Elf Minuten - Coelho Paulo 15 стр.


Aus Marias Tagebuch, am Tag, bevor sie ihr Rückflugticket nach Brasilien kauft:

Es war einmal ein Vogel. Er besaß ein Paar vollkommener Flügel und glänzende, bunte, wunderbare Federn und war dazu geschaffen, frei am Himmel zu fliegen, denen zur Freude, die ihn sahen.

Eines Tages sah eine Frau diesen Vogel und verliebte sich in ihn. Sie schaute mit vor Staunen offenem Mund seinem Flug zu, ihr Herz schlug schneller, ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Er bat sie, ihn zu begleiten, und beide schwebten in vollkommener Harmonie am Himmel. Und sie bewunderte, verehrte, feierte den Vogel.

Aber dann dachte sie: Vielleicht möchte er ferne Gebirge kennenlernen! Und die Frau bekam Angst. Fürchtete, daß sie so etwas mit einem anderen Vogel nie wieder erleben könnte. Und sie wurde neidisch auf den Vogel, der aus eigener Kraft fliegen konnte.

Und sie fühlte sich allein.

Und dachte: ›Ich werde dem Vogel eine Falle stellen. Wenn er zurückkommt, wird er nie wieder wegfliegen können.‹

Der Vogel, der auch verliebt war, kam am nächsten Tag zurück, ging in die Falle und wurde in einen Käfig gesteckt.

Die Frau schaute täglich nach dem Vogel. Er war ihre ganze Leidenschaft, und sie zeigte ihn ihren Freundinnen, die meinten: »Du hast vielleicht ein Glück.« Dennoch vollzog sich eine merkwürdige Veränderung: Seit sie den Vogel besaß und ihn nicht mehr zu erobern brauchte, begann sie das Interesse an ihm zu verlieren. Der Vogel, der nicht mehr fliegen konnte, was den Sinn seines Lebens ausmachte, wurde schwach, glanzlos, häßlich. Die Frau beachtete ihn nicht mehr, fütterte ihn nur noch und reinigte seinen Käfig.

Eines Tages starb der Vogel. Die Frau war tieftraurig und konnte ihn nicht vergessen. Aber sie erinnerte sich dabei nicht an den Käfig, nur an den Tag, an dem sie den Vogel zum ersten Mal gesehen hatte, wie er fröhlich zwischen den Wolken dahinflog.

Hätte sie genauer in sich hineingeschaut, so hätte sie bemerkt, daß das, was sie am Vogel so sehr begeisterte, seine Freiheit war, sein kräftiger Flügelschlag, nicht sein Körper.

Ohne den Vogel verlor auch für die Frau das Leben seinen Sinn, und der Tod klopfte an ihre Tür. – »Wozu bist du gekommen?« fragte sie den Tod. – »Damit du wieder mit dem Vogel zusammen am Himmel fliegen kannst«, gab der Tod zur Antwort. »Wenn du ihn hättest fliegen und immer wiederkommen lassen, hättest du ihn geliebt und noch mehr bewundert; aber nun brauchst du mich, um ihn wiederzusehen.«

Maria begann den Tag mit etwas, was sie im Geiste schon monatelang durchgespielt hatte: Sie ging in ein Reisebüro und reservierte ein Rückflugticket nach Brasilien für in zwei Wochen, genau an dem Tag, den sie in ihrem Kalender angekreuzt hatte.

Von nun an würde Genf das Gesicht eines Mannes tragen, den sie geliebt und der sie wiedergeliebt hatte. Die Rue de Berne dagegen würde nur eine Straße sein, benannt nach der Hauptstadt der Schweiz. Sie würde sich an ihr Zimmer erinnern, an den See, daran, wie sie Französisch gelernt hatte, an all die Verrücktheiten, die ein dreiundzwanzigjähriges Mädchen macht (sie hatte am Tag zuvor Geburtstag gehabt), bis sie begreift, daß es eine Grenze gibt.

Sie würde den Vogel nicht einsperren, ihm aber auch nicht vorschlagen, sie nach Brasilien zu begleiten; er verkörperte das einzig wirklich Reine, das ihr je begegnet war. Ein solcher Vogel mußte frei fliegen können und von der Sehnsucht nach einer Zeit zehren, in der er mit seiner Gefährtin zusammen geflogen ist. Aber sie war ein solcher Vogel; Ralf Hart an ihrer Seite zu haben würde bedeuten, immer an die Zeit im ›Copacabana‹ erinnert zu werden. Und das war ihre Vergangenheit, nicht ihre Zukunft.

