«Warum nicht, Fräulein Honig?»
«Weil ich zu Hause benötigt wurde, für die ganze Arbeit.»
«Wie sind Sie denn dann Lehrerin geworden?» fragte Matilda.
«In Reading gibt es ein Lehrerinnenkolleg», sagte Fräulein Honig. «Dahin fährt man mit dem Bus nur vierzig Minuten. Ich bekam die Erlaubnis, dorthin zu fahren, allerdings nur unter der Bedingung, daß ich jeden Nachmittag geradewegs wieder nach Hause kam, um zu waschen und zu bügeln und das Haus zu putzen und das Essen zu kochen.»
«Wie alt sind Sie denn da gewesen?» fragte Matilda.
«Als ich in das Lehrerinnenkolleg ging, war ich achtzehn», antwortete Fräulein Honig.
«Sie hätten doch einfach packen und weggehen können», sagte Matilda.
«Nicht ohne eine Anstellung», sagte Fräulein Honig, «und du darfst nicht vergessen, da hatte mich meine Tante noch so unter der Fuchtel, daß ich mich gar nicht getraut hätte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man von einer sehr starken Persönlichkeit so voll und ganz beherrscht wird. Da wirst du wie ein Wackelpudding. Tja, so ist das. Nun kennst du meine trübselige Lebensgeschichte. Und jetzt hab ich genug geredet.»
«Bitte, hören Sie nicht auf», sagte Matilda, «Sie sind ja noch nicht fertig. Wie haben Sie es schließlich doch geschafft, ihr zu entkommen und in diese komische kleine Hütte zu ziehen?»
«Ah, das war vielleicht was!» sagte Fräulein Honig. «Darauf bin ich richtig stolz.»
«Erzählen!» bat Matilda.
«Nun gut», fuhr Fräulein Honig fort, «als ich also eine Stelle als Lehrerin bekam, teilte mir die Tante mit, daß ich ihr ziemlich viel Geld schuldete. Ich fragte sie warum. Sie sagte: ‹Weil ich dich jahrelang ernährt habe und weil ich dir die Schuhe und die Kleider gekauft habe!› Sie sagte mir, das sei in die Tausende gegangen, und ich müßte ihr das alles zurückzahlen, indem ich ihr in den nächsten zehn Jahren mein Gehalt gäbe. ‹Ein Pfund pro Woche gebe ich dir als Taschengeld›, sagte sie, ‹aber darüber hinaus kriegst du nichts.› Dann hat sie mit der Schulbehörde abgemacht, daß mein Geld direkt auf ihr Bankkonto überwiesen wird. Sie zwang mich, diese Erklärung zu unterschreiben.»
«Das hätten Sie aber nicht tun sollen», sagte Matilda, «das Gehalt war Ihr Schlüssel zur Freiheit.»
«Ich weiß, ich weiß», sagte Fräulein Honig, «aber ich war fast mein ganzes Leben lang von ihr abhängig gewesen, und ich hatte nicht den Mut oder den Verstand, einfach nein zu sagen. Ich hatte immer noch eine Heidenangst vor ihr. Sie konnte mir immer noch viel Böses antun!»
«Und wie haben Sie’s dann doch geschafft, ihr zu entkommen?» fragte Matilda.
«Ah», sagte Fräulein Honig und lächelte zum erstenmal, «das war vor zwei Jahren. Und es war mein größter Triumph.»
«Ach bitte, erzählen Sie», bat Matilda.
«Ich stand immer sehr früh auf und machte einen Spaziergang, während meine Tante noch schlief», sagte Fräulein Honig, «und da bin ich eines Tages auf diese Hütte gestoßen. Sie stand leer. Ich kriegte heraus, wem sie gehörte. Das war ein Bauer. Ich suchte ihn auf. Bauern stehen auch ziemlich früh auf. Er melkte gerade seine Kühe. Ich fragte ihn, ob ich dieses Häuschen mieten könnte. ‹In dieser Kate kann doch keiner leben!› rief er. ‹Die hat ja keinen Wasseranschluß und kein gar nichts!› – ‹Ich will da wohnen›, sagte ich, ‹ich bin eine Romantikerin. Ich hab mich in die Kate verliebt. Bitte vermieten Sie sie mir.› – ‹Bei Ihnen piept’s wohl›, sagte er, ‹aber wenn Sie drauf beharren, na, dann bitte schön. Die Miete beträgt zehn Pence pro Woche.› – ‹Hier haben Sie eine Monatsmiete im voraus›, sagte ich und gab ihm vierzig Pence, ‹und auch herzlichen Dank!›»
«Das ist ja super!» rief Matilda. «Da haben Sie ganz plötzlich ein Häuschen für sich gehabt! Aber woher haben Sie den Mut genommen, es Ihrer Tante beizubringen?»
