Doch darüber hinaus hatte er das Gefühl, dass er begann sich wirklich auf sie zu verlassen. Wenn es stimmte, dass seine eigenen Fähigkeiten nachließen, so beruhigte es ihn, Riley dabei zu haben.
Doch als Jake darüber nachdachte, seufzte er laut.
Ich kann sie nicht bitten, an diesem Fall mitzuarbeiten, dachte er.
Es war viel zu früh. Die arme Kleine war viel zu traumatisiert von den Ereignissen des gestrigen Tages. Seit der Schießerei auf diesem verschneiten Parkplatz wurde Jake von Rileys entsetztem Gesichtsausdruck heimgesucht, als sie auf Heidi Wrights toten Körper niederstarrte.
Das tote Mädchen hatte noch jünger ausgesehen, als ihre tatsächlichen fünfzehn Jahre –– wie eine traurige, kaputte kleine Puppe. Obwohl Riley nichts dergleichen gesagt hatte, wusste Jake, dass sie nicht anders konnte, als sich wie eine Art Mörderin zu fühlen. Die arme Kleine war immer noch in Schock gewesen, als er sie gestern zuletzt gesehen hatte.
Natürlich hatten Jake und Riley beide gewusst, dass sie früher oder später auf jemand schießen müsste. Doch Jake hätte nie gedacht, dass es unter so schrecklichen Bedingungen passieren würde –– und natürlich, hätte auch Riley es nie gedacht.
Sie braucht eine Auszeit, dachte Jake.
Sie brauchte außerdem professionellen Beistand, den Jake ihr in keiner Weise leisten konnte.
Und doch fragte Jake sich, ob er wirklich das Recht hatte, so eine Entscheidung für sie zu treffen. Sollte sie nicht selbst entscheiden können, ob sie bereit war, wieder an die Arbeit zu gehen?
Eine andere Frage machte ihm außerdem Sorgen.
Kann ich diesen Job wirklich ohne sie machen?
Jake griff nach dem Hörer seines Telefonapparats und wählte ihre Nummer.
*
Riley betrat gerade ihre Wohnung, als ihr Handy klingelte. Frankie hatte sie soeben von Tiffin’s Grub & Pub nach Hause gefahren, wo die beiden Freundinnen sich ein leckeres Mittagessen gegönnt und ein gutes Gespräch gehabt hatten. Riley hoffte, dass der Anruf ihr nicht die Laune verderben würde.
Als Riley die Tür hinter sich schloss, schaute sie auf das Display. Der Anruf kam von Jake Crivaro. Sie nahm sofort ab.
Sie hörte die brummende Stimme ihres Mentors: „Riley –– Crivaro am Apparat.“
Sein vertrauter Gruß brachte Riley zum Lächeln.
Sie antwortete beinahe: Ich weiß.
Stattdessen sagte sie: „Was gibt’s?“
Sie hörte, wie Crivaro unentschlossen grunzte. Dann sagte er: „Ähm, ich wollte nur... als ich dich gestern das letzte Mal gesehen habe, ging es dir nicht gut. Geht es dir besser?“
Riley verspürte einen Funken Neugierde. Sie war sich sicher, dass Crivaro wegen mehr anrief, als sich bloß nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen.
„Ja, es geht mir besser“, sagte sie. „Ich denke aber, es wird noch eine ganze Weile dauern. Gestern war... naja, irgendwie hart, wissen Sie?“
„Ich weiß“, sagte Crivaro. „Es tut mir leid, dass alles so gekommen ist. Hast du bereits einen Therapietermin ausgemacht?“
„Noch nicht“, sagte Riley.
„Zögere das nicht hinaus“
„Das werde ich nicht“, sagte Riley, obwohl sie sich überhaupt nicht sicher war, dass sie es auch wirklich ernst meinte.
Es gab eine peinliche Pause.
Dann sagte Crivaro: „Naja, ich dachte, dass ich dich wissen lasse, dass ich in Kürze nach Tennessee fliege. Es gab dort ein paar Morde, einen in Kentucky und einen in Tennessee, und es sieht danach aus, als könnten sie das Werk eines Serienmörders sein. Lehl hat mir den Auftrag gegeben.“
Rileys Neugierde stieg an. Sie fand es komisch, dass Crivaro diese Begebenheit in genau diesem Moment mit ihr teilen wollte.
„Ich hoffe, es läuft gut“, sagte sie.
„Ja, naja...“
Eine noch längere Pause stelle sich ein.
Dann sagte Crivaro: „Lehl sagt, dass ich mit einem Partner an diesem Fall arbeiten soll. Er hat niemanden außer Anfänger anzubieten und ich dachte ich rufe an und frage... Nee, es ist eine schlechte Idee, vergiss, dass ich was gesagt habe.“
Riley spürte ein aufgeregtes Kribbeln.
