Götzen-Dämmerung - Nietzsche Friedrich 2 стр.


6.

Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Nothwehr sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch? —

7.

— Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus? Rächt er sich an den Vornehmen, die er fascinirt? — Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den Intellekt seines Gegners. — Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache bei Sokrates?

8.

Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte. — Dass er eine neue Art Agon entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte, — er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein großer Erotiker.

9.

Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen Athener; er begriff, dass sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. — Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, — sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung ... Überall waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. »Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist« ... Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt. »Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr.« Wie wurde Sokrates über sich Herr? — Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall — seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses Falls. —

10.

Wenn man nöthig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen als Retterin, es stand weder Sokrates, noch seinen »Kranken« frei, vernünftig zu sein, — es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder — absurd-vernünftig zu sein ... Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen — das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewusste führt hinab ...

11.

Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die »Vernünftigkeit um jeden Preis« lag? — Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence — sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss; die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein Missverständniss ... Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit — und durchaus kein Rückweg zur »Tugend«, zur »Gesundheit«, zum Glück ... Die Instinkte bekämpfen müssen — das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt. —

12.

— Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller Selbstüberlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines Muthes zum Tode? ... Sokrates wollte sterben: — nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher ... Sokrates ist kein Arzt sprach er leise zu sich: der Tod allein ist hier Arzt ... Sokrates selbst war nur lange krank ...«

Die »Vernunft« in der Philosophie.

1.

Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist? ... Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aetemi, — wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, — sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, — Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was wird ist nicht ... Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an's Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man's ihnen vorenthält. »Es muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?« — »Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind, sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, — Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist Alles »Volk«. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! — Und weg vor Allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!«...

2.

Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit's bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, — sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer ... Die »Vernunft« ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht ... Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die »scheinbare« Welt ist die einzige: die ,wahre Welt ist nur hinzugelogen ...

3.

— Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen, — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. —

4.

Die andre Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich: sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt — leider! denn es sollte gar nicht kommen! — die »höchsten Begriffe«, das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein ... Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne — das Alles kann nicht geworden sein, muss folglich causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein ... Damit haben sie ihren stupenden Begriff »Gott« ... Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum ... Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen! — Und sie hat theuer dafür gezahlt! ...

5.

— Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (- ich sage höflicher Weise wir ... ) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen. Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an's »Ich«, an's Ich als Sein, an's Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge — es schafft erst damit den Begriff »Ding« ... Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception »Ich« folgt erst, als abgeleitet, der Begriff »Sein« ... Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt, — dass Wille ein Vermögen ist ... Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist ... Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die Sicherheit, die subjektive Gewissheit in der Handhabung der Vemunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein: sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, — die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woher also stammen sie? — Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: »wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (- statt in einer sehr viel niederen: was die Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, denn wir haben die Vernunft!« ... In der That, Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! — Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand ... Die »Vernunft« in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben ...

6.

Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.

Erster Satz. Die Gründe, darauf hin »diese« Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, — eine andre Art Realität ist absolut unnachweisbar.

Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem »wahren Sein« der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht Seins, des Nichts, — man hat die »wahre Welt« aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine moralisch-optische Täuschung ist.

Dritter Satz. Von einer »andren« Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines »anderen«, eines »besseren« Lebens.

Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine »wahre« und eine »scheinbare«, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, — ein Symptom niedergehenden Lebens ... Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn »der Schein« bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur ... Der tragische Künstler ist kein Pessimist, — er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch ...

Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde.

Geschichte eines Irrthums.

1.

Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, — er lebt in ihr, er ist sie.

(Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes »ich, Plato, bin die Wahrheit«.)

2.

Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (»für den Sünder, der Busse thut«).

(Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, — sie wird Weib, sie wird christlich ... )

3.

Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.

(Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.)

4.

Die wahre Welt — unerreichbar? jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? ...

Назад Дальше