Justiz - Фридрих Дюрренматт 10 стр.


«Dr. Benno«, sagte ich,»wo sind Sie gewesen? Die Presse sucht Sie überall.»

«Egal, wo ich gewesen bin«, keuchte er.»Spät, lassen Sie den Prozeß sein. Ich bitte Sie.»

«Welchen Prozeß, Dr. Benno?«fragte ich.

«Den Sie gegen mich anstrengen«, sagte er heiser.

Ich schüttelte den Kopf.»Niemand strengt einen Prozeß gegen Sie an, Dr. Benno«, erklärte ich.

«Sie lügen«, schrie er.»Sie lügen! Sie haben gegen mich Lienhard eingesetzt, Fanter, Schönbächler, Feuchting. Und die Presse haben Sie auch auf mich gehetzt. Sie wissen, daß ich ein Motiv gehabt hätte, Winter zu erschießen.»

«Kohler hat es getan«, antwortete ich.

«Das glauben Sie ja selber nicht. «Er zitterte am ganzen Leib.

«Kein Mensch zweifelt daran«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Benno starrte mich an, trocknete sich mit einem schmutzigen Taschentuch die Stirn,»Sie werden mir den Prozeß machen«, sagte er leise.»Ich bin verloren, ich weiß es, ich bin verloren.»

«Aber, Dr. Benno«, antwortete ich.

Er wankte zur Tür, öffnete sie langsam und ging, ohne sich weiter um mich zu kümmern.

Das Alibi: Wurde wieder unterbrochen. Das Schicksal schlug zu. Diesmal durch Lucky. In seiner Begleitung ein Subjekt, das er mir als den» Marquis «vorstellte. (Indem ich als Schreibender aus dem unheilvollen Geschehen herausgetreten bin, worin ich mich als Handelnder verstrickte, habe ich Farbe zu bekennen: In einer verbrecherischen Welt bin ich selbst ein Verbrecher geworden: Ihrer Zustimmung zu dieser Feststellung, Herr Staatsanwalt, bin ich sicher, mit der Einschränkung freilich, daß ich auch Sie, samt der Gesellschaft, die sie von Amts wegen vertreten, zu dieser verbrecherischen Welt zähle, und nicht nur Lucky, den Marquis und mich.) Was das menschenähnliche Subjekt betrifft, so war es aus Neuchâtel hergespült worden. Samt einem offenen Jaguar. Eine Visage mit einem Lächeln, als käme der Kerl aus Caux, mit Manieren, als würde er Luxusseife verkaufen. Es ging gegen zehn nachts. Es war Sonntag (diesen Bericht schreibe ich Ende Juli 1958, schwacher Versuch, Ordnung in meine Papiere zu bringen). Draußen war ein Gewitter gewesen, ungeheure krachende Entladungen, der Regen rauschte noch, doch ohne Erleichterung zu bringen, es war schwül und dumpf. Unter mir dröhnten die Psalmen» Sinke, Welt, in Christi Arm, gehe fröhlich unter «und» Heiliger Geist, mit Blitz und Knall auf uns Sünder niederfall«. Lucky zupfte etwas geniert an seinem Schnurrbärtchen herum, schien mir leicht nervös, auch wiesen seine Apostelaugen einen grüblerischen Schimmer auf, den ich vorher noch nie an ihnen wahrgenommen hatte: Lucky dachte offenbar nach. Die beiden hatten Regenmäntel an, die jedoch so gut wie trocken waren.

«Wir brauchen ein Alibi«, sagte Lucky kleinlaut,»der Marquis und ich. Für die letzten zwei Stunden.»

Der Marquis lächelte salbungsvoll.

«Und vor zwei Stunden?«fragte ich.

«Da ist unser Alibi bombensicher«, beteuerte Lucky und sah mich lauernd an.»Wir waren mit Giselle und Madeleine im >Monaco<.»

Der Marquis nickte bestätigend.

