Elf Minuten - Coelho Paulo 17 стр.


Sie hätte offener mit der jungen Brasilianerin reden sollen, die ihr so naiv und unschuldig vorkam wie ihre eigene Tochter und noch weniger Ahnung hatte vom Leben. Eine Ausländerin, die fern ihrer Heimat lebte, sich in einem uninteressanten Job abmühte; die auf einen Mann wartete, der ihr Sicherheit geben, den sie heiraten, dem sie Orgasmen vortäuschen und mit dem sie Kinder haben konnte und dabei alles, Orgasmus, Klitoris und G-Punkt, vergessen konnte. Sie würde eine gute Ehefrau, eine gute Mutter sein, dafür Sorge tragen, daß es im Haus an nichts fehlte, manchmal heimlich masturbieren, dabei an einen wildfremden Mann denken, der ihr auf der Straße begegnet war und sie begehrlich angeschaut hatte. Und sie würde den Schein wahren ­warum bloß war der Schein so wichtig?

Er war der Grund, weswegen sie die Frage ›Hatten Sie schon einmal außerehelichen Sex?‹ nicht beantwortet hatte. So etwas nimmt man mit ins Grab, dachte sie. Ihr Mann war der Mann ihres Lebens geblieben, obwohl Sex nur noch eine ferne Erinnerung war. Er war ein großartiger Partner, ehrlich, großzügig, immer gut gelaunt gewesen; er hatte hart gearbeitet, um die Familie zu ernähren, und hatte sich für deren Glück verantwortlich gefühlt. Der ideale Mann, von dem die Frauen träumen, und gerade deshalb fühlte sie sich mies, wenn sie daran dachte, daß sie einmal gewünscht hatte, mit einem anderen Mann zusammenzusein – und es auch getan hatte.

Sie erinnerte sich, wie sie ihm begegnet war. Es war auf dem Heimweg von Davos gewesen, einem Ort in den Bergen, als eine Lawine den Bahnverkehr für ein paar Stunden lahmlegte. Sie hatte zu Hause angerufen, damit ihre Familie sich keine Sorgen machte, dann war sie zum Bahnhofskiosk gegangen, hatte sich ein paar Zeitschriften gekauft, mit denen sie sich die lange Wartezeit zu verkürzen hoffte.

Da sah sie einen Mann mit einem Rucksack und einem Schlafsack. Er hatte graues Haar, sonnengebräunte Haut und war der einzige, der sich wegen der Verspätung keine Sorgen zu machen schien; ganz im Gegenteil, er lächelte, blickte sich suchend nach jemandem um, mit dem er reden könnte. Sie hatte eine der Zeitschriften aufgeschlagen, doch als sie einmal aufschaute, konnte sie die Augen nicht schnell genug abwenden, um zu verhindern, daß der Mann auf sie zukam.

Noch bevor sie ihn mit einer höflichen Ausrede wieder wegschicken konnte, begann er zu sprechen. Er sagte, er sei Schriftsteller. Er sei zu einer Podiumsdiskussion eingeladen gewesen, und nun würde er wegen der Lawine sein Flugzeug verpassen. Ob sie ihm helfen könne, ein Hotel zu suchen, wenn sie in Genf angekommen seien?

Sie schaute ihn an: Wie konnte jemand, der in einem ungemütlichen Bahnhof stundenlang auf eine Zugverbindung wartete und außerdem wußte, daß er sein Flugzeug verpaßte, so gut gelaunt sein?

Der Mann redete mit ihr, als wären sie alte Freunde. Er erzählte von seinen Reisen, von seiner Schriftstellerei und, zu ihrem Entsetzen, von den vielen Frauen, die er ge liebt hatte und denen er in seinem Leben begegnet war. Sie selbst nickte nur, während er unbeirrt weiterredete. Hin und wieder unterbrach er sich, bat sie, doch auch einmal von sich zu erzählen, doch sie antwortete nur: ›Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, an mir ist nichts Besonderes.‹

Plötzlich ertappte sie sich dabei, wie sie wünschte, der Zug möge niemals kommen. Das Gespräch war hochinteressant, sie erfuhr Dinge, über die sie bislang nur in Romanen gelesen hatte. Und da sie den Schriftsteller nie wiedersehen würde, faßte sie sich ein Herz und begann ihn über Themen auszufragen, die sie interessierten. Sie durchlebte damals in ihrer Ehe gerade eine schwierige Phase, ihr Ehemann wollte sie immer um sich haben, und sie wollte wissen, wie sie ihn glücklich machen könnte. Der Schriftsteller machte einige interessante Vorschläge, schien aber nicht gern über ihren Mann reden zu wollen.