Sie beschloß, sich erst am Tag ihrer Abreise zu verabschieden, sonst müßte sie zu oft daran denken, daß sie bald nicht mehr hier sein würde. Also betrog sie ihr Herz und ging an jenem Morgen durch Genf, als wäre sie immer durch diese Straßen, auf den Altstadthügel, über den Jakobsweg, die Mont-Blanc-Brücke, in die Cafes gegangen, in denen sie inzwischen Stammgast war. Sie schaute dem Flug der Möwen zu, den Gemüse- und Obsthändlern, die ihre Marktstände abbauten, den Angestellten, die zum Mittagessen aus ihren Büros strömten; genießerisch biß sie in einen schönen Apfel, blickte auf den Regenbogen in der Wassersäule, die mitten aus dem See aufstieg, beobachtete die verstohlenen, fröhlichen Blicke der Leute, die an ihr vorbeikamen, Blicke voller Begehren, leere Blicke – einfach Blicke. Sie hatte fast ein Jahr lang in einer Stadt gelebt, wie es viele gab auf der Welt und die ohne ihre besondere Architektur und die unverhältnismäßig zahlreichen Bankenschilder ebensogut in Brasilien hätte liegen können. Es gab einen Jahrmarkt. Es gab feilschende Hausfrauen und Schüler, die unter irgendeinem fadenscheinigen Vorwand Vater krank, Mutter pflegebedürftig – die Schule schwänzten und nun Arm in Arm mit ihrer Liebsten auf der Seepromenade spazierengingen. Es gab Leute, die sich heimisch fühlten, und solche, die sich fremd fühlten. Es gab Skandalblätter und ernsthafte Zeitschriften für Geschäftsleute (die man allerdings nur bei der Lektüre der Skandalblätter antraf).

Sie ging in die Bibliothek, um das Handbuch über Landwirtschaft zurückzubringen. Sie hatte nichts verstanden, aber dieses Buch hatte sie immer in den Augenblicken, in denen sie glaubte, die Kontrolle über sich und ihr Schicksal zu verlieren, an ihr Lebensziel erinnert. Es war ihr stiller Begleiter gewesen – ein gelber, schmuckloser Umschlag, ein paar Grafiken –, ein Leuchtturm in den dunklen Nächten der letzten Wochen.

›Immer schmiede ich Pläne für die Zukunft! Und dann werde ich doch jedes Mal aufs neue von der Gegenwart überrumpelt!‹ sagte sie zu sich selbst. Zuerst hatte sie sich in der Verzweiflung, dann in der Unabhängigkeit gefunden, dann in der Liebe, später im Schmerz und nun erneut in der Liebe ­hoffentlich blieb es dabei!

Doch während einige ihrer Arbeitskolleginnen über die Vorzüge bestimmter Männer und über das Glück redeten, das sie im Bett erlebten, hatte sie selbst in all diesen Monaten nicht herausgefunden, was denn nun das Beste oder Schlechteste am Sex war. Sie hatte ihr Problem nicht gelöst: Sie gelangte durch Penetration nicht zum Orgasmus, und der Geschlechtsakt war für sie zu etwas so Banalem verkommen, daß sie in dieser ›Umarmung des Wiederfindens‹ (wie Ralf es nannte) vielleicht nie das Feuer und das Glück finden würde, das sie suchte.

Oder brauchte es vielleicht auch Liebe, damit man Lust im Bett empfand, wie es in sehr vielen Romanen zu lesen stand?

Die sonst so ernste Bibliothekarin (die sie als ihre einzige Freundin betrachtete, obwohl sie es ihr niemals gesagt hatte) war an diesem Tag ungewöhnlich fröhlich und gut gelaunt. Als Maria kam, hatte sie gerade Mittagspause und lud sie ein, ein Sandwich mit ihr zu teilen. Maria dankte und sagte, sie habe schon gegessen.

»Sie haben lange für das Buch gebraucht.«

»Ich habe nichts verstanden.«

»Wissen Sie noch, worum sie mich anfangs gebeten haben?«

Nein, Maria erinnerte sich nicht, doch als sie das maliziöse Lächeln der Frau sah, konnte sie sich vorstellen, um welches Thema es gegangen war. Sex.

