»Ja. Wir können ohnehin nichts anderes mehr machen. Wer soll den Zahn verschieben?«
»Lebenthal. Er ist der einzige, der es machen kann.«
Hinter ihnen öffnete sich die Tür der Baracke. Ein paar Leute zerrten eine Gestalt an Armen und Beinen heraus und schleiften sie zu einem Haufen neben der Straße. Dort lagen die Toten, die seit dem Abendappell gestorben waren.
»Ist das schon Lohmann?«
»Nein. Das sind keine von den Unsern. Das sind Muselmänner.«
Die Leute, die den Toten losgelassen hatten, taumelten zur Baracke zurück.
»Hat irgend jemand gemerkt, daß wir den Zahn haben?«fragte Berger.
»Ich glaube nicht. Es sind fast alles Muselmänner, die da liegen. Höchstens der Mann, der uns die Streichhölzer gegeben hat.«
»Hat er was gesagt?«
»Nein. Bis jetzt nicht. Aber er kann immer noch einen Anteil verlangen.«
»Das ist das wenigste. Die Frage ist, ob er es für ein besseres Geschäft hält, uns zu verraten.«509 dachte nach. Er wußte, daß es Leute gab, die für ein Stück Brot zu allem fähig waren.»Er sah nicht so aus«, sagte er schließlich.»Warum hätte er uns sonst die Streichhölzer gegeben?«
»Das hat nichts damit zu tun. Wir müssen vorsichtig sein. Sonst sind wir beide erledigt. Und Lebenthal ebenso.«509 wußte auch das gut genug. Er hatte manchen Mann für weniger hängen sehen.
»Wir müssen ihn beobachten«, erklärte er.»Wenigstens so lange, bis Lohmann verbrannt ist und Lebenthal den Zahn verschoben hat. Danach nützt es ihm nichts mehr.«
Berger nickte.»Ich gehe noch einmal 'rein. Vielleicht finde ich schon etwas heraus.«
»Gut. Ich bleibe hier und warte auf Leo. Er muß noch im Arbeitslager sein.«
Berger stand auf und ging zur Baracke hinüber. Er und 509 hätten ohne Zögern ihr Leben riskiert, wenn Lohmann durch irgend etwas zu retten gewesen wäre. Aber er war nicht zu retten. Deshalb redeten sie über ihn wie über einen Stein. Die Jahre im Lager hatten sie dazu gebracht, sachlich zu denken.
509 hockte im Schatten der Latrine. Es war ein guter Platz; niemand achtete hier auf ihn. Das Kleine Lager hatte für alle Baracken zusammen nur eine gemeinsame Massenlatrine, die an der Grenze der beiden Lager errichtet war und zu der ein endloser Zug von Skeletten ständig stöhnend von den Baracken hinüber und zurück schuffelte. Fast alle hatten Durchfall oder Schlimmeres, und viele lagen zusammengebrochen umher und warteten, bis sie wieder Kraft genug hatten, um weiter zu stolpern. Zu beiden Seiten der Latrine lief der Stacheldrahtzaun entlang, der das Kleine Lager vom Arbeitslager trennte. 509 hockte so, daß er die Pforte, die in den Stacheldraht geschnitten war, beobachten konnte. Sie war da für die SS-Blockführer, die Blockältesten, die Essenholer, die Leichenträger und die Leichenwagen. Von Baracke 22 durfte nur Berger sie benutzen, wenn er zum Krematorium ging. Für alle anderen war sie streng verboten. Der Pole Silber hatte sie die Krepierpforte genannt, weil die Gefangenen, die ins Kleine Lager überwiesen wurden, nur als Leichen durch sie zurückkamen. Jeder Posten durfte schießen, wenn ein Skelett versuchen sollte, ins Arbeitslager zu gelangen. Fast niemand versuchte es. Auch vom Arbeitslager kam außer denen, die Dienst hatten, nie jemand herüber. Das Kleine Lager war nicht nur unter einer losen Quarantäne; es war auch sonst von den übrigen Gefangenen aufgegeben worden und wurde lediglich als eine Art von Friedhof betrachtet, auf dem die Toten noch kurze Zeit umherwankten. 