«Das war ein harter Brocken», sagte Fräulein Honig, «aber ich habe mich dafür gerüstet. Eines Abends habe ich ihr zuerst das Essen gekocht, und dann bin ich hinaufgegangen und hab die paar Sachen, die mir gehörten, in einen Karton gepackt und bin wieder nach unten gegangen und hab verkündet, daß ich sie verlasse. ‹Ich habe ein Haus gemietet›, hab ich gesagt. Meine Tante ist explodiert. ‹Ein Haus gemietet!› hat sie geschrien. ‹Wie kannst du ein Haus mieten, wenn du nur ein Pfund in der Woche zur Verfügung hast?› – ‹Ich hab’s getan›, hab ich gesagt. ‹Und wovon willst du dir das Essen kaufen?› – ‹Das schaff ich schon›, hab ich gemurmelt, und dann bin ich aus der Haustür gestürzt.»
«Das war aber tüchtig!» rief Matilda. «So sind Sie schließlich doch frei gekommen!»
«Ja, schließlich war ich frei», sagte Fräulein Honig. «Ich kann dir nicht sagen, wie wunderbar das war.»
«Und Sie haben es wirklich geschafft, hier zwei Jahre lang nur mit einem Pfund pro Woche auszukommen?» fragte Matilda.
«Und ob ich das geschafft habe», sagte Fräulein Honig. «Zehn Pence zahle ich als Miete, und der Rest reicht gerade aus, für meinen Kocher und für meine Lampe Paraffin zu kaufen und dann noch ein bißchen Milch und Tee, Brot und Margarine. Mehr brauche ich wirklich nicht. Und wie ich dir schon gesagt habe, mittags in der Schule lang ich tüchtig zu.»
Matilda starrte sie an. Wie war Fräulein Honig doch tapfer gewesen. Sie wurde in Matildas Augen plötzlich zur Heldin. «Ist es hier im Winter nicht schrecklich kalt?» fragte sie.
«Ich hab ja meinen kleinen Paraffin-Ofen», sagte Fräulein Honig. «Du wärst ganz erstaunt, wie mollig ich es mir hier drinnen machen kann.»
«Haben Sie denn ein Bett, Fräulein Honig?»
«Genaugenommen eigentlich nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte wieder, «aber man sagt ja, es sei gesund, hart zu schlafen.»
Plötzlich war Matilda imstande, die ganze Situation in absoluter Klarheit zu erkennen. Fräulein Honig brauchte Hilfe. Sie konnte so nicht weiter existieren, nicht unbegrenzt lange. «Sie würden viel besser zurechtkommen, Fräulein Honig», sagte sie, «wenn Sie Ihre Stelle aufgeben und Arbeitslosengeld beziehen.»
«Ich denke gar nicht daran», sagte Fräulein Honig, «ich unterrichte für mein Leben gern.»
«Und diese gräßliche Tante», sagte Matilda, «wohnt sie immer noch in Ihrem schönen alten Haus?»
«Das kann man wohl sagen», entgegnete Fräulein Honig. «Sie ist erst gerade über Fünfzig. Sie hat wohl noch eine ziemlich lange Zeit vor sich.»
«Und glauben Sie wirklich, daß Ihr Vater ihr das Haus zugedacht hat?»
«Ich bin fest davon überzeugt, daß er das nicht getan hat», antwortete Fräulein Honig. «Eltern räumen einem Vormund oft das Recht ein, das Haus für eine bestimmte Zeit zu bewohnen, aber der kann es immer nur für das Kind verwalten. Wenn dieses Kind volljährig wird, geht es in seinen oder ihren Besitz über.»
«Dann muß es doch noch Ihr Haus sein?» fragte Matilda.
