Eine Pause. Langes Schweigen. ›Hilf ihm nicht über dieses Schweigen hinweg, mal sehen, wie er fortfährt.‹
»Ich brauche dich, Maria. Du hast Licht, obwohl ich spüre, daß du mir nicht glaubst und meinst, ich wolle dich mit meinen Worten verführen. Frag nicht ›Warum ich? Was ist Besonderes an mir?‹ An dir ist nichts Besonderes, nichts, wofür ich eine Erklärung hätte. Dennoch – und darin liegt das Geheimnis des Lebens – kann ich an nichts anderes mehr denken.«
»Ich hätte nicht gefragt«, log sie.
»Wenn ich nach einer Erklärung suchen würde, könnte ich sagen: Die Frau, die ich vor mir habe, hat es geschafft, das Leiden zu überwinden und es in etwas Positives, Kreatives zu verwandeln. Aber das reicht als Erklärung nicht aus.«
Die Situation wird allmählich brenzlig, dachte Maria. Ralf fuhr fort.
»Und ich? Ich bin kreativ, meine Bilder sind in Galerien auf der ganzen Welt gesucht, ich habe mir einen Traum erfüllt, ich bin ein geachteter Bürger meines Dorfes, meine Frauen haben mich nie um Alimente gebeten, ich bin gesund, sehe gut aus, kurz, ich habe alles, was ein Mann sich nur erträumen kann… Und doch stehe ich hier und sage zu einer Frau, die ich erst kürzlich in einem Cafe getroffen und mit der ich gerade mal einen Nachmittag verbracht habe: ›Ich brauche dich!‹ Weißt du, was Einsamkeit ist?«
»Ja, ich weiß es.«
»Aber du weißt nicht, was Einsamsein heißt, wenn du gleichzeitig jede Menge Leute treffen könntest, überall eingeladen bist, zu Partys, Cocktails, Theaterpremieren. Wenn andauernd das Telefon klingelt und Frauen dran sind, die deine Arbeit großartig finden, die mit dir zu Abend essen wollen schöne, intelligente, gebildete Frauen. Und etwas hält dich ab und sagt: ›Geh nicht! Du wirst dich nicht amüsieren. Du wirst nur eine weitere Nacht damit vertun, Eindruck zu schinden, dir selbst zu beweisen, daß du fähig bist, die ganze Welt zu verführen.‹
Dann bleibe ich zu Hause, gehe in mein Studio, suche das Licht, das ich in dir gesehen habe. Aber ich sehe dieses Licht nur, solange ich arbeite.«
»Was kann ich dir geben, das du nicht schon hast?« entgegnete sie. Die Bemerkung über die anderen Frauen tat weh, aber schließlich hatte er sie, Maria, dafür bezahlt, um sie an seiner Seite zu haben.
Er war bei seinem dritten Whisky angelangt, und Maria stellte sich vor, wie der Alkohol seine Kehle hinunterrann, im Magen brannte, in Ralfs Blutkreislauf gelangte, ihn ermutigte, und sie fühlte sich ebenfalls beschwipst, obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.
»Gut. Ich kann deine Liebe nicht kaufen, aber du hast gesagt, daß du alles über Sex weißt. Bring es mir bei. Oder erzähl mir etwas über Brasilien. Was auch immer, wenn ich nur bei dir sein darf.«
Was jetzt?
»In Brasilien kenne ich nur zwei Städte: die Kleinstadt, in der ich geboren wurde, und Rio de Janeiro. In puncto Sex glaube ich nicht, daß ich dir etwas beibringen kann. Ich bin bald dreiundzwanzig und du nur sechs Jahre älter, aber du hast viel intensiver gelebt als ich. Die Männer, mit denen ich mich sonst treffe, bezahlen dafür, daß ich mache, was sie wollen, und nicht umgekehrt.«
»Ich habe bereits alles getan, wovon ein Mann träumen kann, mit zwei, drei Frauen auf einmal. Aber ich weiß nicht, ob ich viel gelernt habe.«
Wieder Schweigen, nur daß diesmal Maria an der Reihe war, etwas zu sagen. Und er half ihr nicht, so wie sie vorher ihm nicht geholfen hatte.