»Wissen Sie, nachdem Sie gekommen waren und Bücher über Sex gesucht hatten, habe ich unsere Bestände zu diesem Thema durchgesehen. Viel war nicht vorhanden, und da wir auch zur Bildung unserer Jugend beitragen sollen, habe ich einige Bücher bestellt. Das ist eine bessere Aufklärung, als wenn die jungen Leute beispielsweise zu Prostituierten gehen.«

Die Bibliothekarin wies auf einen Stapel Bücher in einer Ecke, alle ordentlich in graues Papier eingeschlagen.

»Ich hatte noch keine Zeit, sie einzuordnen, aber ich habe immer mal wieder einen Blick hineingeworfen und war entsetzt über das, was ich gefunden habe.«

Maria konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt kommen würde: unbequeme Stellungen, Sadomasochismus und derlei Dinge. Sie sollte besser gehen. Aber unter welchem Vorwand? Sie wußte nicht mehr, ob sie gesagt hatte, daß sie in einer Bank oder in einer Boutique arbeitete. Lügen war so anstrengend.

»Sie wären bestimmt auch entsetzt. Wußten Sie beispielsweise, daß die Klitoris erst kürzlich entdeckt wurde?«

Kürzlich wohl kaum. Ralf Harts Hände schienen sich trotz der Dunkelheit auf dem Terrain gut auszukennen.

»Sie wurde offiziell 1559 anerkannt, nachdem der Arzt Realdo Columbo ein Buch mit dem Titel De re anatomica veröffentlicht hatte, in dem er sie als ›ein hübsches, nützliches Ding‹ beschreibt. Stellen Sie sich das mal vor.« Beide lachten.

»Zwei Jahre darauf, 1561, nahm ein anderer Arzt, Gabriele Fallopio, die Entdeckung für sich in Anspruch. Also wirklich! Da diskutieren zwei Männer – Italiener natürlich, die verstehen etwas davon – darüber, wer offiziell die Klitoris in die Weltgeschichte eingebracht hat.«

So interessant das alles war: Maria wollte nichts mehr hören, zumal sie spürte, wie ihr Geschlecht naß wurde allein bei dem Gedanken an die Berührung, die Augenbinde, die Hände, die über ihren Körper wanderten. Nein, sie war nicht tot für den Sex, dieser Mann hatte sie irgendwie erlöst. Wie gut es war, lebendig zu sein!

Die Bibliothekarin redete weiter: »Aber sogar, nachdem sie ›entdeckt‹ worden war, wurde die Klitoris nicht geachtet. Die Verstümmelungen, von denen die Zeitungen berichten und durch die bestimmte Stämme in Afrika noch heute ihren Frauen das Recht auf Lust absprechen, sind nichts Neues. Auch in Europa wurde im neunzehnten Jahrhundert bei vielen Frauen die Klitoris operativ entfernt, weil man glaubte, in diesem kleinen, unbedeutenden Teil der weiblichen Anatomie liege die Quelle von Hysterie, Epilepsie, Promiskuität, Unfruchtbarkeit.«

Maria streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden, aber die Bibliothekarin redete unbeirrt weiter.

»Noch schlimmer ist, daß der liebe Doktor Freud, der Entdecker der Psychoanalyse, gesagt hat, der weibliche Orgasmus müsse sich bei einer normalen Frau von der Klitoris zur Vagina bewegen. Seine getreuesten Schüler gingen später sogar so weit zu behaupten, es sei ein Zeichen von Infantilität, wenn die sexuelle Lust auf die Klitoris beschränkt bliebe, oder schlimmer noch, ein Zeichen von Bisexualität. Dabei wissen wir doch alle, wie schwierig es ist, nur durch Penetration zum Orgasmus zu kommen. Es ist schön, von einem Mann genommen zu werden, aber die Lust steckt in diesem kleinen Körnchen, das ein Italiener entdeckt hat!«

Dann hatte Freud ihr Problem also bereits diagnostiziert und ihre Sexualität als infantil beschrieben, denn Marias Orgasmus hatte sich nicht in die Vagina begeben. Oder sollte etwa Freud sich geirrt haben?

