt er den Müll weg?»



«Er ist Arzt», antwortete Nigel, «und ein richtig guter. Er sagt, wir sind alle miteinander so voll von Bazillen, daß einem ein bißchen Extradreck auch nicht viel schadet.»

«Da bin ich nur froh, daß er nicht mein Hausarzt ist», sagte die Knüppelkuh. «Und wenn ich fragen dürfte, warum klebt dir eine gebackene Bohne vorne am Hemd?»

«Die gab’s zu Mittag, Fräulein Knüppelkuh.»

«Und schmierst du dir immer dein Mittagessen vorne aufs Hemd, Nigel? Hat dir das dein berühmter Arzt-Vater beigebracht?»

«Gebackene Bohnen lassen sich schlecht essen, Fräulein Knüppelkuh. Sie fallen mir immer von der Gabel.»

«Du bist ekelhaft!» fauchte die Knüppelkuh. «Du bist eine wandelnde Bazillenfabrik! Ich wünsche nicht, dich heute noch einmal zu sehen. Los, stell dich in die Ecke, und zwar auf einem Bein und mit dem Gesicht zur Wand!»

«Aber Fräulein Knüppelkuh...»

«Keine Widerworte, Junge. Sonst laß ich dich Kopfstand machen! Also tu, was ich dir gesagt habe!»

Nigel schlich davon.

«Jetzt bleib, wo du bist, Junge, während ich deine Rechtschreibung prüfe, um zu sehen, ob du in dieser Woche überhaupt etwas gelernt hast. Und dreh dich nicht um, wenn du mit mir sprichst. Laß dein scheußliches kleines Gesicht an der Wand. Und jetzt los, buchstabier Pferd.»

«Welches denn?» fragte Nigel. «Das, was der Wagen tut, oder das, was den Wagen zieht?» Er war zufällig ein ungewöhnlich aufgewecktes Kind, und seine Mutter hatte ihm schon zu Hause ziemlich viel Lesen und Schreiben beigebracht.

«Das, was den Wagen zieht, du Holzkopf!»

Nigel buchstabierte das Wort fehlerfrei, was die Knüppelkuh verblüffte. Sie hatte sich eingebildet, sie hätte ihm ein Wort mit besonders vielen Fußfallen gegeben, eins, das er vielleicht noch gar nicht gehabt hatte, und es verdarb ihr die Laune, daß er die Aufgabe richtig gelöst hatte.

Da sagte Nigel, der immer noch auf einem einzigen Bein balancierte und die Klassenwand anschaute: «Fräulein Honig hat uns gestern beigebracht, ein ganz langes neues Wort zu buchstabieren.»



«Und was ist das für ein Wort gewesen?» fragte die Knüppelkuh mit milder Stimme. Je milder ihre Stimme wurde, desto größer wurde die Gefahr. Aber das konnte Nigel noch nicht wissen.

«Kapuziner», antwortete Nigel, «jetzt können alle in der Klasse Kapuziner buchstabieren.»

«Was für ein Unfug!» bemerkte die Knüppelkuh. «So lange Wörter sollt ihr frühestens mit acht oder neun lernen. Du kannst mir also nicht vormachen, daß jeder in der Klasse dieses Wort buchstabieren kann. Du lügst mir ins Gesicht, Nigel.»

«Fragen Sie doch wen», sagte Nigel in einem Anfall von Tollkühnheit, «fragen Sie, wen Sie wollen.»

Die gefährlich glitzernden Augen der Knüppelkuh wanderten gemächlich durch die Klasse. «Du», sagte sie und deutete auf ein winziges und ziemlich dämliches kleines Mädchen namens Paula, «buchstabier Kapuziner.»

Verblüffenderweise buchstabierte Paula das Wort wie aus der Pistole geschossen und ohne einen Fehler.

Die Knüppelkuh war völlig baff. «Hm», schnaubte sie, «soll ich also annehmen, daß Fräulein Honig eine ganze Unterrichtsstunde vergeudet hat, nur um euch beizubringen, wie man ein einziges Wort buchstabiert?»



«O nein, ganz und gar nicht», piepste Nigel. «Fräulein Honig hat es uns in drei Minuten so beigebracht, daß wir es nie wieder vergessen. Sie hat uns viele Wörter in drei Minuten beigebracht.»

«Und worin beruht diese Zaubermethode, Fräulein Honig?» fragte die Schulleiterin.

