Morgenröthe - Nietzsche Friedrich 3 стр.


22.

Werke und Glaube. — Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrthum fortgepflanzt: dass es nur auf den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die Werke nothwendig folgen müssen. Diess ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch, dass es schon andere Intelligenzen, als die Luther's (nämlich die des Sokrates und Plato) bethört hat: obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vieltheiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muss, damit irgend Etwas aus einer Vorstellung sich in Action verwandeln könne. Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisst Übung, Übung, Übung! Der dazu gehörige» Glaube «wird sich schon einstellen, — dessen seid versichert!

23.

Worin wir am feinsten sind. — Dadurch, dass man sich viele Tausend Jahre lang die Sachen (Natur, Werkzeuge, Eigenthum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der Ohnmacht unter den Menschen viel grösser und viel häufiger gewesen, als es hätte sein müssen: man hatte ja nöthig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Thiere, durch Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträge, Opfer, — und hier ist der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heisst eines erheblichen, vielleicht überwiegenden und trotzdem vergeudeten und unnützen Bestandtheils aller von Menschen bisher geübten Thätigkeit! — Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, dass es jetzt hierin der Mensch mit der delicatesten Goldwage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur.

24.

Der Beweis einer Vorschrift. — Im Allgemeinen wird die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der, Brod zu backen, so bewiesen, dass das in ihr versprochene Resultat sich ergiebt oder nicht ergiebt, vorausgesetzt, dass sie genau ausgeführt wird. Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften: denn hier sind gerade die Resultate nicht zu übersehen, oder deutbar und unbestimmt. Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen Werthe, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde gleich unmöglich ist: — aber einstmals, bei der ursprünglichen Rohheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprüchen, die man machte, um ein Ding für erwies en zu nehmen, — einstmals wurde die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt wie jetzt die jeder anderen Vorschrift: durch Hinweisung auf den Erfolg. Wenn bei den Eingeborenen in Russisch-Amerika die Vorschrift gilt: du sollst keinen Thierknochen in's Feuer werfen oder den Hunden geben, — so wird sie so bewiesen:»thue es und du wirst kein Glück auf der Jagd haben. «Nun aber hat man in irgend einem Sinne fast immer» kein Glück auf der Jagd«; es ist nicht leicht möglich, die Güte der Vorschrift auf diesem Wege zu widerlegen, namentlich wenn eine Gemeinde und nicht ein Einzelner als Träger der Strafe gilt; vielmehr wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift zu beweisen scheint.

25.

Sitte und Schönheit. — Zu Gunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, dass bei Jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeginn an unterwirft, die Angriffs- und Vertheidigungsorgane — die körperlichen und geistigen — verkümmern: das heisst, er wird zunehmend schöner! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche hässlich erhält und hässlicher macht. Der alte Pavian ist darum hässlicher, als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. — Hiernach mache man einen Schluss auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!

26.

Die Thiere und die Moral. — Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaassenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl, wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleich-geben, Sich-einordnen, Sich-verringern, — diess Alles als die gesellschaftliche Moral ist im Groben überall bis in die tiefste Thierwelt hinab zu finden, — und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Desshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, dass manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge der sogenannten» chromatischen Function«), dass sie sich todt stellen oder die Formen und Farben eines anderen Thieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der Einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes» Mensch «oder unter der Gesellschaft, oder passt sich an Fürsten, Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das thierische Gleichniss finden. Auch jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Thiere gemeinsam: man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irre führen lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften misstrauisch zu, man bezwingt sich und bleibt gegen sich auf der Lauer; diess Alles versteht das Thier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Thiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich» objectiv «nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntniss. Das Thier beurtheilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigenthümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen Einzelne einer bestimmten Gattung giebt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso erräth es in der Annäherung mancher Arten von Thieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, — kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist thierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, dass auch der höchste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriffe dessen, was ihm Alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen.

27.

Der Werth im Glauben an übermenschliche Leidenschaften. — Die Institution der Ehe hält hartnäckig den Glauben aufrecht, dass die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja dass die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. Durch diese Zähigkeit eines edlen Glaubens, trotzdem dass derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen höheren Adel gegeben. Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft Glauben an ihre Dauer und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben: und Der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seines Gleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer übermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.