«Das Testament meines Vaters ist nie gefunden worden», sagte Fräulein Honig. «Es sieht so aus, als ob es jemand vernichtet hätte.»
«Dreimal darf ich raten wer», sagte Matilda.
«Einmal reicht», meinte Fräulein Honig.
«Aber wenn es kein Testament gibt, Fräulein Honig, dann müßte das Haus doch automatisch an Sie fallen. Sie sind doch die nächste Verwandte.»
«Das weiß ich», sagte Fräulein Honig, «aber meine Tante konnte einen Zettel vorweisen, der vermutlich von meinem Vater stammte. Auf dem stand, er wolle das Haus seiner Schwägerin vererben zum Dank dafür, daß sie sich so freundlich um mich gekümmert hätte. Ich bin sicher, das war eine Fälschung. Aber beweisen kann es keiner.»
«Könnten Sie es nicht versuchen?» fragte Matilda. «Könnten Sie nicht einen guten Rechtsanwalt nehmen und darum kämpfen?»
«Dafür habe ich kein Geld», sagte Fräulein Honig, «und du darfst auch nicht vergessen, daß diese Tante von mir eine hochgeachtete Persönlichkeit in der Stadt ist. Sie besitzt einen beträchtlichen Einfluß.»
«Wer ist sie denn?» fragte Matilda.
Fräulein Honig zögerte einen Augenblick. Dann sagte sie leise: «Fräulein Knüppelkuh.»
Die Namen
«Fräulein Knüppelkuh!» schrie Matilda und hüpfte auf einem Fuß im Kreise. «Wollen Sie behaupten, das wär Ihre Tante? Die hat Sie aufgezogen?»
«Ja», sagte Fräulein Honig.
«Kein Wunder, daß Sie soviel Angst hatten!» rief Matilda. «Gestern hab ich gesehen, wie sie ein Mädchen bei den Zöpfen packte und über den Zaun vom Schulhof schleuderte!»
«Da hast du noch gar nichts gesehen», sagte Fräulein Honig. «Nach dem Tod meines Vaters, als ich fünfeinhalb Jahre alt war, befahl sie mir meistens, alleine zu baden. Und wenn sie heraufkam und dachte, ich hätte mich nicht ordentlich gewaschen, dann drückte sie mir den Kopf unter Wasser und hielt mich so fest. Aber ich will gar nicht damit anfangen, was sie noch für Gewohnheiten hatte. Das wird uns überhaupt nicht weiterhelfen.»
«Nein», sagte Matilda, «das hilft nichts.»
«Wir sind hierhergekommen», sagte Fräulein Honig, «um über dich zu sprechen, und jetzt hab ich die ganze Zeit nur über mich geredet. Ich komme mir ganz albern vor. Ich möchte wirklich viel lieber wissen, was du alles mit deinen erstaunlichen Augen ausrichten kannst.»
«Ich kann Gegenstände bewegen», antwortete Matilda, «das weiß ich bestimmt. Und ich kann Gegenstände umkippen.»
«Was würdest du denn davon halten», sagte Fräulein Honig, «wenn wir in aller Vorsicht ein paar Experimente durchführten, einfach um festzustellen, wieviel du in Bewegung setzen und umkippen kannst?»
Zu ihrer Überraschung erwiderte Matilda: «Wenn Sie nichts dagegen haben, Fräulein Honig, würde ich das, glaube ich, lieber nicht tun. Ich möchte jetzt nach Hause gehen und nachdenken, über alles nachdenken, was ich heute nachmittag gehört habe.»
Fräulein Honig stand sofort auf. «Natürlich», sagte sie, «ich habe dich viel zu lange hier bei mir behalten. Deine Mutter wird schon anfangen, sich Sorgen zu machen.»
«Das macht sie nie», erwiderte Matilda und lächelte, «aber ich würde jetzt trotzdem gern nach Hause gehen, wenn’s Ihnen recht ist.»
«Also dann komm», sagte Fräulein Honig. «Es tut mir leid, daß du nur so einen erbärmlichen Tee bekommen hast.»
«Überhaupt nicht», sagte Matilda, «ich fand es schön.»