»Willst du mich als Professionelle?«
»Ich will dich so, wie du willst.«
Nein, das hätte er nicht antworten dürfen, denn es war genau das, was sie hören wollte. Wieder das Erdbeben, der Vulkan, der Sturm. Sie würde unweigerlich in die eigene Falle gehen, den Mann verlieren, den sie nie wahrhaft gehabt hatte.
»Du kannst es, Maria. Bring es mir bei. Vielleicht rettet es mich und dich und bringt uns beide zurück ins Leben. Du hast recht, ich bin nur sechs Jahre älter als du, und doch habe ich schon mehrere Leben gelebt. Unsere Erfahrungen sind vollkommen unterschiedlich, aber wir sind beide verzweifelt. Das einzige, was uns Frieden schenkt, ist, zusammenzusein.«
Warum sagte er all diese Dinge? Es war unmöglich, und dennoch stimmte es. Sie hatten sich nur einmal gesehen, und schon brauchten sie einander. Was würde nur daraus werden, wenn sie sich häufiger sahen? Maria war eine intelligente Frau, die die Menschen genau beobachtete; sie hatte sich in ihrem Leben einiges vorgenommen, aber sie hatte auch eine Seele, die ihr ›Licht‹ kennenlernen und entdecken mußte.
Sie war es allmählich müde, das zu sein, was sie war, und obwohl die bevorstehende Rückreise nach Brasilien eine interessante Herausforderung war, hatte sie noch nicht alles gelernt, was es hier für sie zu lernen gab. Ralf Hart war ein Mann, der Herausforderungen angenommen hatte, und jetzt bat er ausgerechnet sie – dieses Mädchen, diese Prostituierte, diese verständnisvolle Mutter –, ihn zu retten. Es war grotesk!
Andere Männer hatten sich ihr gegenüber genauso verhalten. Viele hatten keine Erektion zustande gebracht, andere wollten wie Kinder behandelt werden, wieder andere hätten sie gern zur Ehefrau gehabt, weil es sie erregte, daß sie mit vielen Männern im Bett gewesen war. Obwohl sie noch keinen dieser ›speziellen Freier‹ kennengelernt hatte, wußte sie, wie groß der Vorrat an Phantasien war, die die menschliche Seele bevölkerten. Doch kein anderer Mann hatte sie je gebeten: ›Führe mich hier heraus!‹ Sie wollten im Gegenteil Maria immer mit in ihre Welt nehmen.
Und obwohl sie nach jedem Mal noch ein wenig reicher und innerlich noch ein wenig leerer gewesen war, hatte doch jeder dieser Männer sie etwas gelehrt. Allerdings, wenn einer von ihnen wirklich Liebe suchte und Sex nur ein Teil dieser Suche war, wie wollte sie dann behandelt werden?
Was gehörte für sie zu einer ersten Begegnung?
»Ein Geschenk«, sagte Maria.
Ralf Hart sah sie verständnislos an. Ein Geschenk? Er hatte für diese Nacht im Taxi schon im voraus bezahlt, da er das Ritual kannte. Was hatte sie also gemeint?
Aber Maria hatte plötzlich begriffen, welche Gefühle ein Mann und eine Frau brauchen. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Nebenzimmer.
»Wir werden nicht ins Schlafzimmer hinaufgehen«, sagte sie.
Sie löschte fast alle Lichter, setzte sich auf den Teppich und bat ihn, sich ihr gegenüber hinzusetzen. Sie sah, daß es dort einen Kamin gab.
»Mach den Kamin an!«
»Aber es ist doch Sommer!«
»Mach den Kamin an! Du hast mich gebeten, heute nacht die Führung zu übernehmen, und das gehört dazu.«
Sie sah ihn fest an, hoffte, er würde wieder ihr ›Licht‹ sehen. Er sah es, denn er ging in den Garten und holte ein paar vom Regen naßgewordene Holzscheite, legte ein paar alte Zeitungen dazu. Er ging in die Küche, um eine neue Flasche Whisky zu holen, aber Maria sagte: »Hast du mich gefragt, was ich will?«
»Nein.«
»Die Person, die bei dir ist, muß spüren, daß sie für dich existiert. Denk an sie! Denk darüber nach, ob sie Whisky oder Gin oder Kaffee möchte. Frag, was sie möchte!«
»Was möchtest du trinken?«
»Wein. Und ich möchte, daß du auch welchen trinkst.«
Er ließ den Whisky stehen und kam mit einer Flasche Wein zurück. Inzwischen hatte das Feuer schon die Holzscheite angebrannt; Maria löschte die restlichen Lichter, so daß der Raum nur noch vom Kaminfeuer erhellt war. Sie verhielt sich so, als hätte sie schon immer gewußt, daß dies der erste Schritt war: den anderen merken zu lassen, daß man ihn wahrnimmt.