28.

Die Stimmung als Argument. — Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur That? — Diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch geläufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er giebt uns dadurch zu verstehen, dass er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Handlungen vor der Seele standen, so.-»ich werde Das thun, wobei jenes Gefühl sich einstellt. «Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele muthig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Wagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit: desshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheisst und durch sie seine Vernunft als die höchste Vernünftigkeit reden lässt. Nun erwäge man die Folgen eines solchen Vorurtheils, wenn kluge und machtdurstige Männer sich seiner bedienten — und bedienen!» Stimmung machen!«— damit kann man alle Gründe ersetzen und alle Gegengründe besiegen!

29.

Die Schauspieler der Tugend und der Sünde. — Unter den Männern des Alterthums, welche durch ihre Tugend berühmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Un- und Überzahl von solchen, die vor sich selber schauspielerten: namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, diess eben ganz unwillkürlich gethan und für gut befunden haben. Dazu war Jeder mit seiner Tugend im Wettstreit mit der Tugend eines Andern oder aller Anderen: wie sollte man nicht alle Künste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor Allem vor sich selber, schon um der Übung willen! Was nützte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte oder die sich nicht zu zeigen verstand! — Diesen Schauspielern der Tugend that das Christenthum Einhalt: dafür erfand es das widerliche Prunken und Paradiren mit der Sünde, es brachte die erlogene Sündhaftigkeit in die Welt (bis zum heutigen Tage gilt sie als» guter Ton «unter guten Christen).

30.

Die verfeinerte Grausamkeit als Tugend. — Hier ist eine Moralität, die ganz auf dem Triebe nach Auszeichnung beruht, — denkt nicht zu gut von ihr! Was ist denn das eigentlich für ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke? Man will machen, dass unser Anblick dem Anderen wehe thue und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen unseres Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohlthat in's Auge sieht. Dieser ist demüthig geworden und vollkommen jetzt in seiner Demuth, — suchet nach Denen, welchen er damit seit langer Zeit eine Tortur hat machen wollen! ihr werdet sie schon finden! Jener zeigt Erbarmen gegen die Thiere und wird desshalb bewundert, — aber es giebt gewisse Menschen, an welchen er eben damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein grosser Künstler: die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis dass er gross geworden ist, — wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich für das Grosswerden zahlen lassen! Die Keuschheit der Nonne: mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anders lebender Frauen! wie viel Lust der Rache ist in diesen Augen! — Das Thema ist kurz, die Variationen darauf könnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, — denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehethuende Neuigkeit, dass die Moralität der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde — das soll hier heissen: jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich vererbt, wird doch der Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich fort): und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. Diese Lust aber ist die erste Stufe des» Guten«.

31.

Der Stolz auf den Geist. — Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt, — dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurtheil über Das, was Geist ist: und dieses Vorurtheil ist verhältnissmässig jung. In der grossen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Thieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste Das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, — und ebenfalls in Folge eines Vorurtheils.

32.

Der Hemmschuh. — Moralisch zu leiden und dann zu hören, dieser Art Leiden liege ein Irrthum zu Grunde, diess empört. Es giebt ja einen so einzigen Trost, durch sein Leiden eine» tiefere Welt der Wahrheit «zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will viel lieber leiden und sich dabei über die Wirklichkeit erhaben fühlen (durch das Bewusstsein, jener» tieferen Welt der Wahrheit «damit nahe zu kommen) als ohne Leid und dann ohne diess Gefühl des Erhabenen sein. Somit ist es der Stolz und die gewohnte Art, ihn zu befriedigen, welche sich dem neuen Verständniss der Moral entgegenstemmen. Welche Kraft wird man also anzuwenden haben, um diesen Hemmschuh zu beseitigen? Mehr Stolz? Einen neuen Stolz?

33.

Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. — Jene bösen Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, dass Verstösse gegen die Sitte begangen sind oder dass neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellects: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Missfallen der Götter an der Versäumniss eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält diess zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch für werthvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht dass sie es an sich oder für immer sein müssten: aber gewiss wird von allen allmählichen Reinigungen, welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein.

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