Die beiden legten die ganze Strecke bis zu Matildas Haus in tiefem Schweigen zurück. Fräulein Honig spürte, daß es Matilda so am liebsten hatte. Das Kind schien so in Gedanken versunken zu sein, daß es kaum darauf achtete, wohin es ging, und als sie die Gartentür von Matildas Haus erreicht hatten, sagte Fräulein Honig: «Du vergißt am besten alles, was ich dir heute nachmittag erzählt habe.»
«Das kann ich nicht versprechen», sagte Matilda, «aber ich verspreche, daß ich mit keinem darüber reden werde, nicht einmal mit Ihnen.»
«Das wäre, glaube ich, sehr klug», sagte Fräulein Honig.
«Ich kann aber nicht versprechen, daß ich aufhöre, darüber nachzudenken, Fräulein Honig», fuhr Matilda fort. «Ich habe auf dem ganzen Rückweg von Ihrem Häuschen darüber nachgedacht, und ich glaube, ich habe einen allerersten, winzigen Anfang von einer Idee.»
«Das sollst du nicht», sagte Fräulein Honig, «bitte streich das alles aus deinem Gedächtnis.»
«Ich würde Ihnen gerne noch drei allerletzte Fragen stellen, ehe ich nicht mehr davon rede», sagte Matilda. «Ob Sie mir die bitte beantworten, Fräulein Honig?»
Fräulein Honig lächelte. Es war schon etwas ganz Besonderes, sagte sie sich, wie dieses winzige Wesen sich plötzlich ihrer Probleme annahm, und noch dazu mit einer solchen Autorität. «Also», antwortete sie, «das hängt davon ab, was das für Fragen sind.»
«Die erste Frage lautet», sagte Matilda, «wie nannte Fräulein Knüppelkuh Ihren Vater, wenn sie bei sich zu Hause waren?»
«Ich bin sicher, daß sie Magnus zu ihm sagte», antwortete Fräulein Honig, «das war sein Rufname.»
«Und wie nannte Ihr Vater Fräulein Knüppelkuh?»
«Sie heißt Agatha», sagte Fräulein Honig, «und so wird er sie wohl auch genannt haben.»
«Und als letztes», sagte Matilda, «wie sind Sie von Ihrem Vater und von Fräulein Knüppelkuh zu Hause genannt worden?»
«Sie sagten Florentine zu mir», antwortete Fräulein Honig.
Matilda dachte konzentriert über diese Antworten nach. «Ich möchte sicher sein, daß ich alles richtig behalten habe», sagte sie, «bei Ihnen daheim war Ihr Vater Magnus, Fräulein Knüppelkuh Agatha und Sie selber Florentine. Ist das richtig?»
«Das stimmt», sagte Fräulein Honig.
«Danke schön», sagte Matilda, «und jetzt werde ich dieses Thema nie mehr anschneiden.»
Fräulein Honig hätte zu gern gewußt, was im Kopf dieses Kindes vorgehen mochte. «Tu aber nichts Unbedachtes», sagte sie.
Matilda lachte, wandte sich ab, rannte den Weg zu ihrer Haustür entlang und rief dabei: «Auf Wiedersehen, Fräulein Honig! Und vielen Dank für den Tee.»
Die praktische Übung
Matilda fand das Haus wie üblich leer und verlassen vor. Ihr Vater war noch nicht von der Arbeit zurück, ihre Mutter noch nicht vom Bingo, und wo sich ihr Bruder herumtrieb, mochte der Himmel wissen. Sie ging geradewegs ins Wohnzimmer und zog die Schublade der Anrichte auf, in der, wie sie wußte, ihr Vater eine Kiste Zigarren aufhob. Sie nahm sich eine heraus, trug sie in ihr Schlafzimmer hinauf und schloß die Tür hinter sich zu. Jetzt also die praktische Übung, sagte sie sich. Es wird ganz schön haarig sein, aber ich bin fest entschlossen, es muß klappen.