»Sie sind eine sehr interessante Frau«, sagte er. Das hatte seit vielen Jahren niemand mehr zu ihr gesagt.

Sie wußte nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Er bemerkte ihre Verwirrung, wechselte das Thema und begann von Wüsten, Bergen, versunkenen Städten und verschleierten Frauen mit nacktem Bauch zu erzählen, von Kriegern, Piraten und weisen alten Männern.

Der Zug kam. Sie setzten sich nebeneinander, und plötzlich war sie nicht mehr die verheiratete Frau mit einer Villa am See, drei Kindern, die sie großziehen mußte, sondern eine Abenteuerin, die zum ersten Mal in Genf ankam. Sie schaute auf die Berge, den Fluß und fühlte sich glücklich neben einem Mann, der sie erobern wollte (alle Männer wollen nur das eine) und alles daransetzte, um sie zu beeindrucken. Sie dachte daran, wie viele Männer sie möglicherweise hatten erobern wollen und daß sie ihnen nie die geringste Chance gegeben hatte. Aber an diesem Morgen war die Welt wie verwandelt gewesen, und sie war ein junges, achtunddreißigjähriges Mädchen, das staunend zuließ, daß ein Mann sie verführte.

Da tauchte im vorzeitigen Herbst ihres Lebens, als sie nichts Neues mehr erwartete, dieser Mann auf einem Bahnsteig auf und trat, ohne anzuklopfen, in ihr Leben. Sie stiegen in Genf aus, und sie fand ein Hotel für ihn (ein einfaches, denn er wollte noch am Abend abreisen und keine weitere Nacht in der sündhaft teuren Schweiz verbringen). Er bat sie, mit ihm hinaufzugehen und nachzusehen, ob das Zimmer in Ordnung sei, und sie wußte, was gemeint war, ging aber trotzdem mit. Sie schlossen die Tür, küßten sich heftig und voller Begehren, er riß ihr die Kleider vom Leib, und – mein Gott! – er kannte den weiblichen Körper, weil er das Leiden und die Frustrationen vieler Frauen kannte.

Sie liebten sich den ganzen Nachmittag, und erst als es dunkel wurde, verflog der Zauber, und sie sprach den Satz aus, den sie am liebsten sofort wieder zurückge nommen hätte: »Ich muß nach Hause. Mein Mann wartet auf mich.«

Er zündete eine Zigarette an. Sie schwiegen minutenlang, und keiner von beiden sagte adieu. Heidi erhob sich und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, hinaus, denn sie wußte, jeder Satz würde der falsche sein. Sie würde den Schriftsteller niemals wiedersehen. Ihm hatte sie es zu verdanken, daß sie ein paar Stunden lang nicht mehr die treue Ehefrau, Hausfrau, liebevolle Mutter, vorbildliche Beamtin, beständige Freundin, sondern einfach nur Frau gewesen war. Ihr Mann, der sehr wohl merkte, daß etwas vorgefallen war, fand, sie sei plötzlich soviel fröhlicher oder auch trauriger, er könne es nicht beschreiben. Doch ein paar Tage später war alles wieder wie vorher.

›Schade, daß ich dem Mädchen das nicht erzählt habe‹, sagte sie sich. ›Doch sie hätte es sicher nicht verstanden, denn sie lebt noch in einer Welt, in der die Menschen einander treu sind und Liebesschwüre auf ewig gelten.‹

Aus Marias Tagebuch:

Ich weiß nicht, was er gedacht hat, als er an diesem Abend die Tür aufmachte und mich mit meinen beiden Koffern dastehen sah.

