Ein geschlagener Mann schlug der Stadt vor, sich zu ergeben!
Einige Männer erhoben sich und bewegten sich drohend auf ihn zu. Die Wachen hatten alle Mühe, sie in ihre Schranken zu weisen.
»Wartet!« sagte der Stadthauptmann und versuchte, die anderen zu überschreien. »Vor uns steht ein schutzloser Mann, der uns keine angst machen kann. Wir haben ein ausgezeichnet gerüstetes Heer und tapfere Krieger. Wir müssen niemandem etwas beweisen. Wenn wir beschließen zu kämpfen, gewinnen wir die Schlacht auch, doch nur unter großem Verlust.« Elia schloß die Augen und betete darum, daß es dem Stadthauptmann gelingen möge, das Volk zu überzeugen.
»Unsere Vorfahren haben uns vom ägyptischen Großreich erzählt. Doch diese Zeit ist längst vorbei«, fuhr er fort. »Jetzt kehren wir ins Goldene Zeitalter zurück. Warum sollten wir mit dieser Tradition brechen? Die modernen Kriege werden auf der Ebene des Handels geführt und nicht mehr auf den Schlachtfeldern.« Ganz allmählich beruhigte sich die Menge. Es sah aus, als hätte der Stadthauptmann es geschafft. Als der Lärm verebbte, wandte er sich an den Assyrer.
»Was Ihr vorschlagt, reicht nicht. Ihr müßt die Steuern zahlen, die auch die Kaufleute zahlen, wenn sie durch unser Land ziehen.« »Glaubt mir, Stadthauptmann: Ihr habt keine Wahl«, entgegnete der Gefangene. »Wir haben genügend Männer, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen und alle Bewohner zu töten. Ihr lebt seit langem schon im Frieden und wißt nicht mehr, wie man kämpft, während wir gerade die Welt erobern.« Das zornige Murren schwoll wieder an. >Jetzt nur keine Unsicherheit zeigen<, hoffte Elia inständig. Doch es war schwierig, mit dem Assyrer zu verhandeln, der selbst als Gefangener noch seine Bedingungen stellte. Ständig kamen mehr Menschen herbei. Elia bemerkte, daß die Kaufleute ihre Arbeit liegenlassen und sich zu den Zuschauern gesellt hatten; besorgt verfolgten sie, wie sich die Dinge entwickelten. Der Prozeß hatte eine gefährliche Wendung genommen. Der Stadthauptmann konnte nicht länger warten, er mußte sich entscheiden, entweder für Verhandlungen oder für einen Todesspruch.
Die Zuschauer begannen sich zu spalten. Die einen waren für den Frieden, die anderen dafür, hart zu bleiben. Der Stadthauptmann flüsterte dem Priester zu: »Dieser Mann hat mich öffentlich herausgefordert. Ihr aber auch.« Der Priester wandte sich an ihn. Und leise, so daß ihn niemand hören konnte, verlangte er, den Assyrer unverzüglich zum Tode zu verurteilen.
»Ich bitte nicht darum, ich befehle es. Damit das klar ist: Ich bin es, der Euch an der Macht hält, und ich kann Euch jederzeit entmachten, verstanden? Ich kenne die Opfer, die den Zorn der Götter besänftigen können, wenn wir gezwungen sind, die regierende Familie durch eine andere zu ersetzen. Im übrigen wäre es nicht das erste Mal. Selbst in Ägypten, einem Reich, das Tausende von Jahren gedauert hat, gab es viele Fälle, in denen eine Dynastie von einer anderen abgelöst wurde.
Dennoch blieb die Ordnung des Universums erhalten und ist die Sonne am nächsten Morgen wieder aufgegangen.« Der Stadthauptmann erblaßte.
»Der Kommandant befindet sich mit einigen seiner Soldaten unter den Zuhörern. Wenn Ihr weiter darauf besteht, mit diesem Mann zu verhandeln, werde ich allen sagen, daß die Götter Euch verlassen haben. Und Ihr werdet abgesetzt. Wir werden den Prozeß weiterführen. Und Ihr werdet genau das tun, was ich Euch sage.« Hätte er Elia sehen können, wäre dem Stadthauptmann ein letzter Ausweg geblieben: Er hätte den israelitischen Propheten gebeten, von dem Engel zu erzählen, der ihm auf dem Gipfel des Fünften Berges begegnete, und an das Wunder der Auferstehung des Sohnes der Witwe zu erinnern. Dann stünden die Worte Elias, der schon bewiesen hatte, daß er Wunder tun konnte, gegen die Worte eines Mannes, der noch nie irgendeine Art übernatürlicher Kraft gezeigt hatte.
