Und dann verstellte ihnen eine Fuhre mit Töpfen den Weg. Don Sera entblößte beide Schwerter und erklärte, daß es edlen Dons nicht gezieme, um irgendwelche Töpfe einen Umweg zu machen, und er werde sich schon einen Weg bahnen, geradewegs durch die Fuhre hindurch. Aber während er noch mit dem Zielen beschäftigt war und zu unterscheiden suchte, wo die Hauswand aufhörte und die Töpfe begannen, griff Rumata in die Speichen und drehte die Fuhre zur Seite, so daß der Weg frei wurde. Die Gaffer, die dem Geschehen mit Entzücken gefolgt waren, riefen Rumata ein dreimaliges »Hurra!« zu. Die edlen Dons wollten schon weitergehen, als sich im zweiten Stockwerk ein graublauer, dicker Kaufmannskopf herausreckte und über die Rüpelhaftigkeit der Höflinge loszulegen begann, gegen welche »unser lichter Adler, Don Reba, schon bald ein Kräutlein finden« werde. So mußte man eben noch einmal stehenbleiben und diese ganze Fuhre Töpfe in jenes Fenster transferieren. In den letzten Topf warf Rumata zwei Goldstücke mit dem Profil Pitz VI. und gab ihn dem wie versteinerten Besitzer der Fuhre.
»Wieviel haben Sie ihm gegeben?« fragte Don Tameo, als sie weitergingen.
»Nicht der Rede wert«, antwortete Rumata achselzuckend. »Zwei Goldstücke.«
»Beim Buckel des heiligen Micky!« entrang es sich Don Tameo. »Sie haben Geld! Wollen Sie, dann verkauf ich Ihnen meinen Chamacharischen Hengst!«
»Ich werde Ihnen den Hengst lieber beim Knochenspiel abgewinnen«, sagte Rumata.
»Einverstanden!« rief Don Sera und blieb stehen. »Warum spielen wir nicht Knochen?«
»Gleich hier?« fragte Rumata.
»Warum nicht?« fragte Don Sera. »Ich sehe nicht ein, warum drei edle Dons nicht Knochen spielen können, wo es ihnen gerade einfällt!«
Dann fiel Don Tameo plötzlich der Länge nach hin. Don Sera stolperte über seine Füße und kam auch zu Fall.
»Ich habe ganz vergessen«, sagte er, »wir müssen doch jetzt zum Wachdienst.«
Rumata zerrte die beiden wieder hoch und stützte beim Weitergehen jeden mit einem Arm. Vor dem riesigen düsteren Haus Don Satarinas hielt er an.
»Sollten wir nicht den alten Don aufsuchen?« sagte er. »Ich sehe überhaupt nicht ein, warum drei edle Dons nicht Don Satarina besuchen sollten …«, sagte Don Sera.
Don Tameo öffnete die Augen.
»In den Diensten des Königs«, brachte er irgendwie hervor, »müssen wir allezeit in die Zukunft blicken. D-d-d-on Satarina – das ist eine überholte Etappe. Vorwärts, edle Dons! Ich muß auf meinen Posten …«
»Vorwärts!« stimmte Rumata ein.