Sie kramte in ihrer Handtasche und fand einen Kugelschreiber, den sie in einem Supermarkt gekauft hatte.
»Der ist für dich. Ich habe ihn gekauft, um damit meine Ideen für meine Farm aufzuschreiben. Drei Tage habe ich geschrieben und geschrieben, bis ich nicht mehr konnte. Es klebt ein wenig von meinem Schweiß, meiner Konzentration, meinem Willen daran, und darum schenke ich ihn dir jetzt.«
Sanft legte sie den Kugelschreiber in seine Hand.
»Anstatt dir etwas zu kaufen, was du vielleicht gern hättest, gebe ich dir etwas, was wirklich mir gehört. Ein Geschenk. Als Zeichen meiner Achtung vor dem Menschen, der vor mir sitzt, damit er versteht, wieviel es mir bedeutet, bei ihm zu sein. Jetzt hast du einen kleinen Teil von mir, den ich dir freiwillig und spontan gegeben habe.«
Ralf erhob sich, ging zum Bücherregal und kam mit einem Gegenstand zurück. Er reichte ihn Maria:
»Das ist der Waggon einer elektrischen Eisenbahn, die ich als kleiner Junge hatte. Ich durfte nie allein damit spielen, weil mein Vater sie dafür zu kostbar fand. Also mußte ich immer warten, bis er Lust hatte, die Eisenbahn aufzubauen – hier in diesem Zimmer. Normalerweise verbrachte er seine Sonntage damit, Opern zu hören. Daher hat die Eisenbahn meine Kindheit überlebt, aber sie hat mir keine Freude gebracht. Im ersten Stock habe ich alle Schienen aufbewahrt, die Lokomotive, die kleinen Bahnhöfe, sogar die Gebrauchsanleitung; weil ich eine Eisenbahn hatte, die mir nicht wirklich gehörte, mit der ich nicht spielte. Es wäre besser gewesen, sie wäre kaputtgegangen wie andere Spielsachen, die ich als Kind bekommen habe und an die ich mich nicht mehr erinnern kann, weil ich sie kaputtgemacht habe, weil man als Kind die Welt voller Leidenschaft entdeckt und dabei vieles kaputtmacht. Diese unversehrte Eisenbahn jedoch erinnert mich immer an einen ungelebten Teil meiner Kindheit, weil die Eisenbahn zu wertvoll oder mein Vater anderweitig beschäftigt war. Oder vielleicht weil mein Vater jedesmal, wenn er die Eisenbahn aufbaute, Angst hatte, mich seine Liebe spüren zu lassen.«
Maria starrte ins Feuer. Etwas war geschehen – aber es lag nicht am Wein oder der gemütlichen Atmosphäre. Es hing mit der Übergabe der Geschenke zusammen.
Ralf wandte sich dem Kamin zu. Sie schwiegen und lauschten dem Knistern des Feuers. Sie tranken Wein, als wäre es nicht wichtig, etwas zu sagen, zu reden, zu tun. Einfach nur dasein, einer beim anderen und in dieselbe Richtung schauen.