509 konnte durch den Stacheldraht einen Teil der Straßen des Arbeitslagers sehen. Sie wimmelte von Gefangenen, die den Rest ihrer Freizeit ausnutzten. Er sah, wie sie miteinander sprachen, wie sie in Gruppen zusammenstanden und die Straßen entlanggingen – und obschon es nur ein anderer Teil des Konzentrationslagers war, erschien es ihm, als sei er durch einen unüberbrückbaren Abgrund von ihnen getrennt und als sei das drüben fast so etwas wie eine verlorene Heimat, in der immerhin noch Leben und Gemeinschaft existierten. Er hörte hinter sich das weiche Schlurfen der Häftlinge, die zur Latrine wankten, und er brauchte sich nicht umzublicken, um ihre toten Augen zu sehen. Sie sprachen kaum noch – sie stöhnten höchstens oder zankten mit müden Stimmen; sie dachten nicht mehr. Der Lagerwitz nannte sie Muselmänner, weil sie völlig in ihr Schicksal ergeben waren. Sie bewegten sich wie Automaten und hatten keinen eigenen Willen mehr; alles war in ihnen ausgelöscht, außer ein paar körperlichen Funktionen. Sie waren lebendige Tote und starben wie Fliegen im Frost. Das Kleine Lager war voll von ihnen. Sie waren gebrochen und verloren, und nichts konnte sie retten, nicht einmal die Freiheit 509 spürte die Kühle der Nacht tief in den Knochen. Das Murmeln und Stöhnen hinter ihm war wie eine graue Flut, in der man ertrinken konnte. Es war die Lockung zur Selbstaufgabe – die Lockung, gegen die die Veteranen verzweifelt kämpften. 509 bewegte sich unwillkürlich und drehte den Kopf, um zu fühlen, daß er noch lebte und einen eigenen Willen hatte. Dann hörte er das Abpfeifen im Arbeitslager. Die Baracken dort hatten eigene Latrinen und wurden nachts abgeschlossen. Die Gruppen auf den Straßen lösten sich auf. Die Leute verschwanden. In kaum einer Minute war drüben alles leer, und nur noch der trostlose Zug der Schatten im Kleinen Lager war da – vergessen von den Kameraden jenseits des Stacheldrahtes; abgeschrieben, isoliert, ein Rest zitternden Lebens im Territorium sicheren Todes. Lebenthal kam nicht durch das Tor. 509 sah ihn plötzlich schräg vor sich über den Platz gehen. Er mußte irgendwo hinter der Latrine hereingekommen sein. Niemand wußte, wie er sich durchschmuggelte; es würde 509 nicht gewundert haben, wenn er dazu die Armbinde eines Vormannes oder sogar die eines Kapos benutzt hätte.»Leo!«Lebenthal blieb stehen.»Was ist los? Vorsicht! Drüben ist noch SS. Komm hier weg.«Sie gingen zu den Baracken hinüber.»Hast du was erwischt?«fragte 509.»Was?«
»Essen. Was sonst?«
Lebenthal hob die Schultern.»Essen! Was sonst«, wiederholte er irritiert.»Wie stellst du dir das vor? Bin ich der Küchenkapo?«
»Nein.«
»Na also! Was willst du dann von mir?«
»Nichts. Ich habe nur gefragt, ob du was zu essen erwischt hast.«
Lebenthal blieb stehen.»Essen«, sagte er bitter.»Weißt du, daß die Juden zwei Tage Brotentzug im ganzen Lager haben? Befehl von Weber.«
509 starrte ihn an.»Ist das wahr?«
»Nein. Ich habe es erfunden. Ich erfinde immer so was. Es ist witzig.«
»Mein Gott! Das wird Tote geben!«
»Ja. Haufen. Und du willst noch wissen, ob ich Essen erwischt habe -«
»Sei ruhig, Leo. Setz dich hierher. Das ist eine verfluchte Geschichte. Gerade jetzt!
Jetzt, wo wir allen Fraß brauchen, den wir kriegen können!«
»So? Ich bin vielleicht wohl noch schuld, was?«Lebenthal begann zu zittern. Er zitterte immer, wenn er sich aufregte, und er regte sich leicht auf; er war sehr empfindlich. Das bedeutete bei ihm nicht mehr, als hätte ein anderer mit den Fingern auf eine Tischplatte getrommelt. Es kam durch den ständigen Hunger. Er vergrößerte und verkleinerte alle Emotionen. Hysterie und Apathie waren Geschwister im Lager.»Ich habe getan, was ich konnte«, zeterte Lebenthal leise mit hoher, sich überschlagender Stimme.»Ich habe herangeschafft und riskiert und besorgt, und da kommst du und erklärst, wir brauchen -«
Seine Stimme versank plötzlich in ein mooriges, unverständliches Gurgeln. Es war, als sei einer der Lautsprecher des Lagerradios außer Kontakt geraten. Lebenthal fuhr mit den Händen auf dem Boden umher. Sein Gesicht sah jetzt nicht mehr aus wie ein beleidigter Totenkopf; es war nur noch eine Stirn mit einer Nase und Froschaugen und einem Haufen schlaffer Haut darunter, mit einem Loch darin. Endlich fand er sein falsches Gebiß auf dem Boden wieder, wischte es an seiner Jacke ab und schob es zurück in den Mund. Der Lautsprecher war aufs neue angestellt, und die Stimme war wieder da, hoch und zeternd.