„Wollen Sie, dass ich mitkomme?“, fragte sie.
„Nein, ich hätte nicht anrufen sollen, tut mir leid. Ich bin sicher, das ist das letzte, was du gerade tun möchtest. Du musst dich ausruhen, Zeit mit deinem Verlobten verbringen, den Kopf freibekommen. Du musst auch ein paar Therapiesitzungen machen, bevor du wieder an die Arbeit gehst. Du weißt, dass du früher oder später diese psychologische Evaluation machen musst.“
Aber nicht jetzt sofort, dachte Riley. Nicht, wenn ich bereits irgendwo anders an einem anderen Fall arbeite.
Es platze ihr heraus: „Ich mach’s.“
Sie hörte Crivaro seufzen.
“Riley, ich bin mir da nicht sicher.“
Riley sagte: „Tja, ich bin mir sicher. Mit wem könnten Sie sonst noch arbeiten? Sie brauchen jemand harten, jemanden der Sie kennt. Andernfalls würden Sie nur einen armen Anfänger terrorisieren.“
Crivaro kicherte und sagte: „Ja, das ist so ziemlich, was ich Lehl gesagt habe. Jedenfalls kümmert er sich gerade um einen Flug nach Tennessee. Soll ich nach DC fahren und dich abholen?“
„Nein, das müssen Sie nicht“, sagte Riley. „Mit dem Zug geht es schneller. Ich kenne den Fahrplan auswendig, es gibt einen Zug, der bald kommt. Wenn Sie mich am Quantico Bahnhof abholen, können wir direkt zur Landebahn fahren.“
Riley sagte ihm die Ankunftszeit und Crivaro antwortete: „Na gut.“
Er zögerte und stammelte: „Und, ähm...“
Riley spürte, dass er mit sich rang, um die richtigen Worte zu finden.
Schließlich sagte er einfach: „Danke.“
Riley wollte schon beinahe sagen: „Nein, danke Ihnen.“
Stattdessen sagte sie: „Ich bin bald da.“
Sie beendete den Anruf und starrte auf ihr Handy als sie sich auf die Couch setzte. Sie war überrascht, dass sie soeben diese Entscheidung getroffen hatte. Sie hatte wirklich kein bisschen überlegt.
Habe ich gerade einen Fehler gemacht? fragte sie sich.
Es fühlte sich nicht nach einem Fehler an. Eigentlich fühlte sie tiefe Erleichterung. Ihr Drang zurück an die Arbeit zu kehren verwunderte sie.
Doch was sie an dem Telefonat am meisten verwundert hatte, war Crivaros Ton gewesen. Er hatte beinahe wie ein Schuljunge geklungen, der ein Mädchen um ein Rendezvous bat.
Er will wirklich mit mir zusammenarbeiten, dachte sie.
Er will mit niemand anderem zusammenarbeiten.
Es gab ihr ein wohliges Gefühl, gewollt zu werden –– und vielleicht sogar gebraucht.
Doch als sie sich von der Couch erhob, um ins Schlafzimmer zu gehen und ihre Reisetasche zu holen, fiel ihr etwas ein.
Ryan.
Sie musste ihn anrufen, und ihn informieren. Und sie bezweifelte, dass er es gelassen nehmen würde. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch gestern Abend und wie er ihr Druck gemacht hatte die Verhaltensanalyseeinheit zu verlassen, und daran, was sie darauf geantwortet hatte.
„Ryan, müssen wir das wirklich jetzt besprechen?“
Natürlich hatten sie es bisher nicht geschafft, darüber zu reden. Sie hatten einfach keine Zeit dafür gehabt. Doch nun übernahm Riley trotzdem einen neuen Fall.
Sie nahm den Hörer des Festnetztelefons in die Hand und wählte nervös Ryans Nummer. Er klang fröhlich, als er sich am anderen Ende meldete.
„Hallo Süße, ich freue mich, dass du angerufen hast. Ich habe heute Abend einen Tisch in diesem Restaurant reserviert, das wir beide so mögen, Hugo’s Embers. Klingt das nicht großartig? Du weißt wie schwer es ist, dort einen Tisch zu bekommen.“
Riley schluckte nervös.
Sie sagte: „Ja, das ist toll, Ryan, aber... das müssen wir auf einen anderen Abend verschieben.“
„Huch?“
Riley unterdrückte ein Seufzen.
„Agent Crivaro hat gerade angerufen“, sagte sie. „Er will, dass ich mit ihm an einem Fall in Tennessee arbeite. Ich mache mich jetzt auf, um noch einen Zug nach Quantico zu erwischen.“
Ein angespanntes Schweigen hing in der Leitung.