Ihr Hilfsplan für Fräulein Honig begann in ihrer Vorstellung die schönsten Formen anzunehmen. Sie hatte ihn schon fast in allen Einzelheiten fertig, aber am Ende hing alles davon ab, ob sie imstande sein würde, eine einzige spezielle Sache mit ihrer Augenkraft zu schaffen. Sie wußte genau, daß sie es nicht auf Anhieb zustande brächte, aber sie vertraute fest darauf, daß es ihr mit der erforderlichen Übung und Hartnäckigkeit am Ende schon gelingen würde. Die Zigarre spielte dabei eine wesentliche Rolle. Sie war vielleicht etwas dicker, als sie sie gern gehabt hätte, aber das Gewicht war genau richtig. Sie würde gut mit ihr üben können.
In Matildas Schlafzimmer stand ein kleiner Frisiertisch, auf dem ihr Kamm und ihre Bürste lagen und zwei Bücher aus der Bibliothek. Sie räumte diese Gegenstände beiseite und legte statt dessen die Zigarre mitten auf den Frisiertisch. Dann ging sie ein paar Schritte weg und ließ sich am Fußende ihres Betts nieder. Sie war jetzt etwa drei Meter von der Zigarre entfernt.
Sie setzte sich zurecht und begann sich zu konzentrieren, und diesmal spürte sie sehr rasch, wie die Elektrizität in ihrem Kopf zu strömen begann, sich hinter den Augen zusammenballte, wie die Augen heiß wurden und wie Millionen von unsichtbaren winzigen Händen wie Funken gegen die Zigarre zu stieben und zu stoßen begannen. «Beweg dich!» flüsterte sie, und zu ihrer namenlosen Verblüffung rollte die Zigarre mit ihrer kleinen rotgoldenen Bauchbinde aus Papier fast sofort quer über den Frisiertisch und kullerte auf den Teppich.
Das machte Matilda Spaß. Sie genoß diese Übung. Sie hatte das Gefühl gehabt, als ob ihr im Kopf Funken im Kreise herumgejagt und aus den Augen geschossen wären. Das hatte ihr ein Gefühl der Macht verliehen, das fast unirdisch war. Und wie schnell es diesmal geklappt hatte! Wie einfach es gewesen war!
Sie durchquerte das Schlafzimmer, hob die Zigarre auf und legte sie wieder auf den Tisch.
So, jetzt also zum schwierigen Teil, dachte sie. Denn wenn ich die Kraft zum Schieben habe, muß ich doch auch sicher die zum Heben haben. Das Allerwichtigste ist, daß ich lerne, wie man hebt. Ich muß unter allen Umständen lernen, wie sie sich in die Luft heben und dort halten läßt. Es ist ja nichts sehr Schweres, so eine Zigarre.
Sie setzte sich wieder aufs Fußende des Betts und fing von vorn an. Es fiel ihr jetzt leicht, die Kraft hinter den Augen zu sammeln.
Es war, als drückte man auf einen Auslöser im Gehirn. «Heb dich in die Höhe!» flüsterte sie. «Hoch! Hoch!»
Zuerst fing die Zigarre wieder an herumzukullern. Doch dann, weil sich Matilda wie verrückt konzentrierte, hob sich das eine Ende der Zigarre ganz langsam vom Tisch, vielleicht zwei oder drei Zentimeter hoch. Mit einer kolossalen Kraftanstrengung schaffte sie es, sie so etwa zehn Sekunden zu halten. Dann fiel sie wieder zurück.
«Puh!» keuchte sie. «Aber ich hab’s! Ich fang an, es zu schaffen!»
In der nächsten Stunde übte Matilda ununterbrochen, und schließlich gelang es ihr, die ganze Zigarre nur durch die Kraft ihrer Augen etwa zwanzig Zentimeter vom Tisch hoch in die Luft zu heben und sie dort fast eine Minute lang in der Schwebe zu halten. Danach war sie plötzlich so erschöpft, daß sie rückwärts aufs Bett fiel und sofort einschlief.
So fand sie ihre Mutter später am Abend.
«Was ist denn los mit dir?» sagte sie und weckte sie auf. «Bist du krank?»
«Ach, Quatsch», sagte Matilda, richtete sich auf und schaute sich um. «Nein, mir geht’s gut. Ich war ein bißchen müde, das ist alles.»