«Ich werd’s Ihnen vormachen», piepste wieder der tapfere Nigel, um Fräulein Honig zu retten. «Darf ich bitte mein Bein wieder runternehmen und mich umdrehen, wenn ich’s Ihnen vormache?»

«Weder noch!» fuhr ihn die Knüppelkuh an. «Bleib wie du bist und wo du bist und mach’s mir trotzdem vor.»

«Na schön», antwortete Nigel, der wie betrunken auf seinem einen Bein hin und her schwankte. «Fräulein Honig bringt uns zu jedem Wort ein kleines Liedchen bei, und dann singen wir’s alle zusammen und haben im Handumdrehen das Buchstabieren gelernt. Möchten Sie vielleicht gerne unser Kapuziner-Lied hören?»

«Ich kann mich kaum zurückhalten», säuselte die Knüppelkuh mit einer Stimme, die vor Hohn und Spott nur so triefte.

«Das geht so», sagte Nigel:


«K, a – ka

p, u – pu

apu – kapu – z

apuziner Kapuziner –

Das ist nett.


So buchstabiert man Kapuziner.»

«So etwas Idiotisches!» schnaubte die Knüppelkuh. «Und so ein Durcheinander! Außerdem sollt ihr keine Gedichte lernen, wenn Rechtschreibung auf dem Stundenplan steht. Das wird in Zukunft gestrichen, Fräulein Honig.»

«Aber es hilft ihnen so gut, einige von den schwereren Wörtern richtig zu behalten», murmelte Fräulein Honig.

«Keine Widerworte, Fräulein Honig», donnerte die Schulleiterin. «Sie tun, was ich Ihnen sage! Ich werde die Klasse jetzt im Malnehmen prüfen, mal sehen, ob Fräulein Honig imstande gewesen ist, euch wenigstens in dieser Hinsicht etwas beizubringen.» Die Knüppelkuh hatte wieder ihren Platz vor der Klasse eingenommen, und ihr teuflischer Blick schweifte langsam durch die Reihen ihrer kleinen Schüler. «Du!» bellte sie und deutete auf einen kleinen Jungen namens Rupert in der ersten Reihe. «Wieviel ist zwei mal sieben?»

«Sechzehn», antwortete Rupert dummerweise, ohne richtig darüber nachzudenken.

Die Knüppelkuh begann sich langsam und auf leisen Füßen an Rupert anzuschleichen wie eine Tigerin, die ein kleines Beutetier gewittert hat. Rupert wurde sich plötzlich der drohenden Gefahr bewußt und versuchte, sich schnell zu verbessern. «Achtzehn!» schrie er. «Zwei mal sieben ist achtzehn, nicht sechzehn!»

«Du schwachsinnige kleine Schnecke!» zischte die Knüppelkuh. «Du hirnloser Hornochse! Du hohlköpfiger Hamster! Du dummerhaftiger Dreckskerl!» Sie hatte sich unterdessen direkt hinter Rupert aufgepflanzt, und plötzlich streckte sie eine Hand von der Größe eines Tennisschlägers aus und grub die Finger in Ruperts Haare. Rupert hatte einen üppigen goldblonden Haarschopf, der seiner Mutter so gut gefiel, daß sie ihn hegte und pflegte und zu ihrem eigenen Entzücken relativ lang wachsen ließ. Der Knüppelkuh waren nun langhaarige Knaben ebenso zuwider wie Mädchen mit Zöpfen und Rattenschwänzen, und sie schickte sich an, diesen Widerwillen praktisch zu beweisen. Sie ballte ihre gewaltige Faust fest in Ruperts langen goldenen Locken und hob ihren muskelstrotzenden rechten Arm, so daß der hilflose Junge schwups aus seiner Bank gehoben wurde und in der Luft schwebte.

Rupert schrie. Er zappelte und strampelte, fuhr mit den Füßen in der Luft herum und kreischte wie ein abgestochenes Schwein, während Fräulein Knüppelkuh röhrte: «Zwei mal sieben ist vierzehn! Zwei mal sieben ist vierzehn! Ich laß dich nicht los, bis du das kapiert hast!»



Aus dem Hintergrund der Klasse rief Fräulein Honig: «Fräulein Knüppelkuh! Lassen Sie ihn bitte los! Sie tun ihm doch weh! Sie können ihm die Haare ausreißen!»

«Und ob das passieren kann, wenn er so weiter zappelt!» schnaubte die Knüppelkuh. «Halt still, du winselnder Wurm!»