»Ich habe viele unversehrte Eisenbahnen in meinem Leben«, sagte Maria nach einer Weile. »Eine davon ist mein Herz. Ich habe auch damit gespielt, wenn die anderen die Schienen aufbauten, und es war nicht immer der richtige Moment.«
»Aber du hast geliebt?«
»Ja, ich habe geliebt, ich habe sehr geliebt. Ich habe so sehr geliebt, daß ich, als ich meiner ersten Liebe nicht gegeben habe, was sie wollte – einen Bleistift –, geflohen bin.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das brauchst du auch nicht. Ich bringe dir etwas bei, was auch ich erst lernen mußte: schenken. Das Schenken von etwas, was einem gehört. Einem anderen etwas geben, bevor man ihn um etwas Wic htiges bittet. Du hast meinen Schatz: den Kugelschreiber, mit dem ich einige meiner Träume aufgeschrieben habe. Ich habe deinen Schatz: einen Eisenbahnwagen, einen Teil deiner Kindheit, den du nicht gelebt hast. Ich habe jetzt einen Teil deiner Vergangenhe it und du einen Teil meiner Gegenwart. Und das ist schön.«
Sie sagte das alles wie selbstverständlich, ohne sich über sich selbst zu wundern, als hätte sie schon lange gewußt, daß dies die beste und einzige Art zu handeln war. Langsam erhob sie sich, nahm ihre Jacke vom Bügel und küßte ihn auf die Wange. Ralf, der weiter wie hypnotisiert ins Feuer starrte und vermutlich an seinen Vater dachte, machte keine Anstalten aufzustehen.
»Ich habe nie recht verstanden, warum ich diesen Waggon aufbewahrt habe. Bis he ute: um ihn in einer Nacht im Schein des Kaminfeuers zu verschenken. Jetzt wird das Haus leichter.«
Er sagte, er werde gleich morgen die restlichen Waggons, die Schienen, Lokomotiven, Rauchkapseln einem Waisenhaus schenken.
»Vielleicht ist diese Eisenbahn inzwischen eine Rarität und ein kleines Vermögen wert«, meinte Maria und hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Darum ging es doch gar nicht, sondern darum, sich von etwas zu befreien, was unserem Herzen noch viel mehr bedeutet.
Bevor sie noch mehr unpassende Dinge sagen konnte, küßte sie ihn noch einmal auf die Wange und ging zur Tür. Er schaute immer noch ins Feuer, und sie bat ihn höflich, aufzustehen und ihr die Tür zu öffnen.
Ralf erhob sich, und sie erklärte ihm, die Brasilianer hätten einen merkwürdigen Aberglauben: Wenn man jemanden zum ersten Mal besuche, dürfe man die Tür beim Weggehen nie selbst öffnen, denn sonst würde man nie wieder in dieses Haus zurückkehren.
»Ich möchte zurückkommen.«
»Obwohl wir uns nicht ausgezogen haben und ich nicht in dich eingedrungen bin, dich nicht einmal angefaßt habe, haben wir uns geliebt.«
Sie lachte. Er erbot sich, sie nach Hause zu bringen, aber Maria lehnte ab.
»Ich werde dich morgen im ›Copacabana‹ besuchen.«
»Tu's nicht. Warte eine Woche. Ich habe gelernt, daß Warten das Schwierigste ist, und möchte mich auch daran gewöhnen; ich möchte spüren, daß du bei mir bist, selbst wenn ich dich nicht an meiner Seite habe.«
Sie ging zu Fuß durch die dunkle Nacht. Normalerweise waren ihre nächtlichen Gänge durch Genf von Traurigkeit geprägt gewesen, von finanziellen Sorgen und Zeitplänen, von Heimweh, auch nach ihrer Muttersprache, die außer ihren Kolleginnen niemand sprach.
Heute jedoch ging sie, um sich selbst zu finden oder vielmehr die Frau, die vierzig Minuten lang mit einem Mann vor dem Feuer gesessen hatte und voller Licht, Weisheit, Erfahrung, Zauber gewesen war. Sie hatte das Gesicht dieser Frau vor nicht allzu langer Zeit gesehen, als sie am See spazierengegangen war und überlegt hatte, ob sie ein Leben führen sollte, das ihr fremd war – an jenem Nachmittag hatte die Frau traurig gelächelt. Maria hatte ihr Gesicht ein zweites Mal auf einer zusammengefalteten Leinwand gesehen, und nun war es wieder da.
Erst viel später, als die magische Erscheinung verschwunden war, nahm sie ein Taxi.
Sie sollte lieber nicht über den Abend nachdenken, sonst machte sie alles kaputt. Sie durfte nicht zulassen, daß Ungeduld all das Gute zerstörte, das sie gerade erlebt hatte. Wenn es diese andere Maria wirklich gab, würde sie im richtigen Augenblick wieder dasein.