Ich wollte wissen, ob sie unbemerkt zu mir gekommen seien. Lucky war wie immer Optimist.»Erkannt hat uns niemand«, behauptete er.»Da sind Schirme praktisch.»

Ich überlegte.»Wo habt ihr die Schirme?«fragte ich dann, erhob mich von meinem Schreibtischsessel und schloß meine Papiere ein.

«Drunten. Wir haben sie hinter die Kellertür gestellt.»

«Gehören sie euch?»

«Wir haben sie gefunden.»

«Wo?»

«Auch im >Monaco<.»

«Ihr habt sie also vor zwei Stunden mitlaufen lassen?»

«Es hat geregnet.»

Lucky spürte besorgt, daß mich seine Antworten nicht begeisterten. Er holte hoffnungsvoll aus seinem Mantel eine Flasche Cognac Napoleon, und auch der Marquis zauberte eine solche auf den Schreibtisch.

«Schön«, nickte ich,»das sind menschlichere Züge.»

Dann legten die beiden je einen Tausenderlappen hin.

«Wir sind splendide Geschäftsleute«, stellte Lucky fest.

Ich schüttelte den Kopf.»Mein lieber Lucky«, bedauerte ich,»wegen einer falschen Aussage sitze ich prinzipiell nicht.»

«Begriffen«, sagte Lucky.

Die beiden stifteten noch je einen Tausender.

Ich ließ mich nicht erweichen.»Die Geschichte mit den Schirmen ist zu blöd«, stellte ich fest.

«Die Polizei sucht uns ja nicht der Schirme wegen«, wandte Lucky ein, doch war es ihm dabei sichtlich nicht geheuer.

«Aber sie könnte euch der Schirme wegen auf die Spur kommen«, gab ich zu bedenken.

«Kapiert«, sagte Lucky.

Die beiden opferten wieder je einen Tausender.

Ich staunte.»Ihr seid wohl Millionäre geworden?»

«Man hat so seine Einkünfte«, sagte Lucky.»Wenn wir den Rest bekommen, hauen wir ab. Ins Ausland.»

«Welchen Rest?»

«Den Rest vom Honorar«, erklärte der Marquis.

«Von welchem Honorar?«fragte ich mißtrauisch.

«Für einen Auftrag, den wir erledigt haben«, präzisierte Lucky.»Sind wir in Nizza, übergebe ich dir Giselle und Madeleine.»

«Ich überlasse Ihnen meine Mädchen«, versicherte der Marquis.»Neuchâtel ist praktisch.»

Ich prüfte die Scheine sorgfältig, faltete sie zusammen und steckte sie in die hintere Hosentasche. Lucky wollte Genaueres berichten, doch ich unterbrach ihn:»Ein für allemal: weshalb ihr das Alibi braucht, will ich nicht wissen.»

«Pardon«, entschuldigte sich Lucky.

«Rückt mal eure Zigaretten raus«, befahl ich dann.

Lucky war mit Zigaretten vollgestopft: Camel, Dunhill, Black and White, Super King, Piccadilly. Die Pakete häuften sich auf dem Schreibtisch.

«Eine Freundin hat einen Kiosk«, entschuldigte er sich.

«Und was raucht der Herr Marquis?»

«Nur selten«, lispelte der verlegen.

«Du hast keine Zigaretten bei dir?»

Der Marquis schüttelte den Kopf.

Ich setzte mich wieder hinter den Schreibtisch. Wir mußten handeln.

«Jetzt rauchen wir eine halbe Stunde lang«, ordnete ich an,»so viel und so schnell wie möglich. Ich Camel, Lucky die langen Super King, der Marquis in Gottes Namen Dunhill. Die Zigaretten so rauchen, daß man noch die Marke sieht, dann ausdrücken und alle in den gleichen Aschenbecher. Am Schluß nimmt jeder eine aufgebrochene Schachtel mit.»

Wir qualmten auf Tod und Leben. Wir hatten es bald los, vier Zigaretten auf einmal anzurauchen, dann brannten sie von selber ab. Draußen donnerte das Gewitter von neuem los, und unter uns heulten die Psalmen auf:»Zermalme, Gott, uns Otternbrut, zerschmettre, Jesu, unser Gut, wir haben Dich geschlachtet, den Heiligen Geist mißachtet.»