Es war wirklich ein ganz außerordentlicher Anblick, wie diese riesenhafte Lehrerin den kleinen Jungen hoch in der Luft baumeln ließ, während dieser wie ein Häufchen Unglück am Ende einer Strippe zu hängen und sich um sich selbst zu drehen schien und sich dabei die Seele aus dem Leibe schrie.

«Sprich mir nach!» bellte die Knüppelkuh. «Sag, zwei mal sieben ist vierzehn! Und ein bißchen Beeilung, sonst fang ich an, dich auf- und abzuschütteln, und dann reißen dir die Haare wahrscheinlich wirklich aus, und das wird reichen, um ein ganzes Sofa damit zu polstern. Also vorwärts, Junge! Sag, zwei mal sieben ist vierzehn, dann laß ich dich los!»

«Zweizweizwei... zwei mal siesie... sieben ist viervier... vierzehn», keuchte Rupert, woraufhin die Knüppelkuh, getreu ihrem Versprechen, einfach die Faust öffnete und ihn buchstäblich losließ. Er hatte noch ziemlich hoch über dem Boden geschwebt, als sie ihn befreite, und er stürzte ab, knallte auf den Boden und prallte wie ein Fußball ab und in die Höhe.

«Stell dich hin und hör auf zu heulen!» befahl die Knüppelkuh.

Rupert stand auf und ging zu seinem Pult zurück, wobei er sich mit beiden Händen den Schädel rieb. Die Knüppelkuh baute sich wieder vor der Klasse auf. Die Kinder saßen wie gebannt. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Das war eine fabelhafte Vorstellung, viel besser als eine Pantomime, allerdings mit einem großen Unterschied. Hier in diesem Zimmer ragte eine gewaltige menschliche Bombe vor ihnen auf, die in jedem Augenblick explodieren und irgendeinen in der Luft zerreißen konnte. Die Kinder ließen die Schulleiterin nicht aus den Augen. «Kleine Leute kann ich nicht ausstehen», sagte sie gerade, «kleine Leute sollten unsichtbar bleiben. Man sollte sie wie Haarnadeln und Knöpfe in Kästen sperren. Aus den Augen, aus dem Sinn. Mir ist wirklich schleierhaft, warum Kinder so lange zum Wachsen brauchen. Ich werd das Gefühl nicht los, daß sie mit Absicht so herumtrödeln.»

Ein zweiter tollkühner kleiner Junge in der ersten Bank ergriff das Wort und sagte: «Aber Sie sind doch sicher auch einmal ein kleines Kind gewesen, Fräulein Knüppelkuh, nicht wahr?»

«Ich bin niemals klein gewesen», fuhr sie ihn an, «ich bin immer schon groß gewesen, mein ganzes Leben lang. Und ich seh nicht ein, warum die andern das nicht genauso können.»

«Aber Sie müssen doch auch als Säugling angefangen haben», sagte der Junge.

«Ich! Ein Säugling!» schrie die Knüppelkuh. «Wie kannst du es nur wagen, so etwas zu behaupten! Was für eine Frechheit! Was für eine infernalische Ignoranz! Wie heißt du, Junge? Und steh auf, wenn du mit mir sprichst!»

Der Junge stand auf. «Mein Name ist Erich Tinte, Fräulein Knüppelkuh», antwortete er.

«Erich was?» rief die Knüppelkuh.

«Tinte», sagte der Junge.

«Benimm dich nicht so albern, Junge! So heißt man nicht!»

«Sie brauchen nur im Telefonbuch nachzuschlagen», sagte Erich, «da finden Sie meinen Vater unter Tinte.»

«Na gut», sagte die Knüppelkuh, «dann heißt du also Tinte, junger Mann, aber ich will dir mal etwas verraten. In der Tinte sitzt du schon, und ich werd dich in die Tinte tauchen, wenn du noch einmal versuchst, derartig unverschämt zu sein. Buchstabiere Grieß.»

«Dies?» stotterte Erich. «Was denn, wen denn?»

«Grieß, du Idiot, nicht dies! Also: Buchstabier Grieß!»

«G... R... I... S», antwortete Erich ein wenig zu hastig.

Ein unheilschwangeres Schweigen breitete sich aus.

«Du kannst es noch einmal versuchen», sagte die Knüppelkuh, ohne sich zu regen.