„Riley, ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt“, sagte Ryan. „Bist du bereit wieder zur Arbeit zu gehen? Du warst gestern ziemlich fertig. Und außerdem...“
Es folgte erneutes Schweigen.
Dann sagte Ryan: „Riley, wir brauchen das. Einen romantischen Abend zu zweit, meine ich. Es ist schon lange her, dass wir... du weißt schon.“
Es dauerte einen Moment, bis Riley verstand, was er meinte.
Dann begriff sie: Oh mein Gott. Er spricht von Sex.
Wir lange war es her, dass sie Liebe gemacht hatten? Sie wusste es nicht und begriff, dass sie in letzter Zeit überhaupt nicht daran gedacht hatte. Zwischen den zwei Fällen, an denen sie diesen Monat bereits gearbeitet hatte, war sie erschöpft gewesen. Und dazu kam noch, dass sie sich auf den bevorstehenden Mullins Prozess vorbereitete.
Sie sagte: „Ich mache das wieder gut, versprochen.“
„Riley, darum geht es nicht. Du hast das beschlossen, ohne mit mir zu sprechen.“
Riley verspürte einen Stich von Wut.
Werde ich Ryan jedes Mal zu Rate ziehen müssen, wenn ich einen neuen Fall annehme?
Aber das letzte was sie wollte, war mit ihm in diesem Moment darüber zu streiten. Sie hatte einfach keine Zeit dafür.
Sie sagte: „Es tut mir leid. Wirklich. Wir reden darüber, wenn ich nach Hause komme.“
„Ich möchte nicht, dass du fliegst“, sagte Ryan mit flehender Stimme.
„Ich muss hinfliegen“, sagte Riley. „Es ist mein Job.“
„Aber –– “
„Tschüss, Ryan. Ich muss den Zug erwischen. Ich liebe dich.“
Sie legte auf und sackte mit einem verzweifelten Seufzen zusammen.
Soll ich Crivaro zurückrufen? fragte sie sich.
Soll ich ihm sagen, ich kann den Fall doch nicht übernehmen?
Crivaro würde es sicherlich verstehen. Er hatte ihr das ja bereits so gesagt.
Doch dann spürte Riley eine Welle des Grolls in sich aufkommen. Ryan hatte kein Recht sie so unter Druck zu setzen, besonders nicht nach dem, was gestern passiert war. Sie hatte einen Job zu erledigen und sie konnte Ryan nicht für den Rest ihres Lebens um Erlaubnis bitten, ihn zu machen.
Sie eilte ins Schlafzimmer, holte ihre Reisetasche und verließ die Wohnung, um den Zug zu bekommen.
KAPITEL FÜNF
Das Leben begann sich für Riley wie ein einziger langer Flug mit Jake Crivaro anzufühlen. Gerade erst gestern Abend waren sie aus New York zurückgeflogen. Nun waren sie erneut im FBI Jet, auf dem Weg ins westliche Tennessee.
Es ist fast so, als wäre ich gar nicht zuhause gewesen, dachte sie.
Auf eine gewisse Art und Weise wünschte sie, dass es so gewesen wäre. Es wäre schön, glauben zu können, dass ihr Streit mit Ryan am Telefon heute morgen ein bloßer Traum gewesen war, dass alles gut war zwischen ihnen.
Leider wusste sie, dass all das wirklich geschehen war.
Und natürlich ging das auch die schrecklichen Ereignisse des gestrigen Tages an.
Mein ganzes Leben fühlt sich gerade wie ein böser Traum an, dachte sie. Wie ein Albtraum von endlosen Flügen, Gefahren und plötzlichem Tod.
Sie schüttelte ihre düsteren Gedanken ab und schaute zu Crivaro. Er saß neben ihr und schaute einige handschriftliche Notizen durch, die er zum bevorstehenden Fall gemacht hatte.
Er erklärte: „Vor ungefähr einer Woche wurde eine Leiche im Wald gefunden, in der Nähe von Brattledale in Raffel County, Kentucky. Das Opfer war ein junges Mädchen, Natalie Booker.“
„Wie wurde sie ermordet?“, fragte Riley.