«Ich rauche sonst eigentlich überhaupt nie«, stöhnte der Marquis. Es ging ihm so schlecht, daß er beinahe menschlich wurde.

Nach einer halben Stunde häuften sich im Aschenbecher die Zigarettenstummel. Die Luft war lebensgefährlich, denn wir hatten das Fenster geschlossen. Wir verließen das Zimmer und liefen ein Stockwerk tiefer in die Arme der Polizei, doch galt ihr Besuch nicht uns, sondern den Heiligen vom Uetli. Nachbarn, die ohne Psalmen zur Hölle zu fahren wünschten, hatten protestiert. Der dicke Stuber von der Sittenpolizei rüttelte an der Tür, seine zwei Begleiter, Streifenpolizisten, betrachteten uns argwöhnisch, wir drei waren bekannte Persönlichkeiten.

«Aber Stuber«, sagte ich,»Sie sind doch bei der Sittenpolizei und haben nichts mit Heiligen zu tun.»

«Passen Sie lieber auf Ihre Heiligen auf«, brummte Stuber und ließ uns vorbei.

«Hurenanwalt«, rief mir einer der Streifenpolizisten nach.

«Wir marschieren am besten gleich zur Hauptwache«, stöhnte Lucky. Die Polizei hatte ihn demoralisiert. Der Marquis schien vor Entsetzen zu beten. Ich ahnte, daß ich mich in etwas Bedenkliches eingelassen hatte.

«Unsinn«, machte ich den beiden Mut.»Etwas Besseres als die Polizei hätte uns nicht begegnen können.»

«Die Schirme…»

«Die beseitige ich später.»

Die frische Luft tat uns gut. Der Regen hatte aufgehört. Die Straßen waren belebt, und in der Niederdorfstraße gingen wir ins >Monaco<. Giselle war noch da, Madeleine nicht mehr (jetzt weiß ich ihren Namen), dafür aber Corinne und Paulette, die Neuen in Luckys Diensten, eben aus Genf importiert, alle drei fein hergerichtet, den Preisen entsprechend, und schon einige Freier hinter sich.

«Sieht der Marquis grün aus«, rief Giselle und winkte.»Was habt ihr denn mit dem angerichtet?»

«Wir haben zwei Stunden gepokert«, erklärte ich,»und der Marquis mußte mitrauchen. Zur Strafe, daß er dich Lucky abspannen wollte.»

«Je m'en suis pas rendue compte«, sagte Paulette.

«Geschäfte wickeln sich in der Stille ab.»

«Et le résultat?»

«Ich bin jetzt dein Rechtsanwalt«, erklärte ich. Paulette staunte. Ich wandte mich Alphons zu. Der Barmann hatte eine Hasenscharte und wusch Gläser hinter der Theke. Ich verlangte Whisky. Alphons stellte drei Sixty-Nine vor uns hin. Ich trank mein Glas in einem Zug hinunter, sagte zum Barmann» Die Herren bezahlen «und verließ das >Monaco<. Als ich mich kaum zehn Schritte vom Eingang entfernt hatte, hörte ich einen Wagen halten. Ich beobachtete, wie der Kommandant mit drei Detektiven vom Morddezernat die Bar betrat. Ich drückte mich um die nächste Ecke und in die übernächste Kneipe. Auch später hatte ich Glück (wenigstens einmal): Stuber und die zwei Streifenpolizisten befanden sich nicht mehr im Haus an der Spiegelgasse, als ich eine Stunde später zurückkehrte. Es war still, auch die Uetli-Brüder mußten sich verzogen haben. Die beiden Schirme fand ich hinter der Kellertür. Ich wollte damit schon in den Keller hinuntersteigen, um sie dort zu verbergen, als ich auf eine andere Idee kam. Ich stieg die Treppe hinauf. Vor dem Lokal der Sekte war es still. Die Tür war unverschlossen, ich hätte sie sonst mit dem Hausschlüssel geöffnet, der wie bei vielen alten Häusern für alle Türen brauchbar war.