Auszug aus Marias Tagebuch, an dem Abend geschrieben, als sie den Eisenbahnwaggon geschenkt bekam:
Das tiefe Begehren, das realste Begehren ist dann in einem, wenn man zum ersten Mal auf jemanden zugeht. Das löst das Knistern aus. Danach erst kommen Mann und Frau ins Spiel. Aber das, was zuvor geschah – was die gegenseitige Anziehung auslöste –, kann man nicht erklären. Es ist das Begehren in seiner ursprünglichen, reinsten Form.
Wenn das Begehren in diesem ursprünglichen Zustand ist, verlieben sich Mann und Frau in das Leben, kosten sie jeden Augenblick ehrfürchtig und ganz bewußt aus und feiern jeden dieser Augenblicke wie eine Segnung.
Solche Menschen kennen keine Eile, sie überstürzen nichts, tun nichts Unbedachtes. Sie wissen, daß das Unausweichliche geschieht, daß die Wahrheit immer wirksam wird. Sie packen jede Gelegenheit beim Schopf und lassen keinen magischen Augenblick ungenutzt verstreichen, weil sie wissen, wie wichtig jede einzelne Sekunde ist.
In den darauffolgenden Tagen sah Maria, daß sie in die Falle gegangen war, die sie so sehr zu meiden versucht hatte – aber sie war deswegen weder traurig noch besorgt.
Im Gegenteil: Da sie nichts zu verlieren hatte, war sie frei.
So romantisch die Situation auch war: Maria mußte sich im klaren sein, daß Ralf früher oder später einsehen würde, daß sie nur eine Hure, er dagegen ein geachteter Künstler war; daß sie aus einem fernen, ewig krisengeschüttelten Land kam, er dagegen in einem Paradies lebte, dessen Bewohner von Geburt an ein geordnetes, geschütztes Leben führen durften. Er hatte eine hervorragende Ausbildung genossen, die allerbesten Schulen und Museen der Welt besucht, während sie nicht studiert hatte. Solche Träume sind nicht von Dauer, und Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß die Wirklichkeit selten mit ihren Träumen übereinstimmte. Ihre größte Freude war jetzt, daß sie wunschlos glücklich sein konnte und nicht danach strebte, jemanden zu besitzen.
›Wie romantisch ich bin, mein Gott!‹
Während der Woche versuchte sie herauszufinden, was Ralf glücklich machen könnte; er hatte ihr ihr ›Licht‹ gezeigt und ihr ihre, wie sie glaubte, für immer verlorene Würde zurückgegeben. Sie würde sich bei ihm nur mit Sex revanchieren können. Er hielt es für ihre Spezialität. Da aber Sex im ›Copacabana‹ wenig Abwechslung bot, beschloß sie, sich anderswo inspirieren zu lassen.
Sie lieh sich Pornofilme aus und fand sie erneut uninspirierend – außer einigen Varianten beim Gruppensex. Da die Filme wenig weiterhalfen, beschloß sie zum ersten Mal, seit sie in Genf war, Bücher zu kaufen – obwohl sie weiterhin keine Lust hatte, ihre Wohnung mit ausgelesenen Büchern vollzustopfen. In einer Buchhandlung, die sie entdeckt hatte, als sie mit Ralf auf dem Jakobsweg gegangen war, erkundigte sie sich, ob sie etwas zum Thema dahatten.
»Massenhaft«, antwortete die Buchhändlerin. »Tatsächlich scheinen sich die Leute nur mit Sex zu beschäftigen. Es gibt eine Spezialabteilung, aber letztlich enthält jeder dieser Romane hier mindestens eine Sexszene. Ob sie nun in schönen Liebesgeschichten eingebettet ist oder in ernsthaften Traktaten über Verhaltensforschung, Tatsache ist: Die Menschen denken an nichts anderes.«
Maria wußte aus eigener Erfahrung, daß sich die Buchhändlerin irrte: Es war falsch zu glauben, daß alle Welt nur an diesem Thema interessiert war. Natürlich machten alle Diäten, kauften sich Perücken, verbrachten Stunden beim Friseur oder im Fitneßstudio, trugen aufreizende Kleider, versuchten den gewünschten Funken zu entfachen – aber was kam dabei heraus? Wenn's zur Sache ging: elf Minuten, Schluß, aus. Keine Kreativität, nichts, was sie in den siebten Himmel erhob; in Null Komma nichts war der Funke schon zu schwach, um das Feuer am Brennen zu halten.