Don Tameo ließ seinen Kopf wieder auf die Brust fallen und wachte kein zweitesmal mehr auf. Don Sera knackte mit seinen Fingergelenken und erzählte von seinen stets erfolgreichen Liebesabenteuern. So kamen sie zum Palast. In der Wachabteilung legte Rumata Don Tameo erleichtert auf eine Bank, Don Sera aber setzte sich an den Tisch, schob mit einer nachlässigen Handbewegung ein Paket vom König unterzeichneter Ordern weg und erklärte, daß es nun endlich Zeit sei, ein Glas kalten Irukanischen zu trinken. Der Hausherr soll nur ein Fäßchen hereinrollen, schaffte er an, und diese alten Weiber (er wies in Richtung auf die wachhabenden Gardeoffiziere, die an einem anderen Tisch Karten spielten) sollen herkommen. Der Befehlshaber der Wache, ein Leutnant der Garderotte, kam. Er betrachtete Don Tameo lange Zeit und danach Don Sera. Und als sich Don Sera bei ihm erkundigte: »Warum verwelken alle Blumen in meines Horts geheimer Einsamkeit …«, da entschied er, es würde zu nichts führen, wenn er sie gleich auf ihren Posten schickte. Sollten sie inzwischen da liegenbleiben. Rumata gewann dem Leutnant einen Taler ab und unterhielt sich mit ihm über die neuen Uniformschleifen und über die Verfahren, ein Schwert zu schärfen. Er sagte dann auch, daß er Don Satarina aufsuchen wolle, der noch über die alten Schleifgeräte verfüge. Er war aber sehr bekümmert, als er erfuhr, daß der ehrenwerte Magnat nun anscheinend endgültig den Verstand verloren hatte: Vor einem Monat habe er seine Gefangenen freigelassen, seine Leibwache aufgelöst und sein reichhaltiges Arsenal an Folterwerkzeugen dem Staat übergeben. Der hundertzweijährige Greis erklärte, er beabsichtige nun, den Rest seines Lebens guten Taten zu widmen. Er werde es wahrscheinlich jetzt nicht mehr lange machen. Nachdem er sich von dem Leutnant verabschiedet hatte, verließ Rumata den Palast und schlenderte in Richtung Hafen. Er mußte den Pfützen ausweichen und über tiefe, mit grünbraunem Wasser gefüllte Radfurchen springen, er stieß ohne viele Umstände die herumstehenden Gaffer auseinander, zwinkerte den Mädchen zu, auf die sein Äußeres offenbar unerhörten Eindruck machte, verneigte sich vor den Damen, die man in Sänften vorbeitrug, grüßte mit freundlicher Miene seine Bekannten vom Hof und übersah absichtlich die Grauen Sturmowiki.
Rumata machte einen kleinen Umweg, um einen Blick in die Patriotische Schule zu werfen. Diese Schule war zwei Jahre zuvor durch die persönliche Unterstützung Don Rebas gegründet worden, und zwar zur Ausbildung von Halbwüchsigen aus dem Kleinbürger- und Kaufmannsstand für militärische und administrative Kader. Der Bau war aus Stein, ohne Säulen und Verzierungen, er hatte dicke Mauern mit engen, schießschartenähnlichen Fenstern, und links und rechts vom Haupteingang waren zwei halbrunde Türme. Wenn es notwendig war, konnte man sich dort schon eine Zeitlang verteidigen.
Über eine enge Wendeltreppe stieg Rumata in den ersten Stock, seine Sporen klirrten auf dem Steinboden. An den Klassenzimmern vorbei führte ihn sein Weg zur Kanzlei des Schulprokurators. Aus den Zimmern drang ein einheitliches Gebrumm von Stimmen, Antworten im Chor. »Was ist der König? – Eine erhabene Größe. Was sind die Minister? – Treu und ohne Widerspruch …« – »… und Gott, unser Schöpfer, sagte: Ich verfluche. – Und er verfluchte …« – »… und wenn zwei Hornstöße ertönen, in Zweiergruppen kettenförmig auseinanderlaufen, die Lanzen stoßbereit halten …« – »… wenn aber der Gefolterte das Bewußtsein verliert, ist die Folterung unverzüglich abzubrechen …«
Die Schule, dachte Rumata. Die Brutstätte der Weisheit. Die Stütze der Kultur …
Ohne zu klopfen, stieß er die niedere Tür ins Gewölbe auf und trat in die Kanzlei: sie war finster und eisig wie eine Gruft. Hinter einem ungeheuren massiven Schreibtisch, der mit Papieren und Prügelstöcken übersät war, sprang ein langer, eckiger Mann auf. In seinem kahlen Kopf saßen ein paar tiefliegende Augen, an seiner enggeschnürten grauen Uniform prangten die Epauletten des Sicherheitsministeriums. Das war der Prokurator der Patriotischen Schule, der hochgelehrte Vater Kin, ein Sadist und Mörder, gleichzeitig Mönch, der Autor des Tractates über Denuntiationen, womit er das persönliche Interesse Don Rebas erweckt hatte.