»Keine Angst«, sagte ich sofort, »ich will nicht hier einziehen. Laß uns essen gehen.«

Er hat mir kommentarlos geholfen, das Gepäck hineinzutragen. Er hat weder ›Hallo‹ noch ›Wie schön, daß du da bist‹ gesagt. Er hat mich einfach gepackt, mich geküßt, angefangen, mich zu streicheln, meine Brüste, mein Geschlecht, am ganzen Körper, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet und als wüßte er, daß dies vielleicht die letzte Gelegenheit sei.

Er hat mir den Mantel ausgezogen, das Kleid, mich nackt ausgezogen, und dort in der Eingangshalle, in der kalten Zugluft, haben wir uns ohne irgendein Ritual oder Vorspiel zum ersten Mal richtig geliebt. Ich überlegte noch, ihm zu sagen, er solle aufhören, wir sollten es uns bequemer machen, wir hätten doch alle Zeit, um unsere Sinnlichkeit zu erforschen. Aber zugleich wollte ich ihn in mir haben, weil er der Mann war, den ich niemals besessen hatte und wohl nie besitzen würde und gerade deshalb mit all meiner Kraft lieben konnte. Zumindest eine Nacht wollte ich das haben, was ich nie zuvor gehabt hatte und wahrscheinlich nie wieder haben würde.

Er legte mich auf den Boden, drang in mich ein, noch bevor ich ganz naß war, aber der Schmerz störte mich nicht, im Gegenteil, mir gefiel es so, denn er sollte merken, daß ich sein war und er mich nicht vorher fragen mußte. Jetzt war nicht der Augenblick, ihm irgend etwas beizubringen oder ihm zu zeigen, daß ich sensibler, sinnlicher war als andere Frauen. Jetzt ging es nur darum, ja zu sagen, daß er willkommen war, daß ich darauf gewartet hatte und freudig akzeptierte, daß er alle zwischen uns abgemachten Regeln mißachtete. Jetzt sollten nur unsere Triebe uns leiten, der männliche und der weibliche. Wir hatten die konventionellste aller Stellungen eingenommen – ich unten und er oben –, und ich spielte ihm nichts vor, stöhnte nicht. Ich sah ihn nur an, um mich später an jede einzelne Sekunde erinnern zu können. Ich wollte sehen, wie sein Gesicht sich veränderte, ich wollte spüren, wie seine Hände mein Haar packten, sein Mund mich biß, mich küßte. Kein Vorspiel, keine Zärtlichkeiten, keine Raffinessen, nur er in mir und ich in seiner Seele.

Er beschleunigte den Rhythmus und verlangsamte ihn wieder, hielt zwischendurch inne, um mich anzusehen, aber er fragte nicht, ob es mir gefiel, weil er wußte, daß unsere Seelen in diesem Augenblick nur so miteinander kommunizieren konnten. Der Rhythmus wurde schneller, und ich wußte, daß die elf Minuten gleich zu Ende sein würden. Ich wünschte, sie würden nie aufhören, weil es so gut war – ach, mein Gott, so gut, sich hinzugeben und nicht zu besitzen! Irgendwann verschwamm alles vor meinen Augen, und ich spürte, daß wir in eine andere Dimension eintraten: Ich war die Große Mutter, das Universum, die geliebte Frau, die heilige Hure dieser alten Rituale, die er mir kürzlich bei einem Glas Wein am Kamin erklärt hatte. Ich fühlte, daß er kam, und seine Arme umfingen mich mit aller Kraft, seine Bewegungen wurden intensiver, und dann schrie er – er stöhnte nicht, biß sich nicht auf die Lippen, er schrie! Brüllte! Brüllte wie ein Tier! Mochten doch die Nachbarn die Polizei rufen, wenn es sie störte, mir war es egal. Und dann erfüllte mich eine ungeheure Freude: so war es von Anbeginn gewesen, als der erste Mann der ersten Frau begegnet war und sie sich das erste Mal geliebt hatten.

Sein Körper brach über meinem zusammen, und ich weiß nicht, wie lange wir so eng umschlungen dalagen. Ich streichelte sein Haar, so wie ich es nur in der Nacht getan hatte, in der wir uns im Hotel im Dunkeln eingeschlossen hatten. Ich spürte, wie sein Herzschlag sich ganz allmählich beruhigte. Und als seine Hände anfingen, zart meine Arme zu streicheln, bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut.