Es war zwecklos, mit der blonden Buchhändlerin weiterzudiskutieren, die glaubte, die Welt könne mit Büchern erklärt werden. Maria ließ sich die Spezialabteilung zeigen und entdeckte dort verschiedene Bände über homosexuelle und lesbische Sexpraktiken, außerdem Enthüllungsgeschichten über das Sexleben des Klerus sowie reichbebilderte Sexfibeln aus dem Orient. Ein Buchtitel stach ihr ins Auge: Der heilige Sex. Das war zumindest mal etwas anderes.
Sie kaufte das Buch, ging nach Hause, stellte das Radio auf einen Sender mit ruhiger Musik ein, die ihr immer beim Nachdenken half. Der Band enthielt zahlreiche Illustrationen von Liebesstellungen, die bestimmt höchstens von Zirkusakrobaten ausgeführt werden konnten; der dazugehörige Text war langweilig.
Maria wußte von Berufs wegen nur zu gut, daß beim Sex nicht allein die Stellung, die man einnimmt, wichtig war und daß Variationen sich wie selbstverständlich ergaben, ähnlich wie Tanzschritte. Dennoch versuchte sie weiterzulesen.
Nach zwei Stunden war ihr klar: Die Autorin des Buches hatte vom Sex keine Ahnung: nichts als viel Theorie, ein bißchen Kamasutra, nutzlose Rituale, idiotische Vorschläge. Aus dem Klappentext ging hervor, daß die Autorin im Himalaja meditiert hatte (wo denn?), Joga-Kurse besucht (davon hatte Maria schon gehört) und selbst viele Bücher gewälzt hatte: Sie zitierte den einen oder andern Autor, aber zum Wesentlichen war sie nicht vorgestoßen. Sex war keine Theorie, hatte nichts mit Räucherstäbchen, Berührungspunkten, Verbeugungen und Salemaleikums zu tun. Was maßte die Frau sich an, ein Buch über ein Thema zu schreiben, in dem nicht einmal Maria, die in dem Bereich arbeitete, sich genau auskannte? Vielleicht war der Himalaja daran schuld oder das Bedürfnis, etwas zu verkomplizieren, dessen Schönheit in der Einfachheit und in der Leidenschaft lag. Wenn diese Frau fähig war, ein so dummes Buch auf den Markt zu bringen, dann sollte sie, Maria, sich schnellstens wieder ihrem Buchprojekt Elf Minuten zuwenden. Ihr Buch wäre zumindest nicht zynisch noch verlogen, sondern ihre eigene, authentische Geschichte.
Aber zum Schreiben hatte sie momentan weder Zeit noch Lust; sie mußte ihre ganze Energie darauf verwenden, Ralf glücklich zu machen und zu lernen, wie man einen landwirtschaftlichen Betrieb führt.
Aber erst einmal mußte sie zu Abend essen und später ins ›Copacabana‹ gehen.
Aus Marias Tagebuch, gleich nachdem sie das langweilige Buch zur Seite gelegt hat:
Ich bin einem Mann begegnet und habe mich in ihn verliebt. Ich habe es aus einem einfachen Grund zugelassen: Ich erhoffe mir nichts. Ich weiß, daß ich in drei Monaten über alle Berge sein werde. Ralf wird dann nur noch eine Erinnerung sein. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten ohne Liebe; ich bin an meine Grenzen gestoßen.
Ich schreibe gerade eine Geschichte für Ralf. Ob er je wieder in den Nachtclub kommen wird, weiß ich nicht, aber zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das vollkommen egal. Es reicht, daß ich ihn liebe, in Gedanken bei ihm bin, in dieser schönen Stadt, die er mit seinen Schritten, seinen Worten, seiner Zärtlichkeit lebendiger macht. Wenn ich dieses Land verlasse, wird es ein Gesicht, einen Namen haben und in meiner Erinnerung mit einem Abend am Kaminfeuer verbunden sein. Alles, was ich sonst hier erlebt habe, wird neben dieser Erinnerung verblassen.
Ich würde mich gern für das bei ihm revanchieren, was er für mich getan hat. Ich habe lange nachgedacht und herausgefunden, daß ich nicht zufällig in dieses Cafe gegangen bin; die wichtigsten Begegnungen sind von den Seelen abgemacht, noch bevor die Körper sich sehen.