»Und der G-Punkt, was meinen Sie dazu?«

»Wissen Sie, wo der sitzt?«

Die Frau errötete, hustete, druckste herum: »Gleich, wenn Sie hereinkommen, im ersten Stock, Fenster ganz hinten.«

Genialer Vergleich! Die Vagina als Gebäude! Vielleicht hatte sie ja diese Erklärung in einem dieser reichbebilderten Aufklärungsbücher für junge Mädchen gefunden. Das Bild: Ein Mann klopft an, tritt ein, entdeckt in dem Mädchenkörper ein ganzes Universum.

Sie selbst hatte beim Masturbieren immer diesen G-Punkt der Klitoris vorgezogen, da er bei ihr ein eigenartig beklemmendes Gefühl, eine Mischung aus Lust und Qual hervorrief. Sie ging immer direkt in den ersten Stock, zum Fenster ganz hinten!

Als ihr klar wurde, daß die Frau nicht aufhören würde zu reden – vielleicht weil sie in Maria eine Seelenverwandte vermutete, der sie ihr verpaßtes Sexualleben erzählen könnte –, winkte sie ihr wortlos zu und ging hinaus.

Maria hatte keine Lust, ins ›Copacabana‹ zurückzukehren, und dennoch fühlte sie sich irgendwie verpflichtet, ihre Arbeit zu Ende zu führen. Sie konnte nicht sagen, warum – schließlich hatte sie genug angespart. An diesem Nachmittag konnte sie noch ein paar Einkäufe machen, mit dem Geschäftsführer der Bank reden, der ihr Kunde war und ihr versprochen hatte, sie in Bankdingen zu beraten. Sie könnte einen Kaffee trinken, ein paar Habseligkeiten per Post nach Hause schicken, die nicht mehr in ihre Koffer paßten. Sie fühlte sich bedrückt und wußte nicht, warum, vielleicht, weil die Abreise in zwei Wochen nun definitiv feststand. Sie mußte diese Zeit herumbringen, die Stadt mit anderen Augen sehen, sich darüber freuen, daß sie dies alles erlebt hatte.

Sie kam an eine Kreuzung, die sie schon hundertmal überquert hatte und von der aus sie den See sehen konnte, die Wassersäule und vorn an der Uferpromenade die Blumenuhr, eines der Wahrzeichen der Stadt, und diese Uhr ließ nicht zu, daß sie log, weil…

Plötzlich stand die Zeit still, die Welt.

Was hatte es bloß mit dieser Geschichte einer wiedererlangten Jungfräulichkeit auf sich, die sie seit dem Aufwachen heute früh beschäftigte?

Die Welt war wie eingefroren, die Uhrzeiger gingen nicht weiter. Maria stand vor etwas Ernstem und sehr Wichtigem in ihrem Leben. Sie durfte nicht vergessen, es nicht machen wie mit ihren nächtlichen Träumen, die sie immer aufschreiben wollte und an die sie sich nie erinnerte…

›Denk an nichts. Die Welt ist stehengeblieben. Was ist los?‹

GENUG!

Die hübsche Geschichte vom Vogel, die sie gerade geschrieben hatte: Handelte sie von Ralf Hart?

Nein, sie handelte von ihr selbst!

PUNKTUM!

Es war 11 Uhr 11, und ihre eigene Zeit war in diesem Augenblick stehengeblieben. Sie fühlte sich fremd im eigenen Körper, wurde sich erneut der erst vor kurzem wiedererlangten Jungfräulichkeit bewußt, die so zart und gefährdet war. Maria war verloren, wenn sie hierblieb. Sie mußte sofort weg. Sie hatte den Himmel erlebt und ganz gewiß auch die Hölle, aber das Abenteuer war bald zu Ende. Sie konnte nicht noch zwei Wochen warten, zehn Tage, eine Woche – sie mußte sofort wegrennen, denn beim Anblick der Blumenuhr, der knipsenden Touristen und spielenden Kinder wurde ihr plötzlich klar, warum sie so traurig war: Sie wollte nicht zurück nach Brasilien.

Der Grund hieß weder Ralf Hart noch Schweiz, noch Abenteuer. Der wahre Grund war ganz einfach: Geld.