Er muß an irgend etwas Konkretes gedacht haben ­beispielsweise das Gewicht seines Körpers auf meinem –, denn er rollte zur Seite, hielt meine Hand, und wir lagen nebeneinander auf dem Rücken und starrten zur Decke, zum Kronleuchter empor.

»Hallo, guten Abend«, sagte ich zu ihm.

Er zog mich an sich, zog meinen Kopf an seine Brust, streichelte mich noch eine ganze Weile, dann sagte auch er: »Hallo, guten Abend.«

»Die Nachbarn müssen alles gehört haben«, meinte ich, weil »ich liebe dich« zu sagen mir in diesem Augenblick fehl am Platze zu sein schien, weil es offensichtlich war, daß wir uns liebten.

Und Ralf antwortete: »Es zieht«, obwohl er auch lieber »es war einfach wunderbar« gesagt hätte. »Laß uns in die Küche gehen.«

Wir erhoben uns, und ich sah, daß er nicht einmal die Hose ganz ausgezogen hatte. Er zog sie hoch. Ich schlüpfte nackt in meinen Mantel Wir gingen in die Küche, er kochte Kaffee, rauchte zwei Zigaretten, während ich nur eine rauchte. Als wir am Tisch saßen, bedankten wir uns stumm beieinander.

Schließlich faßte er sich ein Herz und fragte, was die Koffer zu bedeuten hätten.

»Ich fliege morgen mittag nach Brasilien zurück.«

Eine Frau begreift, wann ein Mann für sie wichtig ist. Ob die Männer so etwas auch begreifen? Oder mußte ich »ich liebe dich«, »ich würde gern bei dir bleiben«, »bitte mich, zu bleiben« sagen?

»Geh nicht!« Ja, er hatte begriffen.

»Ich gehe. Ich habe ein Gelübde abgelegt.«

Denn sonst hätte ich womöglich geglaubt, daß dies für immer war. Aber das war es nicht, es gehörte zum Traum eines Mädchens aus dem hintersten Winkel eines fernen Kontinents, das in die große Stadt geht (so groß nun auch wieder nicht) und nach vielen Hindernissen dem Mann begegnet, den es liebt. Aber dies hier war der Schlußstrich unter alle schwierigen Augenblicke, die ich durchgemacht hatte, das Happy-End. Wenn ich mich später an mein Leben in Europa zurückerinnern würde, stünde am Ende immer die Geschichte eines Mannes, der sich in mich verliebt hatte, der immer mein sein würde, da ich seine Seele besucht hatte.

Ach, Ralf, du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich glaube, wir verlieben uns immer in dem Augenblick, in dem wir dem Mann unserer Träume zum ersten Mal begegnen, obwohl der Verstand uns weismachen will, daß wir uns irren. Wir beginnen uns halbherzig dagegen zu wehren. Bis der Augenblick kommt, in dem wir unseren Gefühlen nachgeben, und genau das ist in jener Nacht passiert, als ich barfuß und schlotternd vor Kälte und Schmerz durch den Park gegangen bin und begriff, wie sehr du mich liebtest.

Ja, ich liebe dich so, wie ich noch nie einen Mann geliebt habe, und ebendeshalb gehe ich, denn wenn ich bleibe, würde der Traum Wirklichkeit werden, und ich würde dich besitzen wollen – all das, was aus Liebe allmählich Sklaverei macht. Es ist besser, es bleibt ein Traum. Wir müssen sehr vorsichtig mit dem sein, was wir aus einem Land mitnehmen – oder aus dem Leben.

»Du hattest keinen Orgasmus«, sagte er und versuchte so, das Thema zu wechseln, vorsichtig und zuvorkommend zu sein, keinen Druck auszuüben. Er hatte Angst, mich zu verlieren, und er glaubte, noch die ganze Nacht vor sich zu haben, um mich umzustimmen.

»Ich hatte keinen Orgasmus, aber ich habe es wahnsinnig genossen.«

»Aber es wäre besser gewesen, wenn du einen gehabt hättest.«

»Ich hätte einen vortäuschen können, um dich zufriedenzustellen, aber das hast du nicht verdient. Du bist ein Mann, Ralf Hart, in allem, was dieses Wort an Schönem, Intensivem beinhaltet. Du hast mich unterstützt, mir geholfen, hast zugelassen, daß ich dich unterstütze und dir helfe, ohne dies in irgendeiner Weise als Demütigung zu verstehen. Ja, ich hätte gern einen Orgasmus gehabt, hatte aber keinen. Doch ich fand den kalten Boden, deinen heißen Körper, die Heftigkeit, mit der du mit meiner Zustimmung in mich eingedrungen bist, wunderbar.