Doch Elia hatte ihn verlassen, und er hatte nun keine andere Wahl. Zudem war dieser hier nur ein Gefangener – und keine Armee der Welt beginnt einen Krieg, weil einer ihrer Generäle getötet wurde.
»Ihr habt gewonnen«, sagte er zum Priester. Eines Tages würde er im Gegenzug etwas für sich aushandeln.
Der Priester nickte. Das Urteil wurde sofort ausgesprochen.
»Niemand fordert Akbar heraus«, sagte der Stadthauptmann.
»Und niemand kommt ohne die Genehmigung der Bürger in unsere Stadt. Ihr habt es versucht und seid zum Tode verurteilt.« Dort, wo er sich befand, senkte Elia den Blick. Der Kommandant lächelte.
Der Gefangene wurde zu einem Brachland an der Stadtmauer gebracht. Dort rissen sie ihm, was ihm noch von seinen Kleidern geblieben war, vom Leibe und ließen ihn nackt dastehen. Einer der Soldaten stieß ihn in eine Bodensenke.
Das Volk scharte sich um das Loch, und alle drängelten und rempelten sich gegenseitig an, um besser sehen zu können.
»Ein Soldat trägt seine Kriegskleidung voller Stolz und macht sich damit für seinen Feind sichtbar, weil er Mut besitzt. Ein Spion verkleidet sich als Frau, weil er ein Feigling ist«, rief laut der Stadthauptmann, damit alle ihn hören konnten. »Deshalb verurteile ich dich zu einem ehrlosen Tod.« Das Volk buhte den Gefangenen aus und applaudierte dem Stadthauptmann.
Der Gefangene sagte etwas, doch der Dolmetscher war nicht mehr in der Nähe, und niemand konnte ihn verstehen. Elia gelang es, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und in die Nähe des Stadthauptmanns zu gelangen – doch es war bereits zu spät. Er zog ihn am Gewand, wurde aber gewaltsam zurückgestoßen.
»Es ist Eure Schuld. Ihr wolltet einen öffentlichen Richtspruch.« »Es ist Eure Schuld«, sagte Elia. »Selbst wenn der Rat von Akbar heimlich zusammengetreten wäre, hätten der Kommandant und der Priester getan, was sie wollten. Ich war während des gesamten Prozesses von Wachen umstellt. Es war alles von langer Hand geplant.« Im allgemeinen oblag es dem Priester zu bestimmen, wie lange die Qualen dauern sollten. Er bückte sich, ergriff einen Stein und reichte ihn dem Stadthauptmann: Er war weder so groß, daß er zu einem schnellen Tod führte, noch so klein, daß er das Leiden lange hinauszögern würde.
»Ihr zuerst.« »Ihr zwingt mich«, sagte der Stadthauptmann so leise, daß nur der Priester ihn hören konnte. »Aber ich weiß, daß dies der falsche Weg ist.« »All die Jahre habt Ihr mich gezwungen, harte Entscheidungen zu treffen, während Ihr die Entscheidungen fälltet, die dem Volk gefielen«, gab der Priester ebenso leise zurück. »Ich mußte mich mit meinen Zweifeln und Schuldgefühlen herumschlagen und hatte schlaflose Nächte, in denen mich die Schatten der möglicherweise zu Unrecht Verurteilten heimsuchten. Doch eben weil ich nie feige war, ist Akbar heute eine Stadt, die alle Welt beneidet.« Die Leute sammelten Steine auf, alle ungefähr gleich groß wie der des Stadthauptmanns. Eine Zeitlang hörte man nur das Klacken der gegeneinander schlagenden Steine und Felsbrocken. Der Priester fuhr fort: »Es mag eine Fehlentscheidung von mir sein, diesen Mann zum Tod zu verurteilen. Doch was die Ehre unsrer Stadt betrifft, habe ich keine Zweifel. Wir sind keine Feiglinge.« Der Stadthauptmann hob die Hand und warf den Stein. Der Gefangene duckte sich. Die Menge schrie auf. Dann regnete es Steine von allen Seiten.
Der Mann versuchte, sein Gesicht mit den Armen zu schützen, und die Steine trafen seine Brust, seinen Rücken, seinen Magen. Der Stadthauptmann wollte gehen: Er hatte schon öfter Steinigungen beigewohnt und wußte, daß der Tod langsam und schmerzvoll sein würde, daß das Gesicht zu einem Brei aus Knochen, Haar und Blut werden würde und daß die Leute auch dann noch weiter Steine werfen würden, wenn der Körper längst leblos dalag.
In wenigen Minuten würde der Gefangene aufgeben und die Arme senken. War er in seinem Leben ein guter Mensch gewesen, so würden die Götter einen Stein so lenken, daß dieser seine Stirn traf und er ohnmächtig umsank. War er ein grausamer Mensch gewesen, so bliebe er bis zur letzten Minute bei Bewußtsein.