509 ließ ihn jammern, ohne zuzuhören. Lebenthal merkte es und hörte auf.»Wir haben doch schon öfter Brotentzug gehabt«, sagte er schließlich lahm.»Und für länger als zwei Tage. Was ist los mit dir, daß du heute so viel Theater deswegen machst?«509 sah ihn eine Weile an. Dann deutete er auf die Stadt und die brennende Kirche.
»Was los ist? Das da, Leo -«
»Was?«
»Das da unten. Wie war das doch damals im Alten Testament?«
»Was hast du mit dem Alten Testament zu schaffen?«
»Gab es da nicht so etwas unter Moses? Eine Feuersäule, die das Volk aus der Knechtschaft führte?«
Lebenthal blinkte mit den Augen.»Eine Rauchwolke bei Tag und eine Feuersäule bei Nacht«, sagte er, ohne zu jammern.»Meinst du das?«
»Ja. Und war nicht Gott darin?«
»Jehova.«
»Gut, Jehova. Und das da unten – weißt du, was das ist?«509 wartete einen Augenblick.»Es ist etwas Ähnliches«, sagte er dann.»Es ist Hoffnung, Leo, Hoffnung für uns! Verdammt, will das denn keiner von euch sehen?«
Lebenthal antwortete nicht. Er saß in sich geduckt und blickte auf die Stadt hinunter.
509 ließ sich zurücksinken. Er hatte es endlich jetzt zum erstenmal ausgesprochen.
Man kann es kaum sagen, dachte er, es erschlägt einen fast, es ist ein so ungeheures Wort. Ich habe es vermieden durch all die Jahre, es hätte mich zerfressen, wenn ich es gedacht hätte; – aber jetzt ist es wiedergekommen, heute, man wagt noch nicht, es ganz auszudenken, aber es ist da, und entweder zerbricht es mich nun oder es wird wahr.
»Leo«, sagte er.»Das da unten bedeutet, daß auch dieses hier kaputtgehen wird.«
Lebenthal rührte sich nicht.»Wenn sie den Krieg verlieren,«, flüsterte er.»Nur dann! Aber wer weiß das?«Er sah sich unwillkürlich ängstlich um.
Das Lager war in den ersten Jahren ziemlich gut über den Verlauf des Krieges informiert gewesen.
Später jedoch, als die Siege ausblieben, hatte Neubauer verboten, Zeitungen hereinzubringen und Nachrichten über den Rückzug im Lagerradio bekanntzugeben. Die wildesten Gerüchte hatten seitdem die Baracken durchjagt; und schließlich hatte keiner mehr gewußt, was er wirklich glauben sollte.
Der Krieg ging schlecht, das wußte man; aber die Revolution, auf die viele seit Jahren gewartet hatten, war nie gekommen.
»Leo«, sagte 509.»Sie verlieren ihn. Es ist das Ende. Wenn das da unten im ersten Jahre des Krieges passiert wäre, würde es nichts bedeuten. Daß es jetzt nach fünf Jahren geschieht, heißt, daß die anderen gewinnen.«
Lebenthal sah sich wiederum um.»Wozu redest du darüber?«509 kannte den Aberglauben der Baracken. Was man aussprach, verlor an Sicherheit und Kraft – und eine getäuschte Hoffnung war immer ein schwerer Verlust an Energie. Das war auch der Grund für die Vorsicht der anderen.
»Ich rede darüber, weil wir jetzt darüber reden müssen«, sagte er.»Es ist Zeit dafür. Jetzt wird es uns helfen, durchzustehen. Diesmal ist es keine Latrinenparole. Es kann nicht mehr lange dauern.
Wir müssen -«Er stockte.
»Was?«fragte Lebenthal.
509 wußte es selbst nicht genau. Durchkommen, dachte er. Durchkommen und noch mehr.»Es ist ein Rennen«, sagte er schließlich.»Ein Wettrennen, Leo – mit -«Mit dem Tode, dachte er; aber er sprach es nicht aus. Er zeigte in die Richtung der SS-Kasernen.
»Mit denen da! Wir dürfen jetzt nicht noch verlieren. Das Ende ist in Sicht, Leo!«Er packte Lebenthal am Arm.»Wir müssen jetzt alles tun -«
»Was können wir schon tun?«509 fühlte, daß sein Kopf schwamm, als hätte er getrunken. Er war nicht mehr gewöhnt, viel zu denken und zu sprechen. Und er hatte lange nicht so viel gedacht wie heute.»Hier ist etwas«, sagte er und holte den Goldzahn aus der Tasche.»Von Lohmann.
Wahrscheinlich nicht eingetragen. Können wir ihn verkaufen?«
Lebenthal wog den Klumpen in der Hand. Er zeigte keine Überraschung.