»Nun, wie steht Seine Sache?« fragte Rumata mit einem wohlgefälligen Lächeln. »Ja, diese Schriftkundigen … Die einen schlachten wir, und die andern unterrichten wir, wie?« Vater Kin lachte schiefmäulig.
»Nicht jeder Schriftkundige ist ein Feind der Krone«, sagte er. »Des Königs Feinde sind vielmehr die schriftkundigen Träumer, Zweifler und illoyalen Dissidenten! Wir aber haben uns hier zur Aufgabe gesetzt …«
»Gut, schon gut«, sagte Rumata. »Ich glaube Ihm schon. Was schreibt Er Neues? Seinen Traktat habe ich gelesen – ein nützliches Buch, aber dumm. Wie kommt Er auf solche Ideen? Das ist nicht gut, mein Lieber … Prokurator, wie …?«
»Nicht der Klugheit oder des Verstandes will ich mich rühmen«, antwortete Vater Kin mit Würde. »Das einzige, wonach ich strebe, ist der staatliche Nutzen. Wir brauchen keine Gescheiten. Treue brauchen wir. Und wir …«
»Gut, schon gut«, sagte Rumata. »Einverstanden. Also schreibt Er etwas Neues, oder nicht?«
»Demnächst werde ich dem Minister einen Entwurf des Neuen Staates zur Durchsicht übergeben. Als Vorbild nehme ich dafür das >Reich des Heiligen Ordens<.«
»Was fällt Ihm ein!« wunderte sich Rumata. »Will Er uns alle in die Kutte stecken?«
Vater Kin preßte die Handflächen gegeneinander und neigte sich stark nach vorn.
»Gestattet mir, einmal klarzustellen, edler Don«, sagte er hitzig und leckte seine Lippen, »der Kern der Sache liegt ganz woanders. Der Kern der Sache liegt in den Grundpfeilern des Neuen Staates. Die Grundpfeiler sind ganz einfach, es gibt ihrer nur drei: Blinder Glaube an die Unfehlbarkeit der Gesetze; widerspruchslose Unterwerfung unter selbige; und schließlich die nimmermüde Beobachtung eines jeden durch jeden.«
»Hm«, sagte Rumata. »Und wozu?«
»Was wozu?«
»Dumm ist Er ja trotzdem«, sagte Rumata. »Schon gut, ich glaube Ihm. Also, was wollte ich eigentlich …? Ach ja. Morgen nimmt Er zwei neue Lehrer auf. Vater Tarra, ein ehrwürdiger Greis, befaßt sich mit dieser … Kosmographie, und Bruder Nanin, auch ein ehrenwerter Mensch, Hauptfach Geschichte. Das sind meine Leute, und behandle Er sie mir ordentlich! Da, mein Unterpfand.« Er warf einen klirrenden Lederbeutel auf den Tisch. »Das ist für Ihn, fünf Goldstücke … Alles verstanden?«
»Ja, edler Don«, sagte Vater Kin demütig. Rumata gähnte und blickte um sich.
»Na also gut, daß Er wenigstens das verstanden hat«, sagte er. »Mein Vater liebte aus irgendeinem Grund diese Menschen sehr und trug mir auf, ihr Leben angenehm zu gestalten. Erklär Er mir doch, Er gelehrter Mann, woher kommt bei einem solch hochedlen Don eine derartige Neigung für die Wissenschaft?«
»Irgendwelche besonderen Verdienste vielleicht?« vermutete Vater Kin.