Von da an schloß sich Matilda jeden Tag nach der Schule in ihrem Zimmer ein und übte mit der Zigarre. Und bald entwickelte sich alles aufs beste. Sechs Tage später, also am folgenden Mittwochnachmittag, war sie nicht nur imstande, die Zigarre in die Luft zu heben, sondern konnte sie auch ganz nach Belieben hin und her bewegen. Es war wunderbar. «Ich kann’s!» schrie Matilda. «Ich kann es wirklich! Ich kann die Zigarre mit meiner Augenkraft einfach aufheben und so durch die Luft stoßen und schieben, wie ich will!»
Jetzt mußte sie ihren großen Plan nur noch in Gang setzen.
Das dritte Wunder
Der folgende Tag war Donnerstag, also der Tag, wie die ganze Klasse von Fräulein Honig wußte, an dem die Schulleiterin die erste Unterrichtsstunde nach der Mittagspause zu übernehmen pflegte.
Am Morgen hatte Fräulein Honig zu ihnen gesagt: «Einigen von euch hat es neulich nicht besonders gefallen, als die Frau Rektorin die Klasse übernommen hatte. Deshalb wollen wir heute alle versuchen, uns besonders vorsichtig und vernünftig zu betragen. Was machen denn deine Ohren, Erich, nach diesem letzten Zusammentreffen mit Fräulein Knüppelkuh?»
«Sie hat sie ausgeleiert», antwortete Erich. «Meine Mutter hat gesagt, sie sind ganz bestimmt länger als vorher.»
«Und Rupert?» sagte Fräulein Honig. «Ich bin sehr erleichtert, weil ich sehe, daß du seit dem letzten Donnerstag keine Haare mehr gelassen hast.»
«Mein Kopf hat aber danach ganz schön gebrannt», antwortete Rupert.
«Und du, Nigel», fuhr Fräulein Honig fort, «versuch heute bitte nicht wieder, der Frau Rektorin so schlau zu kommen. Du bist in der vergangenen Woche ganz schön frech gewesen.»
«Ich kann sie nicht ausstehen», antwortete Nigel.
«Zeig das lieber nicht so deutlich», sagte Fräulein Honig, «es zahlt sich nicht aus. Sie ist eine sehr kräftige Frau. Sie hat Muskeln wie Stahltrossen.»
«Ich wünschte, ich wäre schon groß», sagte Nigel, «dann würde ich sie umhauen.»
«Ich möchte bezweifeln, daß dir das gelänge», sagte Fräulein Honig, «bis jetzt hat sie noch keiner bezwungen.»
«Was wird sie uns denn heute nachmittag fragen?» erkundigte sich ein kleines Mädchen.
«Wohl sicherlich das Einmaldrei», antwortete Fräulein Honig. «Das habt ihr ja alle seit voriger Woche lernen sollen. Sorgt also dafür, daß ihr es könnt.»
Die Mittagspause kam und ging vorüber.
Nach dem Essen versammelte sich die Klasse wieder. Fräulein Honig stellte sich seitlich auf, die Kinder nahmen schweigend die Plätze ein und begannen voll Angst zu warten. Und dann brach die gewaltige Knüppelkuh in ihren grünen Hosen und dem Baumwollkittel wie ein Riesenweib aus der Urwelt in die Klasse ein. Sie marschierte geradewegs zu ihrem Wasserkrug, packte ihn am Griff, hob ihn auf und spähte mißtrauisch hinein.
«Ich bin entzückt», sagte sie, «daß diesmal keine schleimigen Geschöpfe in meinem Trinkwasser schwimmen. Hätten sie es getan, so wäre jedem einzelnen Kind in dieser Klasse etwas besonders Unangenehmes zugestoßen. Und das hätte Sie mit eingeschlossen, Fräulein Honig.»
Die Klasse verhielt sich mucksmäuschenstill, alle saßen angespannt da. Sie hatten diese Tigerin unterdessen ein wenig kennengelernt, und keiner wollte sie reizen. «Also gut», dröhnte die Knüppelkuh, «wollen wir mal sehen, wie gut ihr euer Einmaldrei beherrscht. Oder andersherum, wollen mal sehen, wie miserabel euch Fräulein Honig das Einmaldrei beigebracht hat.» Die Knüppelkuh stand vor der Klasse, Beine breit, Hände auf den Hüften, und warf einen finsteren Blick auf Fräulein Honig, die schweigend an der Seite stand.