Geld! Ein Stück Papier, mit gedeckten Farben bedruckt und von dem alle glaubten, es sei etwas wert. Maria glaubte es, alle glaubten es bis zu dem Augenblick, in dem sie mit einem Berg solcher Papierstückchen in eine Bank gingen (eine respektable, äußerst diskrete Schweizer Traditionsbank, versteht sich) und bitten würden: ›Kann ich ein paar Stunden meines Lebens erwerben?‹ und zur Antwort bekämen: ›Nein, die verkaufen wir nicht; die kaufen wir nur an.‹

Bremsenquietschen, ein schimpfender Fahrer, ein lächelnder alter Herr, der sie auf englisch bat zurückzutreten, da die Fußgängerampel noch auf Rot stehe. Maria erwachte aus ihrer Trance.

›Ich glaube, ich habe da gerade etwas herausgefunden, was alle sowieso schon wissen.‹

Doch dem war nicht so: Sie blickte auf die Leute, die mit gesenktem Kopf an ihr vorbeihasteten, um zur Arbeit, zur Schule, zum Arbeitsamt, in die Rue de Berne zu kommen, und die sich zu sagen schienen: ›Ich kann noch ein bißchen warten.

Ich habe einen Traum, aber er muß nicht heute gelebt werden, ich muß schließlich Geld verdienen.‹ Selbstverständlich hatte ihr Gewerbe einen schlechten Ruf – obwohl sie auch nur ihre Zeit verkaufte, wie alle anderen auch; Dinge tat, die sie nicht mochte, wie alle anderen auch; unerträgliche Leute ertrug, wie alle anderen auch; ihren kostbaren Körper und ihre kostbare Seele im Namen einer Zukunft hingab, die niemals kam, wie alle anderen auch; meinte, noch nicht genug zu haben, wie alle anderen auch; nur noch ein kleines bißchen wartete, wie alle anderen auch; noch etwas wartete, noch etwas mehr verdiente, die Verwirklichung ihrer Träume auf später verschob denn gerade war sie zu beschäftigt, hatte eine wichtige Verabredung, Freier, die auf sie warteten, Stammkunden, die bis zu tausend Franken pro Nacht zu zahlen bereit waren.

Und zum ersten Mal in ihrem Leben beschloß sie, trotz all der guten Dinge, die sie mit dem verdienten Geld kaufen konnte ­wer weiß, noch ein Jahr? –, ganz bewußt, mit klarem Verstand und absichtlich, eine Chance verstreichen zu lassen. Sie wartete, bis die Ampel auf Grün sprang, überquerte die Straße und blieb vor der Blumenuhr stehen. Sie dachte an Ralf, spürte wieder sein Begehren im Hotelzimmer, als sie nur ihren Oberkörper entblößt hatte, fühlte, wie seine Hände ihre Brüste, ihr Geschlecht, ihr Gesicht berührten, und wurde naß. Sie blickte auf die riesige Wassersäule im See und hatte an Ort und Stelle, vor allen Leuten und ohne sich zu berühren, einen Orgasmus.

Niemand bemerkte es; dazu waren alle viel zu beschäftigt.

Nyah, die einzige ihrer Kolleginnen, mit der sie freundschaftlich verkehrte, rief Maria zu sich, als diese ins ›Copacabana‹ kam. Nyah saß mit einem Araber zusammen, und beide lachten.

»Schau dir das bloß einmal an«, sagte sie zu Maria. »Schau mal, was er von mir will!«

Der Araber blickte mit einem verschmitzten Lächeln zu ihr hoch und öffnete dann den Deckel von einer Art Zigarrenkiste. Maria linste hinein, konnte aber nicht erkennen, ob irgendwelche Spritzen oder Beutelchen dann lagen. Aber nein, es war ein Objekt, von dem er offenbar selbst nicht richtig wußte, wie es funktionierte.

»Sieht aus wie aus dem letzten Jahrhundert!« sagte Maria.

»Das Ding ist tatsächlich aus dem letzten Jahrhundert«, pflichtete ihr der Araber bei. »Der Apparat ist über hundert Jahre alt und hat ein Vermögen gekostet.«

Maria sah eine Reihe Ventile, eine Kurbel, Elektrokabel, kleine Metallkontakte, Batterien. Es sah aus wie das Innere eines alten Radioapparates, aus dem zwei Kabel herauskamen, an deren Enden kleine, fingergroße Glasstäbe befestigt waren.

