Warum ich so klug bin.
— Warum ich Einiges mehr weiss? Warum ich überhaupt so klug bin? Ich habe nie über Fragen nachgedacht, die keine sind, — ich habe mich nicht verschwendet. — Eigentliche religiöse Schwierigkeiten zum Beispiel kenne ich nicht aus Erfahrung. Es ist mir gänzlich entgangen, in wiefern ich »sündhaft« sein sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiss ist: nach dem, was man darüber hört, scheint mir ein Gewissensbiss nichts Achtbares ... Ich möchte nicht eine Handlung hinterdrein in Stich lassen, ich würde vorziehn, den schlimmen Ausgang, die Folgen grundsätzlich aus der Werthfrage wegzulassen. Man verliert beim schlimmen Ausgang gar zu leicht den richtigen Blick für Das, was man that: ein Gewissensbiss scheint mir eine Art »böser Blick«. Etwas, das fehlschlägt, um so mehr bei sich in Ehren halten, weil es fehlschlug — das gehört eher schon zu meiner Moral. — »Gott«, »Unsterblichkeit der Seele«, »Erlösung«, »Jenseits« lauter Begriffe, denen ich keine Aufmerksamkeit, auch keine Zeit geschenkt habe, selbst als Kind nicht, — ich war vielleicht nie kindlich genug dazu? — Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebniss, noch weniger als Ereigniss: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig, zu fragwürdig, zu übermüthig, um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen. Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker —, im Grunde sogar bloss ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken! ... Ganz anders interessirt mich eine Frage, an der mehr das »Heil der Menschheit« hängt, als an irgend einer Theologen-Curiosität: die Frage der Ernährung. Man kann sie sich, zum Handgebrauch, so formuliren: »wie hast gerade du dich zu ernähren, um zu deinem Maximum von Kraft, von Virtù im Renaissance-Stile, von moralinfreier Tugend zu kommen?« — Meine Erfahrungen sind hier so schlimm als möglich; ich bin erstaunt, diese Frage so spät gehört, aus diesen Erfahrungen so spät »Vernunft« gelernt zu haben. Nur die vollkommne Nichtswürdigkeit unsrer deutschen Bildung — ihr »Idealismus« — erklärt mir einigermaassen, weshalb ich gerade hier rückständig bis zur Heiligkeit war. Diese »Bildung«, welche von vornherein die Realitäten aus den Augen verlieren lehrt, um durchaus problematischen, sogenannten »idealen« Zielen nachzujagen, zum Beispiel der »klassischen Bildung«: — als ob es nicht von vornherein verurtheilt wäre, »klassisch«, und »deutsch« in Einen Begriff zu einigen! Mehr noch, es wirkt erheiternd, — man denke sich einmal einen »klassisch gebildeten« Leipziger! — In der That, ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur schlecht gegessen, — moralisch ausgedrückt »unpersönlich«, »selbstlos«, »altruistisch«, zum Heil der Köche und andrer Mitchristen. Ich verneinte zum Beispiel durch Leipziger Küche, gleichzeitig mit meinem ersten Studium Schopenhauer's (1865), sehr ernsthaft meinen »Willen zum Leben«. Sich zum Zweck unzureichender Ernährung auch noch den Magen verderben — dies Problem schien mir die genannte Küche zum Verwundern glücklich zu lösen. (Man sagt, 1866 habe darin eine Wendung hervorgebracht —.) Aber die deutsche Küche überhaupt — was hat sie nicht Alles auf dem Gewissen! Die Suppe vor der Mahlzeit (noch in Venetianischen Kochbüchern des 16. Jahrhunderts alla tedesca genannt); die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer! Rechnet man gar noch die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfnisse der alten, durchaus nicht bloss alten Deutschen dazu, so versteht man auch die Herkunft des deutschen Geistes — aus betrübten Eingeweiden ... Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit Nichts fertig. — Aber auch die englische Diät, die, im Vergleich mit der deutschen, selbst der französischen, eine Art »Rückkehr zur Natur«, nämlich zum Canibalismus ist, geht meinem eignen Instinkt tief zuwider; es scheint mir, dass sie dem Geist schwere Füsse giebt — Engländerinnen-Füsse ... Die beste Küche ist die Piemont's. — Alkoholika sind mir nachtheilig; ein Glas Wein oder Bier des Tags reicht vollkommen aus, mir aus dem Leben ein »Jammerthal« zu machen, — in München leben meine Antipoden. Gesetzt, dass ich dies ein wenig spät begriff, erlebt habe ich's eigentlich von Kindesbeinen an. Als Knabe glaubte ich, Weintrinken sei wie Tabakrauchen anfangs nur eine Vanitas junger Männer, später eine schlechte Gewöhnung. Vielleicht, dass an diesem herben Urtheil auch der Naumburger Wein mit schuld ist. Zu glauben, dass der Wein erheitert, dazu müsste ich Christ sein, will sagen glauben, was gerade für mich eine Absurdität ist. Seltsam genug, bei dieser extremen Verstimmbarkeit durch kleine, stark verdünnte Dosen Alkohol, werde ich beinahe zum Seemann, wenn es sich um starke Dosen handelt. Schon als Knabe hatte ich hierin meine Tapferkeit. Eine lange lateinische Abhandlung in Einer Nachtwache niederzuschreiben und auch noch abzuschreiben, mit dem Ehrgeiz in der Feder, es meinem Vorbilde Sallust in Strenge und Gedrängtheit nachzuthun und einigen Grog von schwerstem Kaliber über mein Latein zu giessen, dies stand schon, als ich Schüler der ehrwürdigen Schulpforta war, durchaus nicht im Widerspruch zu meiner Physiologie, noch vielleicht auch zu der des Sallust wie sehr auch immer zur ehrwürdigen Schulpforta ... Später, gegen die Mitte des Lebens hin, entschied ich mich freilich immer strenger gegen jedwedes »geistige« Getränk: ich, ein Gegner des Vegetarierthums aus Erfahrung, ganz wie Richard Wagner, der mich bekehrt hat, weiss nicht ernsthaft genug die unbedingte Enthaltung von Alcoholicis allen geistigeren Naturen anzurathen. Wasser thut's ... Ich ziehe Orte vor, wo man überall Gelegenheit hat, aus fliessenden Brunnen zu schöpfen (Nizza, Turin, Sils); ein kleines Glas läuft mir nach wie ein Hund. In vino veritas: es scheint, dass ich auch hier wieder über den Begriff »Wahrheit« mit aller Welt uneins bin: — bei mir schwebt der Geist über dem Wasser... Ein paar Fingerzeige noch aus meiner Moral. Eine starke Mahlzeit ist leichter zu verdauen als eine zu kleine. Dass der Magen als Ganzes in Thätigkeit tritt, erste Voraussetzung einer guten Verdauung. Man muss die Grösse seines Magens kennen. Aus gleichem Grunde sind jene langwierigen Mahlzeiten zu widerrathen, die ich unterbrochne Opferfeste nenne, die an der table d'hôte. — Keine Zwischenmahlzeiten, keinen Café: Café verdüstert. Thee nur morgens zuträglich. Wenig, aber energisch; Thee sehr nachtheilig und den ganzen Tag ankränkelnd, wenn er nur um einen Grad zu schwach ist. Jeder hat hier sein Maass, oft zwischen den engsten und delikatesten Grenzen. In einem sehr agaçanten Klima ist Thee als Anfang unräthlich: man soll eine Stunde vorher eine Tasse dicken entölten Cacao's den Anfang machen lassen. — So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. — Das Sitzfleisch — ich sagte es schon einmal — die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.
Mit der Frage der Ernährung ist nächstverwandt die Frage nach Ort und Klima. Es steht Niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den Stoffwechsel, seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann: er bekommt sie nie zu Gesicht. Der animalische vigor ist nie gross genug bei ihm geworden, dass jene ins Geistigste überströmende Freiheit erreicht wird, wo jemand erkennt: das kann ich allein ... Eine zur schlechten Gewohnheit gewordne noch so kleine Eingeweide-Trägheit genügt vollständig, um aus einem Genie etwas Mittelmässiges, etwas »Deutsches«, zu machen; das deutsche Klima allein ist ausreichend, um starke und selbst heroisch angelegte Eingeweide zu entmuthigen. Das tempo des Stoffwechsels steht in einem genauen Verhältniss zur Beweglichkeit oder Lahmheit der Füsse des Geistes; der »Geist« selbst ist ja nur eine Art dieses Stoffwechsels. Man stelle sich die Orte