Matilda, die vollkommen reglos auf ihrem Platz in der zweiten Reihe saß, verfolgte alles sehr genau.
«Du!» schrie die Knüppelkuh und deutete mit einem Finger von der Größe einer Nudelrolle auf einen Jungen namens Wilfred. Wilfred saß ganz vorn an der äußersten rechten Seite der Bankreihe.
«Steh auf, du!» schrie sie ihn an.
Wilfred stand auf.
«Sag das Einmaldrei rückwärts auf!» bellte die Knüppelkuh.
«Rückwärts?» stammelte Wilfred. «Aber rückwärts hab ich’s nicht geübt.»
«Seht ihr!» schrie die Knüppelkuh triumphierend. «Nichts hat sie euch beigebracht! Fräulein Honig, warum haben Sie ihnen in der letzten Woche nichts, überhaupt nichts beigebracht?»
«Das ist nicht wahr, Frau Rektorin», sagte Fräulein Honig, «sie haben ihr Einmaldrei gelernt. Aber ich sehe keinen Sinn darin, es ihnen rückwärts beizubringen. Es hat überhaupt keinen Sinn, jemandem etwas verkehrt herum beizubringen. Das ganze Leben, Frau Rektorin, ist darauf gerichtet vorwärtszuschreiten. Ich wage auch zu bezweifeln, ob selbst Sie ein so einfaches Wort wie zum Beispiel Kreuzworträtsel so ohne weiteres rückwärts buchstabieren könnten. Das möchte ich wirklich bezweifeln.»
«Werden Sie mir nicht frech, Fräulein Honig!» fauchte sie die Knüppelkuh an und wandte sich dann wieder dem unglückseligen Wilfred zu. «Also gut, Junge», sagte sie, «dann antworte mir auf diese Frage: Ich habe sieben Äpfel, sieben Apfelsinen und sieben Bananen. Wie viele Früchte habe ich dann insgesamt? Und jetzt hopp, hopp, schieß los! Raus mit der Antwort!»
«Aber das ist Zusammenzählen!» schrie Wilfred. «Das ist nicht das Einmaldrei!»
«Du hirnrissiger Idiot!» schrie die Knüppelkuh. «Du verschimmelter Pilz! Du stinkender Gummifurz! Und ob das das Einmaldrei ist! Du hast drei Mengen von Früchten, und jede Menge besteht aus sieben Stück. Drei mal sieben ist einundzwanzig. Kannst du das nicht kapieren, du modriger Moormops? Ich werde dir noch eine allerletzte Chance geben. Ich habe acht Kokosnüsse, acht Erdnüsse und acht so taube Nüsse, wie du eine bist. Wie viele Nüsse habe ich insgesamt? Also – her mit der Antwort, flink, flink.»
Der arme Wilfred war vollkommen durcheinander. «Moment!» winselte er. «Bitte warten Sie! Ich muß also acht Kokosnüsse und acht Erdnüsse zusammenzählen...» Er fing an, das an seinen Fingern abzuzählen.
«Du picklige Pestbeule», schrie die Knüppelkuh mit gellender Stimme, «du mottenzerfressener Murks! Hier wird nicht zusammengezählt! Hier wird multipliziert! Also drei mal acht! Oder vielleicht acht mal drei? Was ist der Unterschied zwischen drei mal acht und acht mal drei? Antworte mir, du spilleriger Wurzelzwerg, aber paß bloß auf!»
Unterdessen war Wilfred so verschreckt und verstört, daß er kein Wort mehr herausbrachte.
In zwei gewaltigen Schritten war die Knüppelkuh neben ihm, und mit einem einzigen fabelhaften Turnertrick – es konnte genausogut Judo wie Karate gewesen sein – kickte sie mit einem Fuß so gegen Wilfreds Waden, daß der Junge steil in die Höhe schoß und in der Luft einen Salto schlug. Aber mitten in diesem Schwung erwischte sie ihn am Fußgelenk und hielt ihn so fest, daß er wie ein gerupftes Huhn in der Auslage eines Wild- und Geflügelladens mit dem Kopf nach unten baumelte.
«Acht mal drei», rief die Knüppelkuh und ließ Wilfred am Fußgelenk hin und her pendeln, «acht mal drei ist dasselbe wie drei mal acht, und drei mal acht ist vierundzwanzig! Wiederhole mir das!»