Heute habe ich die Bücher zurückgebracht, die ich noch ausgeliehen hatte, und die Bibliothekarin hat mich gefragt, ob ich mit meinem Partner über Sex spreche. Ich hätte am liebsten gefragt: Mit welchem Partner? Und über was für Sex? Aber sie hatte es nicht verdient, sie war immer sehr lieb zu mir gewesen. Tatsächlich hatte ich, seit ich in Genf angekommen bin, nur zwei Partner: einen, der das Schlimmste in mir geweckt hat, weil ich es zugelassen, ihn sogar darum gebeten habe. Der andere bist du, der mir das Gefühl zurückgab, in die Welt zu gehören. Ich würde dir gern beibringen, wo du meinen Körper berühren mußt, wie intensiv, wie lange, und ich weiß, daß du das nicht als Kritik, sondern als Anregung auffaßt, damit unsere Seelen besser miteinander kommunizieren. Die Kunst der Liebe ist wie deine Bilder: Sie verlangt von einem Paar Technik, Geduld und vor allem viel Praxis. Man muß wagemutig sein, über das hinausgehen, was gemeinhin unter ›Liebe machen‹ verstanden wird.«

Schluß. Da war wieder die Lehrerin, und das wollte ich nicht sein, aber Ralf rettete die Situation, indem er eine Zigarette anzündete, die dritte in weniger als einer halben Stunde.

»Erstens wirst du heute die Nacht hier verbringen.« Das war keine Bitte, das war ein Befehl. »Zweitens werden wir uns wieder lieben, aber weniger gierig, mit mehr Begehren. Und drittens möchte ich gern, daß du die Männer besser verstehen lernst.«

Die Männer besser verstehen? Ich hatte jede Nacht mit ihnen verbracht, mit Weißen, Schwarzen, Asiaten, Juden, Moslems, Buddhisten. Wußte Ralf das nicht?

Ich fühlte mich leichter; wie gut, daß das Gespräch sich zu einer Debatte entwickelte, ich war drauf und dran gewesen, Gott um Vergebung zu bitten und mein Gelübde zu brechen.

Doch die Wirklichkeit hatte mich wieder und sorgte dafür, daß ich meinen Traum nicht antastete und dem Schicksal nicht in die Falle ging.

»Ja, die Männer besser verstehen«, wiederholte Ralf, und es klang leicht ironisch. »Du redest davon, deine weibliche Sexualität auszuleben, mir helfen zu wollen, deinen Körper zu entdecken, Geduld, Zeit zu haben. In Ordnung, aber ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, daß wir verschieden sind, zumindest was die Zeit betrifft? Warum beklagst du dich nicht bei Gott?

Als wir uns begegnet sind, habe ich dich gebeten, mir etwas über Sex beizubringen, weil mein Begehren erloschen war. Weißt du, warum? Weil jede sexuelle Beziehung nach ein paar Jahren in Langeweile oder Frustration endete, da ich begriffen hatte, daß es sehr schwierig war, den Frauen, die ich geliebt hatte, ebensoviel Lust zu verschaffen wie sie mir.«

Das mit den anderen »Frauen, die ich geliebt hatte« gefiel mir nicht, doch ich überspielte meine Gekränktheit, indem ich mir eine Zigarette anzündete.

»Ich hatte nicht den Mut, sie zu bitten: ›Lehre mich, deinen Körper verstehen!‹ Aber als ich dich getroffen habe, sah ich dein Licht, verliebte ich mich sofort in dich, dachte, daß ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte, ehrlich mit mir selbst sein konnte – und zu der Frau, die ich an meiner Seite haben wollte.«

Meine Zigarette schmeckte großartig, und ich hätte ihn gern gebeten, mir ein bißchen Wein einzuschenken, wollte aber nicht vom Thema ablenken.