»Was quakt Er da?« fragte Rumata argwöhnisch. »Aber warum nicht? Ja, vielleicht … Da ist eine schöne Tochter, oder eine Schwester … Wein hat Er natürlich keinen hier, was?« Vater Kin machte eine schuldbewußte Handbewegung. Rumata nahm eines der herumliegenden Papiere vom Schreibtisch und hielt es eine Zeitlang ans Licht.
»Verteidigungsgürtel Ausbruch …«, las er. »Ach, Ihr Schlauköpfchen!«
Er ließ das Blatt Papier zu Boden fallen und erhob sich. »Seh Er zu, daß Seine gelehrte Brut die beiden nicht beleidigt. Ich werde sie irgendwann einmal hier besuchen, und wenn ich erfahre …« Er hielt Vater Kin die Faust unter die Nase. »Na schön, ist schon gut. Keine Angst, ich werde schon nicht …«
Vater Kin kicherte ehrfürchtig. Rumata nickte ihm zu und ging zur Tür hinaus, wobei er mit seinen Sporen den Fußboden zerkratzte. Auf der Straße der Übergroßen Dankbarkeit ging er in eine Waffenhandlung und kaufte neue Ringe für seine Schwertscheide. Er probierte einige Dolche, schleuderte sie gegen die Wand und maß sie in der Hand, fand aber an keinem Gefallen. Dann setzte er sich aufs Ladenpult und plauderte mit dem Inhaber, einem gewissen Vater Hauk. Vater Hauk hatte gutmütige, traurige Augen und kleine, blutleere Hände, die mit Tintenklecksen übersät waren. Rumata unterhielt sich ein wenig mit ihm über die Vorzüge der Gedichte Zurens, lauschte einem interessanten Kommentar zu dem Vers Wie Blattgewelk drückt es die Seele … und bat um etwas Neues zum Lesen. Bevor er ging, seufzte er zusammen mit dem Autor über die unaussprechlich traurigen Strophen und deklamierte Sein oder Nichtsein in seiner irukanischen Übersetzung. »Heiliger Micky!« rief Vater Hauk hellauf begeistert. »Wer schreibt solche Verse?«
»Ich«, sagte Rumata und verließ den Laden.
Er ging in die Schenke Zur grauen Freude, trank ein Glas irukanischen Säuerling, tätschelte der Wirtin die Wange, warf mit einem geschickten Schwertstoß den Tisch eines staatlichen Spitzels um, der ihn aus leeren Augen anstarrte, ging dann weiter in einen entlegenen Winkel und machte dort einen zerlumpten bärtigen Mann ausfindig, der ein Tintenfaß um den Hals hängen hatte. »Guten Tag, Bruder Nanin«, sagte er. »Wie viele Petitionen hast du denn heute geschrieben?«
Bruder Nanin lächelte verlegen und zeigte seine kleinen, schlechten Zähne.
»Heutzutage schreibt man wenig Petitionen, edler Don«, antwortete er. »Die einen glauben, daß das Bitten keinen Sinn hat. Und die andern rechnen damit, daß sie in allernächster Zeit auch ohne Bitten zugreifen können.«
Rumata neigte sich zu seinem Ohr und berichtete ihm, daß die Sache mit der Patriotischen Schule in Ordnung gehe. »Da hast du zwei Goldstücke«, sagte er zum Schluß. »Zieh dich anständig an und bring dich in Ordnung. Und wäge deine Worte … Zumindest die ersten Tage. Vater Kin, der Prokurator, ist ein gefährlicher Mensch.«
»Ich werde ihm meinen Traktat über Gerüchte vorlesen«, sagte Bruder Nanin heiter. »Ich danke Euch, edler Don.«
»Was tut man nicht alles zum Angedenken seines Vaters«, sagte Rumata. »Jetzt aber sag mir, wo ich Vater Tarra finde.« Bruder Nanins Lächeln verschwand plötzlich, und er begann nervös zu zwinkern. »Gestern war hier eine Rauferei«, sagte er. »Und Vater Tarra hat beim Trinken ein wenig über die Schnur gehauen. Und dann, er hat doch rote Haare … Sie haben ihm eine Rippe gebrochen.« Rumata gurgelte vor Ärger.