«Ach ja, ich weiß schon», sagte Erich. «Da muß noch ein E rein. G...R...I...E...S. Das ist ja ganz klar.»

Mit zwei gewaltigen Schritten stand die Knüppelkuh hinter Erichs Pult und blieb dort stehen, eine Salzsäule, die wie das rächende Schicksal selbst über dem hilflosen Jungen aufragte.

Erich warf über die Schulter einen ängstlichen Blick auf das Ungeheuer. «Es war doch richtig, nicht?» murmelte er unruhig.

«Falsch war’s!» krächzte die Knüppelkuh. «Du scheinst mir eine von diesen pickeligen Pockennarben zu sein, die alles falsch machen! Du sitzt falsch! Du siehst falsch aus! Du redest falsch! Du bist am ganzen Leibe falsch! Ich geb dir noch eine allerletzte Gelegenheit, es richtig zu machen. Los, buchstabier Grieß!»

Erich zögerte. Dann sagte er sehr langsam: «Es ist nicht G...R...I...S, und es ist auch nicht G...R...I...E...S. Aha, ich weiß schon. Es muß also G...R...I...E...Z sein.»

Die Knüppelkuh, die immer noch hinter Erich stand, griff sich den Jungen bei seinen beiden Ohren, wobei sie mit jeder Hand eines packte und sie zwischen Daumen und Zeigefinger zwickte und zwirbelte.

«Auatsch», rief Erich, «aua! Sie tun mir weh!»

«Damit hab ich noch gar nicht angefangen», sagte die Knüppelkuh kurz angebunden. Bei diesen Worten packte sie ihn noch fester bei den Ohren, hob ihn buchstäblich von seinem Platz und ließ ihn in der Luft schweben.



Erich heulte genauso auf wie vor ihm Rupert und schrie, daß die Wände wackelten.

Aus dem Hintergrund des Klassenraums rief Fräulein Honig:

«Nicht doch, Fräulein Knüppelkuh! Lassen Sie ihn bitte wieder los! Sie reißen ihm ja die Ohren ab!»

«Die reißen nicht ab», rief die Knüppelkuh zurück, «darin hab ich eine lange Erfahrung, Fräulein Honig, und ich habe festgestellt, daß den kleinen Jungen die Ohren ziemlich fest am Schädel sitzen.»

«Lassen Sie ihn los, Fräulein Knüppelkuh, bitte», bat Fräulein Honig, «Sie könnten ihn verletzen, ganz bestimmt. Sie könnten sie ihm abreißen!»

«Ohren sitzen bombenfest!» rief die Knüppelkuh. «Sie ziehen sich ganz erstaunlich in die Länge, wie es diese jetzt schon tun, aber abreißen, das kann ich Ihnen versichern, abreißen werden sie nie.»

Erich heulte noch lauter als zuvor und strampelte mit den Beinen in der Luft.

Matilda hatte noch niemals einen Jungen oder überhaupt einen Menschen gesehen, der nur an den Ohren in der Luft hing. Sie war genauso wie Fräulein Honig fest davon überzeugt, daß die Ohren durch das Gewicht, das an ihnen zog, in jedem Augenblick abreißen mußten.

Die Knüppelkuh schrie: «Das Wort Grieß wird G...R...I... E... S... Z geschrieben. Buchstabier’s mir nach, du Lümmel.»

Erich zögerte keine Sekunde.

Er hatte aus dem, was er vor ein paar Minuten bei Rupert beobachtet hatte, sofort die Lehre gezogen: Je schneller man antwortet, desto schneller wird man befreit. «Grieß buchstabiert man: G...R...I...E...S...Z», heulte er.

Die Knüppelkuh senkte ihn an beiden Ohren wieder auf seinen Platz hinter dem Pult. Dann marschierte sie vor die Klasse zurück und klopfte sich die Hände ab, als ob sie gerade etwas Schmutziges angefaßt hätte.

«So bringt man sie zum Lernen, Fräulein Honig», bemerkte sie. «Glauben Sie mir, es hat überhaupt keinen Zweck, wenn man es ihnen nur vorpredigt. Man muß es ihnen richtiggehend einbleuen. Es geht nichts über ein paar Kniffe und Püffe. Das hilft ihrem Gedächtnis auf die Sprünge. Das bringt sie dazu, sich prächtig zu konzentrieren.»

«Sie könnten ihnen aber einen bleibenden Schaden zufügen, Fräulein Knüppelkuh», rief Fräulein Honig aus.

Назад Дальше