„Erdrosselt“, sagte Crivaro. „Wenn es ein bloßer Einzelfall in nur einem Staat gewesen wäre, würde es uns nichts angehen. Aber gestern kam eine weitere Leiche dazu, ein weiteres junges Mädchen namens Kimberly Dent, auch erdrosselt, wahrscheinlich vom selben Mörder. Ihre Leiche befand sich am Waldrand in der Nähe von Dalhart, Tennessee –– hinter der Staatengrenze.“
„Was es zu einem FBI Fall macht“, sagte Riley. „Wenn wir ihn übernehmen wollten.“
„Genau“, sagte Crivaro. “Außerdem hat Raffel County Sheriff, Ed Quayle, ausdrücklich um die Hilfe der Verhaltensanalyseeinheit gebeten, also sind wir auf jeden Fall dabei.“
Crivaro schloss sein Notizbuch.
„Das ist so ziemlich alles, was ich bisher weiß“, sagte er. „Sheriff Quayle wird uns am Flughafen empfangen, ich bin mir sicher, er wird mehr haben.“
Riley nickte zustimmend und sie schwiegen eine Weile lang. Während sie dasaß und aus dem Fenster starrte, begannen Rileys Gedanken sich erneut um die schreckliche Schießerei von gestern zu drehen.
Riley hörte wie Crivaro leise sagte: „Du siehst müde aus.“
Sie drehte sich zu ihm und sah, dass er sie besorgt anschaute.
„Ich nehme an, das bin ich auch irgendwie“, sagte Riley. „Ich habe gestern Nacht nicht viel geschlafen.“
„Bist du sicher, dass du es schaffst, an diesem Fall zu arbeiten?“
„Ich bin mir sicher“, sagte Riley.
Doch sie merkte, dass sie sich gar nicht so sicher war. Und sie konnte an Crivaros besorgtem Blick ablesen, dass er ihre Zweifel spürte.
Er sagte mit sanfter Stimme: „Es ist hart, was dir gestern wiederfahren ist.“
Riley zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich nehme an, Sie wissen wie sich das anfühlt.“
„Nicht wirklich, nein.“
Riley war überrascht, das zu hören.
Hat er nie jemanden getötet? fragte sie sich.
Crivaro hatte während der Fälle, an denen Riley mit ihm bisher gearbeitet hatte, nie schießen müssen. Es wäre einmal beinahe so weit gekommen, als ein Verrückter kurz davor gewesen war Riley eine tödliche Dosis Amphetamine zu spritzen. Doch Crivaros damaliger Partner Mark McCune hatte damals den Schuss abgegeben, der den Mörder niedergestreckt hatte.
Nichtsdestotrotz war Riley sich sicher, dass Crivaro auf irgendjemanden geschossen haben musste während seiner mehr als zwanzigjährigen Karriere als FBI Agent –– wahrscheinlich viele Male.
Aber es muss ein erstes Mal gegeben haben, dachte sie.
Vielleicht würde es ihr helfen, wenn er ihr davon erzählte.
Vorsichtig fragte sie: „Agent Crivaro... könnten Sie mir vom ersten Mal erzählen, als Sie auf jemanden schießen mussten?“
Crivaro zuckte mit den Schultern. Er schien nicht besonders beunruhigt von der Frage.
„Naja, das ist eine uralte Geschichte“, sagte er. „Hast du jemals von dem Magrette Bank Überfall von 1980 gehört?“
Riley machte große Augen.
„Natürlich habe ich davon gehört“, sagte sie. „Wir haben das an der Academy durchgenommen. Ich habe sogar mit anderen Kadetten Teile davon nachgestellt. Der Fall wird immer als Anti-Terrorismus- und Überlebenstraining genutzt. Hatten Sie etwas damit zu tun?“
Crivaro lächelte ein komisches Lächeln.
„Ja, zum Ende hin jedenfalls. Willst du davon hören?“
Riley nickte stumm.
Crivaro sagte: „Naja, erzähl mir, was zu bereits darüber weißt. Ich will dich nicht mit Details langweilen, die du bereits eine Millionen Mal gehört hast.“
Riley schnaubte beinahe auf. An der Geschichte des Magrette Überfalls gab es rein gar nichts Langweiliges.
Nichtsdestotrotz sagte sie: „Naja, ich weiß, dass das ganze Ding verrückt war –– und extrem gewalttätig. Eine Gang aus sechs Bankräubern hat eine Bank in Magrette, Pennsylvania gestürmt, bewaffnet bis an die Zähne und in Kampfanzüge des Militärs gekleidet. Sie zwangen die Bankschalterbeamten $20,000 in Bar rauszugeben.“
„Das war damals viel Geld“, sagte Jake.
„Aber die örtliche Polizei hat Wind davon bekommen, während der Überfall noch im Gange war,“ sagte Riley. „Als sie am Tatort anrückten, brach eine Schießerei direkt dort vor der Bank aus.“
Jake schüttelte den Kopf.
„Diese armen Cops“, sagte er. „Sie hatten keine Ahnung, wie unterbewaffnet sie waren.“