zusammen, wo es geistreiche Menschen giebt und gab, wo Witz, Raffinement, Bosheit zum Glück gehörten, wo das Genie fast nothwendig sich heimisch machte: sie haben alle eine ausgezeichnet trockne Luft. Paris, die Provence, Florenz, Jerusalem, Athen — diese Namen beweisen Etwas: das Genie ist bedingt durch trockne Luft, durch reinen Himmel, — das heisst durch rapiden Stoffwechsel, durch die Möglichkeit, grosse, selbst ungeheure Mengen Kraft sich immer wieder zuzuführen. Ich habe einen Fall vor Augen, wo ein bedeutend und frei angelegter Geist bloss durch Mangel an Instinkt-Feinheit im Klimatischen eng, verkrochen, Specialist und Sauertopf wurde. Und ich selber hätte zuletzt dieser Fall werden können, gesetzt, dass mich nicht die Krankheit zur Vernunft, zum Nachdenken über die Vernunft in der Realität gezwungen hätte. Jetzt, wo ich die Wirkungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs aus langer Übung an mir als an einem sehr feinen und zuverlässigen Instrumente ablese und bei einer kurzen Reise schon, etwa von Turin nach Mailand, den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit physiologisch bei mir nachrechne, denke ich mit Schrecken an die unheimliche Tatsache, dass mein Leben bis auf die letzten 10 Jahre, die lebensgefährlichen Jahre, immer sich nur in falschen und mir geradezu verbotenen Orten abgespielt hat. Naumburg, Schulpforta, Thüringen überhaupt, Leipzig, Basel — ebenso viele Unglücks-Orte für meine Physiologie. Wenn ich überhaupt von meiner ganzen Kindheit und Jugend keine willkommne Erinnerung habe, so wäre es eine Thorheit, hier sogenannte »moralische« Ursachen geltend zu machen, — etwa den unbestreitbaren Mangel an zureichender Gesellschaft: denn dieser Mangel besteht heute wie er immer bestand, ohne dass er mich hinderte, heiter und tapfer zu sein. Sondern die Unwissenheit in physiologicis — der verfluchte »Idealismus« — ist das eigentliche Verhängniss in meinem Leben, das überflüssige und Dumme darin, Etwas, aus dem nichts Gutes gewachsen, für das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen dieses »Idealismus« erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle grossen Instinkt-Abirrungen und »Bescheidenheiten« abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe wurde — warum zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschliessendes? In meiner Basler Zeit war meine ganze geistige Diät, die Tages-Eintheilung eingerechnet, ein vollkommen sinnloser Missbrauch ausserordentlicher Kräfte, ohne eine irgendwie den Verbrauch deckende Zufuhr von Kräften, ohne ein Nachdenken selbst über Verbrauch und Ersatz. Es fehlte jede feinere Selbstigkeit, jede Obhut eines gebieterischen Instinkts, es war ein Sich-gleichsetzen mit Irgendwem, eine »Selbstlosigkeit«, ein Vergessen seiner Distanz, — Etwas, das ich mir nie verzeihe. Als ich fast am Ende war, dadurch das sich fast am Ende war, wurde ich nachdenklich über diese Grund-Unvernunft meines Lebens — den »Idealismus«. Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft. —
Die Wahl in der Ernährung; die Wahl von Klima und Ort; das Dritte, worin man um keinen Preis einen Fehlgriff thun darf, ist die Wahl seiner Art Erholung. Auch hier sind je nach dem Grade, in dem ein Geist sui generis ist, die Grenzen des ihm Erlaubten, das heisst Nützlichen, eng und enger. In meinem Fall gehört alles Lesen zu meinen Erholungen: folglich zu dem, was mich von mir losmacht, was mich in fremden Wissenschaften und Seelen spazieren gehn lässt, — was ich nicht mehr ernst nehme. Lesen erholt mich eben von meinem Ernste. In tief arbeitsamen Zeiten sieht man keine Bücher bei mir: ich würde mich hüten, jemanden in meiner Nähe reden oder gar denken zu lassen. Und das hiesse ja lesen ... Hat man eigentlich beobachtet, dass in jener tiefen Spannung, zu der die Schwangerschaft den Geist und im Grunde den ganzen Organismus verurtheilt, der Zufall, jede Art Reiz von aussen