Nichts, was ein Vermögen kosten konnte.

»Wie funktioniert das?«

Nyah gefiel Marias Frage nicht, obwohl sie der Brasilianerin grundsätzlich vertraute. Wer weiß, vielleicht hatte Maria ja ein Auge auf ihren Freier geworfen.

»Er hat es mir bereits erklärt. Es ist ein Violetter Zauberstab.«

Dann hatte es Nyah plötzlich eilig, den Araber von Maria loszueisen. Aber der Mann schien von dem Interesse, das sein Spielzeug geweckt hatte, ganz begeistert.

»Um die Jahrhundertwende, so um 1900, als die ersten Batterien auf den Markt kamen, begann die westliche Schulmedizin mit Elektrizität zu experimentieren, um damit Geisteskrankheiten oder Hysterie zu heilen. Sie wurde auch zur Pickelbekämpfung und Revitalisierung der Haut eingesetzt. Sehen Sie diese beiden Kabelenden? Sie wurden hier angelegt« ­er zeigte auf seine Schläfen –, »und die Batterie versetzte einem einen solchen Schlag, wie man ihn sonst nur bei sehr kalter, trockener Luft bekommt.«

In Brasilien gab es das nicht, aber in der Schweiz kam es häufig vor. Maria hatte dieses charakteristische Knistern zuerst beim Offnen einer Taxitür gehört und einen elektrischen Schlag bekommen. Da sie dachte, daß es am Auto lag, hatte sie sich beschwert, doch der Fahrer hatte sie verspottet und war, als sie das Fahrgeld verweigerte, fast handgreiflich geworden. Er hatte recht gehabt; es lag nicht am Auto, sondern an der sehr trockenen Schweizer Luft. Inzwischen war Maria ein gebranntes Kind und hütete sich davor, Metallgegenstände anzufassen. Im Supermarkt fand sie schließlich einen Armreif, der die im Körper angesammelte Elektrizität entlud.

Sie wandte sich an den Araber:

»Aber das ist sehr unangenehm!«

Nyah wurde durch Marias Bemerkungen immer nervöser. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, legte sie ihren Arm besitzergreifend um die Schultern des Mannes.

»Das hängt davon ab, wo man ihn anlegt.« Der Araber lachte laut.

Dann drehte er an der kleinen Kurbel, und die beiden Stäbe verfärbten sich violett. Blitzschnell berührte er die beiden Frauen damit; Maria hörte ein Klicken, aber der elektrische Schlag war nicht mehr als ein leichtes Kitzeln.

Milan trat hinzu. »Ich muß Sie bitten, diesen Apparat hier nicht zu benutzen.«

Der Araber steckte die Stäbe wieder in den Kasten. Die Philippinin nutzte die Gelegenheit, um erneut zum Aufbruch zu mahnen. Der Mann ging nur halbherzig darauf ein. Die Neue wirkte sehr viel interessierter am Violetten Zauberstab als die Frau, die ihn weglotsen wollte. Er schlüpfte in seine Jacke, steckte den Kasten in eine Ledertasche und meinte: »Heute werden sie wieder gebaut und sind in Insiderkreisen wieder sehr in Mode gekommen. Aber so einen wie den, den ich Ihnen gezeigt habe, findet man nur noch antiquarisch beziehungsweise in einigen wenigen medizinischen Sammlungen oder Museen.«

Milan und Maria standen da und wußten nicht, was sie sagen sollten.

»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«

»In der Art nicht. Er muß tatsächlich ein kleines Vermögen gekostet haben, aber Nyahs Kunde ist schließlich auch Manager aus der Chefetage eines Ölkonzerns. Ich habe schon andere, moderne gesehen.«

»Und was macht man damit?«

»Man steckt sie sich in den Körper… und bittet die Frau, die Kurbel zu drehen. Und dann bekommt man da drin einen Schlag.«

»Könnte der Mann das nicht auch allein machen?«

»Beim Sex kann man alles auch allein machen. Aber mir ist es lieber, die Leute machen solche Dinge weiterhin zu zweit, sonst kann ich meinen Nachtclub dichtmachen, und du kannst als Lebensmittelverkäuferin arbeiten gehen. Wo wir gerade von Arbeit sprechen: Dein spezieller Freier hat sich angesagt; lehne bitte jede andere Einladung ab.«

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