»Da habt ihr’s!« sagte er. »Und warum trinkt ihr so viel?«
»Manchmal ist es schwer, sich zu beherrschen«, sagte Bruder Nanin traurig.
»Das ist wahr«, sagte Rumata. »Na, da hast du noch zwei Goldstücke, und nimm dich seiner an!«
Bruder Nanin verbeugte sich tief und wollte seine Hand küssen. Rumata trat einen Schritt zurück.
»Na, na«, sagte er, »du hast schon bessere Späße gemacht, Bruder Nanin. Leb wohl!«
Im Hafen roch es wie sonst nirgends in Arkanar. Es roch nach Salzwasser und faulem Algenschlamm, nach Gewürzen, Teer, Rauch und verdorbenem Pökelfleisch, und aus den Tavernen drang ein ekelhafter Qualm von gekochtem Fisch und sauergewordenem Hausbier. In der schwülen Luft hing ein dichtes vielsprachiges Gefluche. An den Piers, in den engen Gängen zwischen den Lagerhäusern und um die Tavernen drängten sich Tausende Menschen, die alle irgendwie merkwürdig aussahen: heruntergekommene Matrosen, aufgeblasene Kaufleute, Fischer mit düsteren Mienen, Sklavenhändler, Mädchenhändler, fettgeschminkte Huren, betrunkene Soldaten, undefinierbare Gestalten, von Kopf bis Fuß mit Waffen behängt, und phantastische Vagabunden in zerlumpten Kleidern mit goldenen Reifen um die schmutzigen Handgelenke. Und alle waren erregt und übellaunig. Nach einem Erlaß Don Rebas konnte nun schon den dritten Tag kein Schiff, ja nicht einmal ein Kahn den Hafen verlassen.
An den Anlegestellen spielten die grauen Sturmowiki mit ihren rostigen Metzgerbeilen. Sie spuckten ins Wasser und bedachten die Menge mit frechen und schadenfreudigen Blicken. Auf den festgehaltenen Schiffen hockten in Gruppen zu fünft und zu sechst breitknochige kupferhäutige Männer in umgestülpten Pelzen und Kupferkappen: es waren angeheuerte Barbarensöldner. Sie taugten zwar im Nahkampf nichts, auf Entfernung aber, ebenso wie jetzt, waren sie mit ihren Blasrohren und den vergifteten Pfeilen sehr gefährlich. Aus der Ferne aber ragten die schwarzen Masten der Kriegsgaleeren der königlichen Flotte drohend zum Himmel. Von Zeit zu Zeit stießen sie feurigrote Rauchschwaden aus, die immer einen Fleck des Meeres in Brand setzten: man entzündete Öl zur Einschüchterung der wartenden Menge.
Rumata ging an der Zollkanzlei vorbei, wo vor verschlossenen Türen die Kapitäne vergeblich auf ihre Ausfahrtgenehmigung warteten, er schlug sich durch eine plärrende Menge, welche mit allem handelte, was ihnen gerade in die Hände fiel – von Sklavinnen und schwarzen Perlen bis zu Narkotika und dressierten Spinnen –, ging dann zu den Piers hinaus, warf einen raschen Seitenblick auf die öffentlich zur Schau gestellten Leichen in Matrosenuniform, die in der prallen Sonne schon völlig aufgedunsen waren, beschrieb einen Bogen entlang eines mit Gerümpel und Unrat übersäten Platzes und tauchte endlich in einer der übelriechenden Hafengassen unter. Hier wurde es ruhiger. In den Türen ärmlicher Spelunken dösten halbnackte Huren, an einer Straßenkreuzung lag ein volltrunkener Soldat mit eingeschlagener Nase und nach außen gestülpten Taschen, und die Wände entlang schlichen verdächtige Figuren mit bleichen Nachtgesichtern.