Die Menge schrie, wurde immer grausamer, warf die Steine immer heftiger, und der Verurteilte versuchte sie so gut wie möglich abzuwehren. Dann plötzlich breitete er die Arme aus und sprach in einer Sprache, die alle verstehen konnten und mitten in ihrer Bewegung innehalten ließ: »Es lebe Assyrien!« rief er. »Jetzt blicke ich zu meinem Volk und sterbe froh, weil ich als General sterbe, der versucht hat, das Leben seiner Krieger zu retten. Die Götter werden mich bei sich aufnehmen, und ich sterbe im Vertrauen darauf, daß wir diese Erde erobern werden!« »Seht Ihr?« sagte der Priester. »Er hat unser ganzes Gespräch und unsere ganze Verhandlung mit angehört!« Der Stadthauptmann mußte ihm recht geben. Der Mann sprach ihre Sprache und wußte jetzt, daß im Rat von Akbar Uneinigkeit herrschte.
»Ich bin nicht in der Hölle, weil das Angesicht meines Landes mir Würde und Kraft verleiht. Das Angesicht meines Landes gibt mir Freude! Es lebe Assyrien!« schrie der Verurteilte abermals.
Nachdem das Volk sich von seinem Schrecken erholt hatte, setzte der Steinhagel wieder ein. Der Mann hielt die Arme ausgebreitet, schützte sich nicht mehr – er war ein tapferer Krieger. Sekunden später erbarmten sich die Götter, ein Stein traf ihn an der Stirn, und er wurde ohnmächtig.
»Wir können jetzt gehen«, sagte der Priester. »Das Volk von Akbar wird seine Aufgabe zu Ende bringen.« Elia ging nicht zum Haus der Witwe zurück, sondern hinaus in die Wüste, in der er ziellos umherwanderte.
»Der Herr hat nichts getan«, sagte er zu den Pflanzen und Felsen. »Und er hätte etwas tun können.« Er bereute seine Entscheidung, weil er meinte, daß seinetwegen schon wieder jemand sterben mußte. Wäre er auf den Vorschlag des Priesters eingegangen, den Rat von Akbar hinter verschlossenen Türen tagen zu lassen, hätte der Stadthauptmann ihn mitnehmen können. Sie wären dann gegen den Priester und den Kommandanten zwei gegen zwei gewesen. Sie hätten wohl immer noch wenig Chancen gehabt, sich durchzusetzen, aber doch mehr als bei einem öffentlichen Richtspruch. Schlimmer noch: Es hatte ihn beeindruckt, wie der Priester die Menge angesprochen und gelenkt hatte. Was der Priester gesagt hatte, gefiel ihm gar nicht, zumal er in ihm jemanden vor sich hatte, der die Massen gefügig zu machen wußte. Er würde versuchen, sich das Schauspiel in allen Einzelheiten einzuprägen, damit er es präsent hätte, wenn er dereinst nach Israel zurückkehrte und dem König und seiner Königin gegenüberstand.
Ziellos wanderte Elia weiter, blickte auf die Berge, zur Stadt und hinaus zum Feldlager der Assyrer. Er war nur ein Punkt in diesem Tal, und um ihn herum breitete sich eine unendliche Welt, so groß und weit, daß er ein Leben lang unterwegs sein und doch nie ans Ende gelangen könnte. Seine Freunde wie auch seine Feinde verstanden vielleicht die Welt, in der sie lebten, besser. Sie konnten in ferne Länder reisen, unbekannte Meere befahren, mit gutem Gewissen eine Frau lieben. Keiner von ihnen hörte noch die Engel der Kindheit oder kämpfte gar im Namen des Herrn. Sie lebten in der Gegenwart und waren glücklich dabei.
Er war auch nur ein Mensch wie alle anderen – und in diesem Augenblick, da er durch das Tal wanderte, wünschte er mehr denn je, die Stimme des Herrn und seiner Engel nie vernommen zu haben. Doch das Leben besteht nicht aus Wünschen, sondern aus den Taten eines jeden einzelnen. Wie oft hatte er schon versucht, seine Mission aufzugeben, und dennoch war er jetzt hier in der Wüste, weil der Herr es so wollte.
»Mein Gott, dabei könnte ich einfach nur Tischler sein und so Deinem Werk dienen.« Doch Elia tat wie geheißen, und er trug schwer an dem sich abzeichnenden Krieg, an dem Massaker Isebels an den Propheten, der Steinigung des assyrischen Generals und an seiner Angst vor der Liebe zu einer Frau aus Akbar. Der Herr hatte ihn beschenkt, doch Elia wußte nicht, was er mit dem Geschenk anfangen sollte.
Dann, mitten im Tal, erschien das Licht. Es war nicht sein Schutzengel, den er sonst immer hörte und selten sah. Es war ein Engel des Herrn, der kam, um ihn zu trösten.