Ich betrat einen Vorraum. Er war nur spärlich vom Treppenhaus her beleuchtet. Neben der Tür stand ein Schirmständer mit einigen Schirmen. Ich stellte die beiden nassen Schirme zu den anderen, schloß die Tür sorgfältig und stieg zu meiner Wohnung hinauf. Ich machte Licht. Das Fenster stand weit offen. Im Lehnstuhl saß der Kommandant.

«Hier ist viel geraucht worden«, sagte er und schaute auf den mit Kippen gefüllten Aschenbecher.»Ich habe das Fenster geöffnet.»

«Lucky und der Marquis sind bei mir gewesen«, erklärte ich.

«Der Marquis?»

«So eine Type aus Neuchâtel.»

«Sein Name?»

«Will ich lieber nicht wissen.»

«Henry Zuppey«, sagte der Kommandant.»Wann sind sie bei Ihnen gewesen?»

«Von sieben bis neun.»

«Hatte es schon geregnet, als sie gekommen sind?«fragte der Kommandant.

«Sie sind gekommen, bevor es geregnet hat«, antwortete ich.»Um nicht durchnäßt zu werden. Warum?»

Der Kommandant betrachtete den Aschenbecher.»Stuber von der Sitte hat Sie, Lucky und den Marquis gesehen, als Sie um neun Ihre Bude verlassen haben. Wo sind Sie dann hingegangen?»

«Ich?»

«Sie.»

«Ins >Höck<. Ich habe zwei Whisky getrunken. Lucky und der Marquis sind ins >Monaco< gegangen.»

«Das weiß ich«, sagte der Kommandant.»Ich habe sie dort verhaftet. Aber nun muß ich sie freilassen. Sie haben ein Alibi. Sie haben bei Ihnen geraucht. Zwei Stunden lang. «Er betrachtete wieder den Aschenbecher.»Ich muß Ihnen glauben, Spät. Einer, dem es um die Gerechtigkeit geht, liefert zwei Mördern kein Alibi. Das wäre absurd.»

«Wer ist ermordet worden?«fragte ich.

«Daphne«, antwortete der Kommandant.»Das Mädchen, das sich als Monika Steiermann ausgegeben hat.»

Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch.

«Ich weiß, Sie sind im Bild«, sagte der Kommandant.»Sie haben die echte Monika Steiermann besucht, die hat die falsche fallenlassen, und so ist Daphne Müller denn auf den Strich gegangen. Ohne sich mit Lucky und Zuppey zu einigen. Und jetzt hat man sie tot in ihrem Mercedes auf dem Parkplatz am Hirschenplatz gefunden. Gegen halb neun. Um sieben ist sie gekommen, aber im Wagen geblieben. Es hat ja mordsmäßig gewittert. Na, Lucky und Zuppey haben jetzt ein Alibi und hatten keine Waffe bei sich, und ihre Regenmäntel sind trocken gewesen. Ich muß sie laufenlassen. «Er schwieg.»Ein verdammt schönes Mädchen«, sagte er dann.»Haben Sie mit ihr geschlafen?»

Ich antwortete nicht.

«Ist ja auch nicht wichtig«, meinte der Kommandant und zündete sich eine seiner Bahianos an, hustete.

«Sie rauchen zuviel, Kommandant.»

«Ich weiß, Spät«, antwortete der Kommandant.»Wir alle rauchen zuviel. «Er schaute wieder auf den Aschenbecher.»Aber ich sehe, daß Sie mir eine gewisse Aufmerksamkeit schenken. Nun, ich schenke Ihnen ja auch eine gewisse Aufmerksamkeit: Ein undurchsichtiger Mensch, wie Sie einer sind, ist mir noch nie vorgekommen. Haben Sie eigentlich keinen Freund?»