Rumata war hier zum erstenmal bei Tag, und anfangs wunderte er sich, daß er kein Aufsehen erregte. Die Leute, denen er begegnete, sahen mit ihren wäßrigen Augen entweder an ihm vorbei oder auch durch ihn hindurch, obwohl sie beiseite traten und ihm aus dem Weg gingen. Als er aber um eine Ecke bog und sich unvermittelt umwandte, konnte er gerade noch sehen, wie an die zwanzig verschiedenartige Köpfe, männliche und weibliche, zerzauste und kahle, augenblicklich in Türen, Fenstern und Verschlagen verschwanden. Da übertrug sich auf ihn die seltsame Atmosphäre dieser ekelerregenden Gegend, eine Atmosphäre nicht so sehr von Feindseligkeit oder Gefahr, sondern von einem unguten, habsüchtigen Interesse.
Er stieß mit der Schulter die Tür auf und betrat eine der Spelunken. Im halbdunklen Gastzimmer schlummerte hinter dem Schanktisch ein alter Mann mit einer unerhört langen Nase und dem Gesicht einer Mumie. Es waren keine Gäste da. Rumata trat unhörbar an den Schanktisch und zielte schon einen Knipser auf die lange Nase des Alten, als er plötzlich bemerkte, daß der schlafende Alte überhaupt nicht schlief, sondern ihn durch seine nackten, zusammengekniffenen Lider aufmerksam beobachtete. Rumata warf ein Silberstück auf das Pult, und die Augen des Alten öffneten sich gleich wie auf Knopfdruck.
»Womit darf ich dem edlen Don dienen?« erkundigte er sich geschäftig. »Etwas zum Beißen? Zum Riechen? Oder ein Mädchen?«
»Stell dich nicht dumm«, sagte Rumata, »du weißt genau, wozu ich hierher komme.«
»Eh-ehe! Das wird doch nicht der edle Don Rumata sein!« rief mit ungewöhnlicher Verwunderung der alte Mann. »Ich schau so vor mich hin … Da plötzlich, irgendwie ein bekanntes Gesicht …« Nach dieser langen Rede ließ der alte Mann wieder seine Lider sinken. Alles war klar. Rumata ging um den Schanktisch herum und kroch durch eine enge Tür in das Nachbarzimmer. In dem dunklen Raum war wenig Platz, und es roch penetrant nach saurem Bier. In der Mitte des Raumes stand hinter einem hohen Pult ein älterer Mann. Sein von Falten durchfurchtes Gesicht war über einen Stoß Papiere gebeugt, auf dem Kopf saß eine schwarze flache Kappe. Auf dem Pult flackerte eine schwache Ölfunzel, und in ihrem Dämmerlicht sah man nur die Gesichter der Männer, die unbeweglich an der Wand saßen. Auf seine Schwerter gestützt, ertastete sich Rumata einen Schemel an der Wand und setzte sich. Hier herrschten eigene Gesetze und eine eigene Etikette. Keiner der Anwesenden schenkte dem Hereingekommenen die geringste Aufmerksamkeit: Kommt ein Mensch herein, dann gehört es sich eben so, wenn es sich aber nicht so gehört, so zwinkert man nur einmal mit dem Auge, und der Mensch ist verschwunden. Man wird ihn dann auf der ganzen Welt vergeblich suchen … Der runzelige Alte kratzte eifrig mit seiner Feder, die Leute an der Wand verharrten unbeweglich. Von Zeit zu Zeit ließ der eine oder der andere von ihnen ein langgezogenes Seufzen hören. An den Wänden liefen, leichtbeinig und leise tappend, unsichtbare Molche hin und her, die nach Fliegen schnappten.
Die unbeweglichen Männer an der Wand waren die Anführer von Banden. Einige von ihnen kannte Rumata schon seit langem vom Sehen. An und für sich waren diese stumpfen Tiere nicht viel wert.