»Ich kann hier nichts mehr tun«, sagte Elia. »Wann werde ich nach Israel zurückkehren?« »Wenn du gelernt hast, wieder aufzubauen«, antwortete der Engel. »Doch denk an das, was Gott Mose vor einem Kampf gelehrt hat. Genieße jeden Augenblick, damit du später nichts bereust, noch das Gefühl hast, deine Jugend verloren zu haben. Denn sonst kommt es so: Mit einem Mädchen wirst du dich verloben; aber ein anderer wird es sich nehmen. Ein Haus wirst du bauen; aber du wirst nicht darin wohnen. Einen Weinberg wirst du pflanzen, aber du wirst seine Früchte nicht genießen.
Gott gibt jedem Alter des Menschen seine dazugehörigen Sorgen.« Und Elia wanderte lange und versuchte zu begreifen, was er gehört hatte. Als er sich umdrehte, um zurück nach Akbar zu gehen, sah er die Frau, die er liebte, ganz in der Nähe vor dem Fünften Berg auf einem Stein sitzen.
>Was macht sie dort? Weiß sie etwa von dem Richtspruch, vom Todesurteil und von den Gefahren, die uns jetzt erwarten?< Er mußte sie unverzüglich warnen. Und er ging zu ihr.
Sie bemerkte ihn und winkte. Da waren die Worte des Engels wie weggewischt, denn Elias Unsicherheit kehrte schlagartig zurück. Er versuchte so zu tun, als sei er mit den Problemen der Stadt beschäftigt, damit sie nicht bemerkte, wie sehr sein Herz und sein Verstand verwirrt waren.
»Was macht Ihr hier?« fragte er, als er vor ihr stand.
»Ich kam, um ein wenig Inspiration zu suchen. Die Schrift, die ich lerne, ließ mich daran denken, wie die Täler, die Berge, die Stadt Akbar gezeichnet sind. Kaufleute haben mir Tusche in allen Farben gegeben, damit ich für sie schreibe.
Jetzt will ich sie dazu verwenden, die Welt zu beschreiben, in der ich lebe, aber ich weiß, daß es schwierig ist: Obwohl ich alle Farben habe, kann nur der Herr sie so harmonisch mischen.« Sie starrte auf den Fünften Berg. Sie war eine ganz andere Frau geworden, als die, die er wenige Monate zuvor beim Brennholzsammeln angetroffen hatte. Daß sie sich allein mitten in die Wüste wagte, flößte ihm Achtung und Vertrauen ein.
»Warum tragen alle Berge einen Namen, nur der Fünfte Berg nicht?« fragte Elia.
»Um keinen Streit zwischen den Göttern zu stiften«, antwortete sie. »Man sagte uns, wenn der Mensch diesen Berg nach einem bestimmten Gott benannt hätte, wären die anderen zornig geworden und hätten die Erde zerstört. Daher heißt er der Fünfte Berg, weil es der fünfte Berg ist, den wir jenseits der Mauern sehen. So ist keiner gekränkt – und das Universum bleibt unversehrt.« Sie schwiegen eine Weile. Die Frau brach das Schweigen.
»Ich habe nicht nur über die Farben nachgedacht, sondern auch über die Gefahr der Byblos-Schrift. Sie könnte die phönizischen Götter und Gott unseren Herrn erzürnen.« »Es gibt nur den Herrn«, unterbrach Elia. »Und alle zivilisierten Länder haben eine Schrift.« »Die ist aber nicht überall dieselbe. Als Kind ging ich immer zum Marktplatz, um dem Wortemaler bei der Arbeit für die Kaufleute zuzusehen. Seine Zeichnungen, die auf der ägyptischen Schrift basierten, verlangten viel Wissen und Können. Jetzt befindet sich das alte, mächtige Ägypten im Niedergang, hat kein Geld mehr, um irgend etwas zu kaufen, und niemand benutzt mehr seine Schrift. Die Seefahrer von Tyrus und Sidon verbreiten die Schrift von Byblos auf der ganzen Welt. Die heiligen Worte und Zeremonien können auf Tontafeln geschrieben und von Land zu Land weitergereicht werden. Was wird aus der Welt, wenn skrupellose Menschen beginnen, die Rituale zu benutzen, um ins Universum einzugreifen?« Elia begriff, was die Frau sagen wollte. Die Schrift von Byblos beruhte auf einem einfachen System: Man brauchte nur die ägyptischen Zeichnungen in Laute umzuwandeln und dann jedem Laut einen Buchstaben zuzuweisen. Brachte man dann die Buchstaben in eine Ordnung, konnte man alle nur möglichen Laute schaffen und alles beschreiben, was es im Universum gab.