»Gefährlich. Kann nur gemacht werden mit jemand, der aus dem Lager heraus kann oder Verbindung nach draußen hat.«
»Wie, ist egal. Was können wir dafür kriegen? Es muß rasch gehen!«
»Das geht nicht so rasch. So etwas muß befingert werden. Das verlangt Kopf, sonst sind wir am Galgen oder sind es los ohne einen Pfennig.«
»Kannst du es nicht heute abend noch machen?«
Lebenthal ließ die Hand mit dem Zahn sinken.»509«, sagte er.»Gestern warst du noch vernünftig.«
»Gestern ist lange her.«
Ein Krach kam von der Stadt und gleich darauf ein klarer, hallender Glocken«ton.
Das Feuer hatte das Gebälk des Kirchturms durchfressen, und die Glocke war gerutscht.
Lebenthal hatte sich erschreckt geduckt.»Was war das?«fragte er.
509 verzog die Lippen.»Ein Zeichen, Leo, daß gestern lange her ist.«
»Es war eine Glocke. Wieso hat die Kirche da unten noch eine Glocke? Sie haben doch alle Glocken zu Kanonen eingeschmolzen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie die eine vergessen. Also wie ist es mit dem Zahn heute abend? Wir brauchen Fraß für die Tage ohne Brot.«
Lebenthal schüttelte den Kopf.»Heute geht es nicht. Gerade deshalb nicht. Heute ist Donnerstag.
Kameradschaftsabend in der SS-Kaserne.«
»Ach so. Heute kommen die Huren?«
Lebenthal blickte auf.»So, das weißt du? Woher?«
»Das ist ja egal. Ich weiß es, Berger weiß es, Bucher weiß es, und Ahasver weiß es.«
»Wer sonst noch?«
»Keiner.«
»So, ihr wißt das! Ich habe nicht gemerkt, daß ihr mich beobachtet habt. Muß besser aufpassen.
Gut, das ist also heute abend.«
»Leo«, sagte 509.»Versuch heute abend, den Zahn loszuwerden. Das ist wichtiger.
Dies hier kann ich für dich machen. Gib mir das Geld; ich weiß Bescheid. Es ist einfach.«
»Du, weißt, wie es gemacht wird?«
»Ja, von der Grube aus -«
Lebenthal dachte nach.»Da ist ein Kapo bei der Lastwagenkolonne«, sagte er dann.
»Er fährt morgen in die Stadt. Ich könnte probieren, ob er anbeißt. Gut, meinetwegen. Und vielleicht bin ich auch noch rechtzeitig zurück, um dieses hier selbst zu machen.«
Er hielt 509 den Zahn hin.
»Was soll ich damit?«fragte 509 erstaunt.»Du mußt ihn doch mitnehmen -«
Lebenthal schüttelte verachtungsvoll den Kopf.»Da sieht man, was du vom Handel verstehst!
Meinst du, ich kriege etwas dafür, wenn einer von den Brüdern ihn erst in den Pfoten hat? Das wird anders gemacht. Wenn alles gut geht, komme ich zurück und hole ihn. Versteck ihn solange.
Und nun paß auf -«509 lag in einer Bodenvertiefung, ein Stück vom Stacheldraht entfernt, aber näher, als es erlaubt war. Die Palisaden machten hier einen Knick, und die Stelle war von den Maschinengewehrtürmen schwer einzusehen – besonders nachts und bei Nebel.
Die Veteranen hatten das schon seit langem entdeckt; aber erst Lebenthal hatte es vor einigen Wochen fertig gebracht, Kapital daraus zu schlagen.
Das gesamte Gebiet einige hundert Meter außerhalb des Lagers war verbotene Zone, die nur mit besonderer Erlaubnis der SS betreten werden durfte. Ein breiter Streifen davon war von allem Gebüsch gereinigt, und die Maschinengewehre waren darauf eingeschossen.
Lebenthal, der einen sechsten Sinn hatte für alles, was mit Essen zusammenhing, hatte beobachtet, daß seit ein paar Monaten zwei Mädchen Donnerstag abends ein Stück des breiten Weges benützten, der am Kleinen Lager vorbei» führte. Sie gehörten zur»Fledermaus«, einer Kneipe mit Stimmungsbetrieb, die vor der Stadt lag, und kamen als Gäste zum gemütlichen Teil der Kultur abende der SS. Die SS hatte ihnen chevaleresk erlaubt, durch die verbotene Zone zu gehen; sie sparten so einen Umweg von fast zwei Stunden. Zur Vorsicht wurde während der kurzen Zeit, die sie brauchten, an der Seite des Kleinen Lagers der Strom abgestellt. Die Lagerverwaltung wußte davon nichts; die SS-Leute machten das in dem allgemeinen Durcheinander der letzten Monate auf eigene Faust.
Sie riskierten nichts; niemand vom Kleinen Lager war fähig, zu fliehen.