Ihre Psyche war nicht komplizierter als die eines mittleren Krämers. Sie waren dumm, brutal und konnten gut mit Messern und kurzen Knüppeln umgehen. Aber da war auch noch der Mann am Pult … Sie nannten ihn Waga Koleso, und er war allmächtig, kannte keinen Konkurrenten, der ihm seine Stelle als Oberhaupt aller verbrecherischen Kräfte des ganzen Landes streitig gemacht hätte – von den pitanischen Sümpfen im Westen Irukans bis hin zur Seegrenze der Handelsrepublik Soan. Von allen drei offiziellen Kirchen des Imperiums war er verflucht wegen ungebührlicher Hochmütigkeit, denn er behauptete, der jüngere Bruder des regierenden Fürsten zu sein. Er verfügte über eine ständige nächtliche Armee, deren durchschnittliche Stärke an die zehntausend Mann waren, hatte einige hunderttausend Goldstücke in seinen Truhen, und seine Agenten drangen bis in das Allerheiligste des Staatsapparates ein. In den letzten zwanzig Jahren hatte man ihn viermal hingerichtet, jedesmal im Beisein einer großen Volksmenge. Nach einer offiziellen Version schmachtete er jetzt gleichzeitig in drei der düstersten Verliese des Reiches, Don Reba aber hatte nicht zum erstenmal Befehle erlassen, »betreffend die aufrührerische Verbreitung von Legenden durch Staatsverbrecher und andere böswillige Personen über einen sogenannten Waga Koleso, der in Wirklichkeit gar nicht existiert und daher in den Bereich der Legende gehört«.
Gewissen Gerüchten zufolge berief eben dieser Don Reba einige Barone, welche über eine starke Rotte verfügten, zu sich und setzte ihnen eine Belohnung in Aussicht: fünfhundert Goldstücke für den toten Waga und siebentausend für den lebenden. Rumata selbst mußte seinerzeit nicht wenig Kraft und Geld aufwenden, um mit diesem Mann in Kontakt zu kommen. Waga rief in ihm eine heftige Abneigung hervor, war aber manchesmal äußerst nützlich, ja buchstäblich unentbehrlich. Außerdem erregte Waga Rumatas wissenschaftliches Interesse. Er war nämlich ein äußerst interessantes Exemplar in Rumatas Kollektion mittelalterlicher Monster, eine Person, der offenbar jegliche Vergangenheit fehlte. Waga legte schließlich die Feder weg, straffte seinen Rücken und sagte krächzend:
»Nun also, meine Kinderchen. Zweieinhalbtausend Goldstücke in drei Tagen. Und an Ausgaben bloß eintausendneunhundertsechsundneunzig. Fünfhundertvier kleine runde Goldstücke in drei Tagen. Nicht übel, meine Kinderchen, nicht übel …« Keiner rührte sich. Waga verließ seinen Platz hinter dem Pult, setzte sich in eine Ecke und rieb seine trockenen Handflächen kräftig gegeneinander.
»Das ist doch etwas, um euch zu erfreuen, meine Kinderchen«, sagte er. »Die Zeiten sind günstig, fruchtbare Jahre … Aber man muß hart arbeiten um sein täglich Brot. Ach, und wie hart! Mein älterer Bruder, der König von Arkanar, hat es sich in den Kopf gesetzt, alle gelehrten Menschen in seinem und meinem Königreich zu vertilgen. Na schön, Seine Weisheit muß es ja besser wissen. Und wer sind wir denn schon? Sollen wir seine Allerhöchsten Beschlüsse kritisieren? Indessen können, ja müssen wir einen Nutzen ziehen aus diesen seinen Beschlüssen. Und da wir seine treuen Untertanen sind, müssen wir ihm dienstbar sein. Da wir aber seine nächtlichen Untertanen sind, werden wir ihm unseren bescheidenen Anteil nicht ohne weiteres abtreten. Ihm fällt das natürlich nicht auf, und er wird uns daher auch nicht zürnen. Was gibt es?« Keiner muckste sich.