her zu vehement wirkt, zu tief »einschlägt«? Man muss dem Zufall, dem Reiz von aussen her so viel als möglich aus dem Wege gehn; eine Art Selbst-Vermauerung gehört zu den ersten Instinkt-Klugheiten der geistigen Schwangerschaft. Werde ich es erlauben, dass ein fremder Gedanke heimlich über die Mauer steigt? — Und das hiesse ja lesen... Auf die Zeiten der Arbeit und Fruchtbarkeit folgt die Zeit der Erholung: heran mit euch, ihr angenehmen, ihr geistreichen, ihr gescheuten Bücher! — Werden es deutsche Bücher sein? ... Ich muss ein Halbjahr zurückrechnen, dass ich mich mit einem Buch in der Hand ertappe. Was war es doch? — Eine ausgezeichnete Studie von Victor Brochard, les Sceptiques Grecs, in der auch meine Laertiana gut benutzt sind. Die Skeptiker, der einzige ehrenwerthe Typus unter dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen! ... Sonst nehme ich meine Zuflucht fast immer zu den selben Büchern, einer kleinen Zahl im Grunde, den gerade für mich bewiesenen Büchern. Es liegt vielleicht nicht in meiner Art, Viel und Vielerlei zu lesen: ein Lesezimmer macht mich krank. Es liegt auch nicht in meiner Art, Viel oder Vielerlei zu lieben. Vorsicht, selbst Feindseligkeit gegen neue Bücher gehört eher schon zu meinem Instinkte, als »Toleranz«, »largeur du coeur« und andre »Nächstenliebe« ... Im Grunde ist es eine kleine Anzahl älterer Franzosen zu denen ich immer wieder zurückkehre: ich glaube nur an französische Bildung und halte Alles, was sich sonst in Europa »Bildung« nennt, für Missverständniss, nicht zu reden von der deutschen Bildung ... Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand, waren alle französischer Herkunft, vor Allem Frau Cosima Wagner, bei weitem die erste Stimme in Fragen des Geschmacks, die ich gehört habe... Dass ich Pascal nicht lese, sondern liebe, als das lehrreichste Opfer des Christenthums, langsam hingemordet, erst leiblich, dann psychologisch, die ganze Logik dieser schauderhaftesten Form unmenschlicher Grausamkeit; dass ich Etwas von Montaigne's Muthwillen im Geiste, wer weiss? vielleicht auch im Leibe habe; dass mein Artisten-Geschmack die Namen Molière, Corneille und Racine nicht ohne Ingrimm gegen ein wüstes Genie wie Shakespeare in Schutz nimmt: das schliesst zuletzt nicht aus, dass mir nicht auch die allerletzten Franzosen eine charmante Gesellschaft wären. Ich sehe durchaus nicht ab, in welchem Jahrhundert der Geschichte man so neugierige und zugleich so delikate Psychologen zusammenfischen könnte, wie im jetzigen Paris: ich nenne versuchsweise — denn ihre Zahl ist gar nicht klein — die Herrn Paul Bourget, Pierre Loti, Gyp, Meilhac, Anatole France, Jules Lemaître, oder um Einen von der starken Rasse hervorzuheben, einen echten Lateiner, dem ich besonders zugethan bin, Guy de Maupassant. Ich ziehe diese Generation, unter uns gesagt, sogar ihren grossen Lehrern vor, die allesammt durch deutsche Philosophie verdorben sind: Herr Taine zum Beispiel durch Hegel, dem er das Missverständniss grosser Menschen und Zeiten verdankt. So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur. Der Krieg erst hat den Geist in Frankreich »erlöst« ... Stendhal, einer der schönsten Zufälle meines Lebens — denn Alles, was in ihm Epoche macht, hat der Zufall, niemals eine Empfehlung mir zugetrieben — ist ganz unschätzbar mit seinem vorwegnehmenden Psychologen-Auge, mit seinem Thatsachen-Griff, der an die Nähe des grössten Thatsächlichen erinnert (ex ungue Napoleonem —); endlich nicht am Wenigsten als ehrlicher Atheist, eine in Frankreich spärliche und fast kaum auffindbare species, — Prosper Mérimée in Ehren ... Vielleicht bin ich selbst auf Stendhal neidisch? Er hat mir den besten Atheisten-Witz weggenommen, den gerade ich hätte machen können: »die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existirt« ... Ich selbst habe irgendwo gesagt: was war der grösste Einwand gegen das Dasein bisher? Gott...
Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik. Er besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag, — ich schätze den Werth von Menschen, von Rassen darnach ab, wie nothwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen. — Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind — in einer unausrechenbaren Entfernung von Allem, was blosse Deutsche mit ihr gemacht haben. — Mit Byrons Manfred muss ich tief verwandt sein: ich fand alle diese Abgründe in mir, — mit dreizehn Jahren war ich für dies Werk reif. Ich habe kein Wort, bloss einen Blick für die, welche in Gegenwart des Manfred das Wort Faust auszusprechen wagen. Die Deutschen sind unfähig jedes Begriffs von Grösse: Beweis Schumann. Ich habe eigens, aus Ingrimm gegen diesen süsslichen Sachsen, eine Gegenouvertüre zum Manfred componirt, von der Hans von Bülow sagte, dergleichen habe er nie auf Notenpapier gesehn: das sei Nothzucht an der Euterpe. — Wenn ich meine höchste Formel für Shakespeare suche, so finde ich immer nur die, dass er den Typus Cäsar concipirt hat. Dergleichen erräth man nicht, — man ist es oder man ist es nicht. Der grosse Dichter schöpft nur aus seiner Realität — bis zu dem Grade, dass er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält... Wenn, ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden. — Ich kenne keine herzzerreissendere Lektüre als Shakespeare: was muss ein Mensch gelitten haben, um dergestalt es nöthig zu haben, Hanswurst zu sein! — Versteht man den Hamlet? Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht ... Aber dazu muss man tief, Abgrund, Philosoph sein, um so zu fühlen... Wir fürchten uns Alle vor der Wahrheit ... Und, dass ich es bekenne: ich bin dessen instinktiv sicher und gewiss, dass Lord Bacon der Urheber, der Selbstthierquäler dieser unheimlichsten Art Litteratur ist: was geht mich das erbarmungswürdige Geschwätz amerikanischer Wirr- und Flachköpfe an? Aber die Kraft zur mächtigsten Realität der Vision ist nicht nur verträglich mit der mächtigsten Kraft zur That, zum Ungeheuren der That, zum Verbrechen sie setzt sie selbst voraus... Wir wissen lange nicht genug von Lord Bacon, dem ersten Realisten in jedem grossen Sinn des Wortes, um zu wissen, was er Alles gethan, was er gewollt, was er mit sich erlebt hat ... Und zum Teufel, mein
Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nöthig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am Tiefsten und Herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne allen Zweifel der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle — der tiefen Augenblicke... Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben: über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen. — Und hiermit komme ich nochmals auf Frankreich zurück, — ich habe keine Gründe, ich habe bloss einen verachtenden Mundwinkel gegen Wagnerianer et hoc genus omne übrig, welche Wagner damit zu ehren glauben, dass sie ihn sich ähnlich finden ... So wie ich bin, in meinen tiefsten Instinkten Allem, was deutsch ist, fremd, so dass schon die Nähe eines Deutschen meine Verdauung verzögert, war die erste Berührung mit Wagner auch das erste Aufathmen in meinem Leben: ich empfand, ich verehrte ihn als Ausland, als Gegensatz, als leibhaften Protest gegen alle »deutschen Tugenden« — Wir, die wir in der Sumpfluft der Fünfziger Jahre Kinder gewesen sind, sind mit Nothwendigkeit Pessimisten für den Begriff »deutsch«; wir können gar nichts Anderes sein als Revolutionäre, — wir werden keinen Zustand der Dinge zugeben, wo der Mucker obenauf ist. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob er heute in andren Farben spielt, ob er sich in Scharlach kleidet und Husaren-Uniformen anzieht ... Wohlan! Wagner war ein Revolutionär — er lief vor den Deutschen davon ... Als Artist hat man keine Heimat in Europa ausser in Paris; die délicatesse in allen fünf Kunstsinnen, die Wagner's Kunst voraussetzt, die Finger für nuances, die psychologische Morbidität, findet sich nur in Paris. Man hat nirgendswo sonst diese Leidenschaft in Fragen der Form, diesen Ernst in der mise en scène — es ist der Pariser Ernst par excellence. Man hat in Deutschland gar keinen Begriff von der ungeheuren Ambition, die in der Seele eines Pariser Künstlers lebt. Der Deutsche ist gutmüthig — Wagner war durchaus nicht gutmüthig ... Aber ich habe schon zur Genüge ausgesprochen (in »Jenseits von Gut und Böse« S. 256 f.), wohin Wagner gehört, in wem er seine Nächstverwandten hat: es ist die französische Spät-Romantik, jene hochfliegende und hoch emporreissende Art von Künstlern wie Delacroix, wie Berlioz, mit einem fond von Krankheit, von Unheilbarkeit im Wesen, lauter Fanatiker des Ausdrucks, Virtuosen durch und durch ... Wer war der erste intelligente Anhänger Wagner's überhaupt? Charles Baudelaire, derselbe, der zuerst Delacroix verstand, jener typische décadent, in dem sich ein ganzes Geschlecht von Artisten wiedererkannt hat — er war vielleicht auch der letzte ... Was ich Wagnern nie vergeben habe? Dass er zu den Deutschen condescendirte, — dass er reichsdeutsch wurde... Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur. —