Genau in diesem Augenblick sprang Nigel am anderen Ende des Klassenzimmers auf die Füße, fing an, wie verrückt auf die Tafel zu deuten, und schrie: «Die Kreide! Die Kreide! Schaut euch doch die Kreide an! Sie bewegt sich von ganz alleine!»
Nigels Geschrei klang so hysterisch und schrill, daß alle, selbst die Knüppelkuh, zur Tafel blickten. Und wahrhaftig, dort schwebte ein funkelnagelneues Stück Kreide dicht vor der grauschwarzen Schreibfläche der Tafel.
«Sie schreibt was!» kreischte Nigel. «Die Kreide schreibt was!»
Und wirklich, sie schrieb etwas.
«Was zum Donnerwetter soll denn das?» heulte die Knüppelkuh.
Sie hatte einen Schreck gekriegt, weil sie sah, wie ihr eigener Vorname von einer unsichtbaren Hand an die Tafel geschrieben wurde. Sie ließ Wilfred einfach fallen und schrie, ohne jemand besonderen zu meinen: «Wer macht das denn? Wer schreibt denn da?»
Die Kreide fuhr fort zu schreiben:
Alle Kinder in der Klasse hörten das Keuchen, das aus der Kehle der Knüppelkuh drang. «Nein!» schrie sie. «Das kann nicht sein! Das kann nicht Magnus sein!»
Fräulein Honig warf von ihrer Seite aus einen raschen Blick auf Matilda. Das Kind saß kerzengerade an seinem Pult, den Kopf hochgereckt, den Mund zusammengekniffen, die Augen so funkelnd wie zwei Sterne.
Aus irgendeinem Grund schauten alle die Knüppelkuh an. Das Gesicht der Frau war weiß wie Schnee geworden. Ihr Mund klappte auf, sie schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft und keuchte unablässig, als ob sie erstickte.
Die Kreide hörte auf zu schreiben. Sie schwebte noch ein paar Augenblicke in der Luft, dann fiel sie plötzlich auf den Boden, klirrte und brach in zwei Stücke.
Wilfred, der es unterdessen geschafft hatte, sich wieder auf seinen Platz in der ersten Reihe zu setzen, schrie auf: «Fräulein Knüppelkuh ist umgefallen! Fräulein Knüppelkuh liegt auf dem Boden!»
Das war die sensationellste Neuigkeit überhaupt, und die ganze Klasse sprang auf, um diesen Anblick voll und ganz zu genießen. Denn da lag sie, die gewaltige Gestalt der Schulleiterin, in voller Länge rücklings auf den Fußboden gestreckt, erledigt und kampfunfähig.
Fräulein Honig stürzte nach vorn und ließ sich neben der gefällten Riesin auf die Knie nieder. «Sie hat das Bewußtsein verloren!» rief sie. «Sie ist hinüber! Einer von euch muß sofort loslaufen und die Hausmutter holen.»
Drei Kinder auf einmal stürzten aus der Klasse.
Nigel, der immer etwas zu tun haben mußte, sprang auf und packte den großen Wasserkrug. «Mein Vater sagt, kaltes Wasser ist das beste, wenn man wen wieder aufwecken will, der umgekippt ist», sagte er und goß bei diesen Worten den gesamten Inhalt des Wasserkrugs der Knüppelkuh auf den Kopf. Niemand protestierte, nicht einmal Fräulein Honig.
Was Matilda anbelangte, sie blieb reglos an ihrem Pult sitzen. Sie fühlte sich merkwürdig leicht. Ihr kam vor, als hätte sie etwas berührt, was nicht ganz von dieser Welt war, den höchsten Punkt des Himmels, den fernsten Stern. Sie hatte fast wie ein Wunder gespürt, wie sich die Kraft hinter ihren Augen sammelte, wie sie ihr wie ein warmer Strom durch den Kopf floß, ihre Augen waren glühendheiß geworden, heißer denn je, und es war aus ihren Augenhöhlen herausgeschossen, daß sich die Schulkreide ganz von allein gehoben und angefangen hatte zu schreiben. Ihr war so, als hätte sie selber kaum etwas getan, alles war ganz einfach gewesen.