»Warum denken die Männer immer nur an Sex, anstatt das zu tun, was du mit mir getan hast, nämlich herauszufinden, wie ich mich fühle?«

»Wer sagt denn, daß wir immer nur an Sex denken? Ganz im Gegenteil: Wir bringen Jahre unseres Lebens damit zu, uns davon zu überzeugen, daß Sex für uns wichtig ist. Prostituierte oder Jungfrauen führen uns in die körperliche Liebe ein, wir erzählen unsere Abenteuer jedem, der sie hören will, und wenn wir älter sind, paradieren wir mit einer jungen Geliebten am Arm, um unseren Geschlechtsgenossen zu zeigen, daß wir genau dem Bild entsprechen, das Frauen von uns Männern haben.

Aber soll ich dir mal was sagen? Wir verstehen überhaupt nichts. Wir glauben, daß Sex und Ejakulation ein und dasselbe sind, was sie eben gerade nicht sind. Wir lernen nichts dazu, weil wir nicht den Mut haben, der Frau zu sagen: ›Lehr mich, deinen Körper zu verstehen.‹ Wir lernen nichts dazu, weil die Frau auch nicht den Mut hat, zu sagen: ›Lerne zu verstehen, wie ich bin.‹ Wir bleiben beim ursprünglichen Fortpflanzungstrieb stehen, und das war's dann. Weißt du, was wichtiger für einen Mann ist als Sex?«

Ich dachte, es sei vielleicht Geld oder Macht, sagte aber nichts.

»Sport. Und weißt du, warum? Weil ein Mann den Körper eines anderen Mannes versteht. Dort, beim Sport, sieht man den Dialog zwischen Körpern, die sich verstehen.«

»Du bist verrückt.«

»Mag sein. Aber hast du schon einmal überlegt, was die

Männer, mit denen du im Bett warst, fühlen?«

»Ja, das habe ich; sie waren alle unsicher. Sie hatten Angst.«

»Schlimmer noch als Angst. Sie waren verletzlich. Sie begriffen nicht recht, was sie taten. Sie wußten nur, daß die Gesellschaft, die Freunde, ihre Frauen es für wichtig hielten. ›Sex, Sex, Sex, das ist das Salz des Lebens‹, so heißt es überall, in der Werbung, in den Filmen, in den Büchern. Keiner weiß, wovon er redet. Nur daß der Trieb stärker ist als wir alle.«

Genug jetzt. Ich hatte versucht, Sexlektionen zu erteilen, um mich zu schützen, und er machte es genauso. Und so weise er sich dabei auch ausdrückte, um mich zu beeindrucken – so wie auch ich ihn immer beeindrucken wollte –, so dumm war es und unserer Beziehung unwürdig. Ich zog ihn an mich, denn ­unabhängig davon, was er mir alles noch sagen oder ich von mir denken mochte – so viel hatte ich immerhin begriffen: Am Anfang war alles Liebe und Hingabe gewesen. Aber dann war die Schlange zu Eva gekommen und hatte gesagt: »Was du gegeben hast, wirst du verlieren.« So war es mit mir gewesen ­ich wurde noch in der Schulzeit aus dem Paradies vertrieben, und seither habe ich stets versucht, der Schlange zu sagen, daß sie sich irrte, daß leben wichtiger sei, als etwas für sich zu behalten. Aber die Schlange hatte recht und ich unrecht.

Ich kniete nieder, zog ihn langsam aus und sah, daß sein Geschlecht ruhte, nicht reagierte. Ihn schien das nicht zu stören, und ich streichelte ihn zwischen den Beinen, kitzelte seine Füße. Sein Geschlecht begann langsam zu reagieren, und ich berührte es, dann nahm ich es in den Mund, und ohne Hast – damit er es nicht als ›los, mach dich bereit zu handeln‹ mißverstand – küßte ich ihn zärtlich wie jemand, der nichts erwartet, und gerade deshalb gelang mir alles. Ich fühlte, daß er erregt wurde, und er begann meine Brustwarzen zu berühren, umkreiste sie wie in jener Nacht vollkommener Dunkelheit, weckte in mir den Wunsch, ihn wieder zwischen meinen Beinen oder in meinem Mund zu haben oder wie auch immer er mich besitzen wollte.

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