«Ich schaffe mir nicht gern einen Feind an«, antwortete ich.»Wollen Sie mich verhören, Kommandant?»

«Nur neugierig, Spät«, wich der Kommandant aus.»Sie sind noch nicht einmal dreißig.»

«Ich hab es mir nicht leisten können, mein Studium zu verbummeln«, antwortete ich.

«Sie sind unser jüngster Rechtsanwalt gewesen«, meinte der Kommandant,»und jetzt sind Sie keiner mehr.»

«Die Aufsichtskommission ist ihrer Pflicht nachgekommen«, sagte ich.

«Wenn ich mir nur ein Bild von Ihnen machen könnte«, sagte der Kommandant,»fiele es mir dann leichter, Sie zu verstehen. Aber ich kann mir kein Bild machen. Als ich Sie zum ersten Mal besucht habe, hat mir Ihr Kampf für die Gerechtigkeit eingeleuchtet, und ich bin mir schäbig vorgekommen, aber jetzt leuchten Sie mir nicht ein. Das Alibi nehme ich Ihnen noch ab, aber daß es Ihnen um die Gerechtigkeit geht, nehme ich Ihnen nicht mehr ab.»

Der Kommandant erhob sich.»Sie tun mir leid, Spät. Daß Sie in eine absurde Geschichte verstrickt sind, ist mir klar, daß Sie dabei selber absurd werden, ist wohl nicht zu ändern. Ich denke, darum lassen Sie sich fallen. Hat Kohler wieder einmal geschrieben?»

«Aus Jamaika«, antwortete ich.

«Wie lange ist er jetzt weg?»

«Über ein Jahr«, sagte ich,»fast anderthalb Jahre.»

«Der Mensch saust kreuz und quer um den Erdball«, sagte der Kommandant.»Aber vielleicht kommt er doch bald zurück. «Dann ging er.

Nachschrift. Wieder drei Tage später: Daß ich mit Daphne geschlafen hatte, verschwieg ich dem Kommandanten. Er fragte ja auch nicht weiter, und es war ihm nicht wichtig. Ich habe lange überlegt, ob ich es niederschreiben soll. Aber der Kommandant hat recht, es ist alles so unsinnig geworden, daß es keinen Sinn hat, etwas zu verschweigen: Zur Realität gehört auch das Schändlichste, zu diesem Schändlichen gehört meine Rolle, die ich beim Untergang Daphnes spielte, auch wenn der Grund ein Racheakt der» echten «Monika Steiermann war. Nach dem Skandal war Daphne fast ein Jahr lang unauffindbar gewesen. Kein Mensch wußte, wo sie war, auch Lienhard nicht, wie er behauptete. Ihre Wohnung in der Aurorastraße blieb leer, die Miete wurde bezahlt. Von wem, war nicht auszumachen. Dann war sie wieder aufgetaucht. In ihrer alten Pracht. Wie wenn nichts geschehen wäre, wenn auch mit neuem Gefolge. Was sie verschwenderisch getrieben hatte, betrieb sie nun beruflich. Von ihren Freunden im Stich gelassen, machte sie nun in ihrem weißen Mercedes die Runde, verlangte horrende Preise und kam finanziell wieder auf die Beine. Auch nach Abzug der Steuern. Gemeindesteuer, Staatssteuer, Wehrsteuer, Alters- und Hinterbliebenenversicherung. Es galt als chic, mit ihr zu schlafen; es ist überflüssig, episch zu werden. Nur daß sie einmal bei mir erschien, will ich nicht verschweigen: Sie klopfte gegen zwei Uhr nachts an meine Wohnungstür in der Spiegelgasse. Ich kroch von der Couch, auf der ich schlief, dachte, es sei Lucky, machte Licht, öffnete, und sie trat ein. Sie schaute sich um. Das Fenster halb offen, das Zimmer eisig (es war Mitte Februar), an der kitschigen Tapete wieder die >Beobachter<-Bilder, auf dem Schreibtischsessel meine Kleider, auf dem Lehnstuhl mein Mantel. Sie trug einen Chinchilla — das mit den Preisen mußte wahr sein, oder die» echte «Steiermann zahlte noch immer —, zog sich aus, warf alles auf den Lehnstuhl und legte sich auf die Couch. Ich legte mich zu ihr. Sie war schön, und es war kalt. Sie blieb nicht lange. Sie zog sich wieder an, griff dann nach ihrem Chinchilla und legte einen Tausender auf meinen Schreibtisch. Als ich protestierte, schlug sie mir mit der rechten Hand mit aller Kraft ins Gesicht. Solche Geschichten erzählt man nicht gern, und ich habe sie auch niemandem erzählt. Wenn ich sie jetzt niederschreibe, so nur, weil mir die Felle davonschwimmen. Heute morgen, kurz vor sechs, war Freund Stuber von der Sitte bei mir und berichtete, man hätte Lucky und den Marquis bei Zollikon aus dem See gezogen (die Steiermannsche Villa ist nicht weit von der Fundstelle). Ich war etwas beleidigt, als der glückliche Stuber wieder ging: Er hatte mir nicht einmal Fragen gestellt, wenigstens einen vom Morddezernat hätte mir der Kommandant schicken können. Lucky und der Marquis hatten sich nicht schnell genug ins Ausland abgesetzt. So begann unser Nationalfeiertag, der Erste August 1958, recht trübselig. Außerdem war es ein Freitag, außerdem wurde Daphne beerdigt, die Gerichtsmedizin hatte sie zur Beerdigung freigegeben. Um zehn Uhr. Am Ersten August arbeitet man am Vormittag, auch die Totengräber, ein ganzer Nationalfeiertag ist für einen Kleinstaat zuviel, er kennt seine Dimensionen. Ich hatte eben mein Zimmer verlassen, als es donnerte, wie überhaupt die Gewitter in diesem Sommer etwas Alltägliches sind. Mein VW ist in Reparatur. (Ich hatte irgendwo über einem See gegessen, war dann unter einem wilden Nachthimmel mit meinem Porsche — na ja, Herr Staatsanwalt, um auch das zu beichten —, ich schlitterte mit ihm und mit Madeleine [war's Madeleine?] irgendwo vom Tüfweg ab in ein Gehölz, Lucky brachte die Sache in Ordnung, die Kleine lag zwei Monate im Spital, und ich hatte meinen alten VW wieder. Hatte. Ich hatte ihn wieder gehabt. Ich hätte ihn zwar längst holen können, aber habe beim Garagisten keinen Kredit mehr. Ich fürchte mich vor der Rechnung.) So mußte ich denn mit der Straßenbahn zu Daphnes Beerdigung fahren. Warum ich freilich die Türfalle des Vereinssälchens der Heiligen vom Uetli niederdrückte und warum ich, als die Tür sich öffnete, einen der beiden Schirme ergriff, die ich vor sechs Tagen hineingestellt hatte, ist nicht mehr auszumachen. Geschah es aus Gedankenlosigkeit oder aus einem makabren Humor heraus, ich weiß es nicht mehr. Der Himmel war schon tiefschwarz, obwohl es erst halb zehn war, als ich durch die Altstadt zum Bellevue lief, den Schirm wie einen Stock benutzend. Alles war nervös, und ich hatte es eilig wie vor jedem Gewitter, und das hereinbrechende mußte ein besonderes sein, weil es ja erst Vormittag war. Typisch Daphne, dachte ich. Beim Bellevue nahm ich die Straßenbahn. Eigentlich war es unter diesen Wetterbedingungen Unsinn, zur Beerdigung zu gehen, aber ich stieg gleichsam mechanisch in den überfüllten Tramwagen. Hin und wieder durchbrach die Sonne die schwarze Wolkenwand, sie war dann wie ein Scheinwerfer, der aufleuchtete und erlosch. Am Kreuzplatz stieg ein schwerer, schwarz gekleideter, eher kleingewachsener Mann mit leuchtender Glatze, gepflegtem schwarzem Vollbart mit weißen Strähnen und mit einer goldenen randlosen Brille in den Wagen. Ich glaubte zuerst unwillkürlich, es müsse sich um den ermordeten Winter handeln, der als Gespenst wiederkehre, um dem Begräbnis seiner Tochter beizuwohnen, so sehr glich der Mann dem Verstorbenen, auch trug er einen Totenkranz, dessen Schleife ich freilich nicht zu lesen vermochte. Im Friedhofwaren schon viele versammelt. Die ganze Prominenz war anwesend, gegen Nostalgie ist niemand gefeit, von ihren neuen Kunden war niemand erschienen. Aber Daphne Müller war nicht der einzige Grund, diesen Vormittag unseren schmuck angelegten städtischen Friedhof zu besuchen. Im Grab neben ihr wurde Staatsanwalt Jämmerlin der Ewigkeit übergeben. Auch sein Ableben wurde allgemein bedauert, gibt es doch nichts Traurigeres, als sich nicht mehr ärgern zu können. Zum Glück mischte sich in die Trauer Schadenfreude. Sein Ende entbehrte nicht der Komik. Er war in der Sauna, die er wöchentlich besuchte, nackt neben den nackten Lienhard zu sitzen gekommen und nicht mehr imstande gewesen, den Schreck zu überleben. So trauerte man auf den Stockzähnen. Auch die gleichzeitigen Beerdigungen hatten ihr Gutes. Man konnte an beiden zusammen teilnehmen. Ich überlegte, wer zu wessen Beerdigung gekommen war, der Stadtpräsident, Staatsanwalt Feuser und einige freigesprochene Unzüchtler, weil sie den Verstorbenen noch im Grab ärgern wollten, zu Jämmerlins, Lienhard, Leuppinger, Stoss und Stüssi-Leupin zu beiden, Friedli, Lüdewitz, Mondschein dagegen wohl nur zur Beisetzung Daphnes. Jedermann hatte einen Schirm bei sich. Pfarrer Senn stand an Daphnes, Pfarrer Wattenwyl an Jämmerlins Grab. Beide startbereit. Ich wartete ungeduldig, trat von einem Bein aufs andere. Es donnerte. Doch weder Pfarrer Senn noch Pfarrer Wattenwyl begannen zu beten. Der ältere Mann, dem ich im Tram begegnet war, hatte seinen Kranz niedergelegt (es war sonst kein anderer beim Sarg), seiner halbschwester daphne, hugo winter. Es mußte sich um den Primarschullehrer Winter handeln. Es donnerte wieder, diesmal ein gewaltiges Krachen. Ein Windstoß. Alles wartete und wartete, sogar die vom Nachbargrab sahen zu uns herüber, man wartete auf etwas, ich wußte nicht worauf, bis ich begriff: Vom Eingang des Friedhofs her wurde auf einem Rollstuhl die» echte «Monika Steiermann von einer hageren Krankenschwester in Marschschritten an den Sarg gestoßen. Die Zwergin hatte sich grell geschminkt, auf ihrem Kopf saß eine zinnoberrote Perücke, den Haaren Daphnes nachgebildet, eine Perücke, die den Kopf des kleinen Wesens noch größer machte, dazu trug sie einen Minirock, der wie ein Kinderkleid wirkte, mit einer Perlenkette, die zwischen den verkrüppelten Beinchen über den Rollstuhl hing, auf dem Schoß hielt sie einen Gegenstand, der in ein schwarzes Tuch gewickelt war. Neben ihr schritt ein gedrungener Mann in einem dunklen Anzug, der zu kurz und zu eng war, der schwerreiche Grobian, Nationalrat Äschisburger. Er schleppte einen Kranz hinter sich her. Sogar der Stadtpräsident und Feuser, ja auch die Totengräber verließen das Grab Jämmerlins und wechselten zu Daphne Müllers hinüber. Pfarrer Wattenwyl stand allein. Er wäre wohl am liebsten auch gekommen. Erneutes Krachen, erneute Böen.

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