Phineus antwortete ihm nichts, er betrachtete nur abwechselnd mit grimmigen Blicken bald seinen Bruder, bald seinen Nebenbuhler, als besänne er sich, auf wen er zuerst zielen sollte. Endlich nach kurzem Verzuge schwang er mit aller Kraft, die der Zorn ihm gab, den Speer gegen Perseus; aber er tat einen Fehlwurf, und die Waffe blieb im Polster hängen. Jetzt fuhr Perseus vom Lager empor und schleuderte seinen Spieß nach der Türe, durch welche Phineus eingedrungen war, und er würde die Brust seines Todfeindes durchbohrt haben, wenn dieser sich nicht mit einem Sprunge hinter den Hausaltar geflüchtet hätte. Das Geschoß hatte die Stirne eines seiner Begleiter getroffen, und jetzt kam das Gefolge des Eingedrungenen mit den längst von der Tafel aufgestörten Gästen ins Handgemenge. Lang und mörderisch war der Kampf; aber der Eingebrochenen war die Mehrzahl. Zuletzt wurde Perseus, an dessen Seite sich umsonst die Schwiegereltern und die Braut schutzflehend stellten, von Phineus und seinen Tausenden umringt. Die Pfeile flogen an ihnen von allen Seiten vorbei wie Hagelkörner im Sturme. Perseus hatte die Schultern an einen Pfeiler gelehnt und sich so den Rücken gedeckt. Von da zur Heerschar der Feinde gewendet, hielt er den Anlauf der Feinde ab und streckte einen um den andern nieder. Erst als er sah, daß die Tapferkeit der Menge erliegen müsse, entschloß er sich, das letzte, aber untrügliche Mittel, das ihm zu Gebote stand, zu gebrauchen. »Weil ihr mich genötigt«, sprach er, »will ich mir die Hilfe bei meinem alten Feinde holen! Wende sein Antlitz ab, wer noch mein Freund ist!« Mit diesen Worten zog er aus der Tasche, die ihm immer an der Seite hing, das Gorgonenhaupt und streckte es dem ersten Gegner zu, der jetzt eben auf ihn eindrang. »Suche andere«, rief dieser verächtlich beim ersten flüchtigen Blicke, »die du mit deinen Mirakeln erschüttern kannst«. Aber als seine Hand sich heben wollte, den Wurfspieß abzusenden, blieb er mitten in dieser Gebärde versteinert wie eine Bildsäule. Und so widerfuhr es einem nach dem andern. Zuletzt waren nur noch zweihundert übrig. Da hub Perseus das Gorgonenhaupt hoch in die Luft empor, daß alle es erblicken konnten, und verwandelte die zweihundert auf einmal in starres Gestein. Jetzt erst bereut Phineus den unrechtmäßigen Krieg. Rechts und links erblickt er nichts als Steinbilder in der mannigfaltigsten Stellung. Er ruft seine Freunde mit Namen, er berührt ungläubig die Körper der Zunächststehenden: alles ist Marmor. Entsetzen faßte ihn, und sein Trotz verwandelte sich in demütiges Flehen. »Laß mir nur das Leben, dein sei das Reich und die Braut!« rief er und kehrte sein verzagendes Angesicht seitwärts. Aber Perseus, über den Tod seiner neuen Freunde erbittert, kannte kein Erbarmen. »Verräter«, schrie er zornig, »ich will dir für alle Ewigkeit ein bleibendes Denkmal in meines Schwähers Hause stiften!« Und sosehr Phineus bemüht war, dem Anblicke zu entgehen, so traf doch bald das ausgestreckte Schreckensbild sein Auge: sein Hals erstarrte, sein feuchter Blick erharschte zu Stein. So blieb er stehen mit furchtsamer Miene, die Hände gesenkt, in knechtischer, demütiger Stellung. Ohne Hindernis führte jetzt Perseus seine Geliebte, Andromeda, heim. Lange glückliche Tage erwarteten ihn, und er fand auch seine Mutter Danae wieder. Doch sollte er an seinem Großvater Akrisios das Verhängnis erfüllen. Dieser war aus Furcht vor dem Orakelspruche zu einem fremden Könige ins Pelasgerland geflohen. Hier half er Kampfspiele feiern, als eben Perseus ankam, der auf der Fahrt nach Argos begriffen war, wo er seinen Großvater begrüßen wollte. Ein unglücklicher Wurf mit der Scheibe traf den Großvater von des Enkels Hand, ohne daß dieser jenen kannte oder treffen wollte. Nicht lange blieb ihm verborgen, was er getan. In tiefer Trauer begrub er den Akrisios außerhalb der Stadt und vertauschte das Königreich, das ihm durch des Großvaters Tod zugefallen war. Doch verfolgte ihn der Neid des Geschickes nicht länger. Andromeda gebar ihm viele herrliche Söhne, und der Ruhm des Vaters lebte in ihnen fort.
Ion
Der König Erechtheus von Athen erfreute sich einer schönen Tochter, die Krëusa hieß. Mit dieser hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollo vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloß und in der Höhle aussetzte, wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß sich die Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugeborenen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblieben war und der weder seine Geliebte verraten noch den Knaben ohne Hilfe lassen wollte, wandte sich an seinen Bruder Hermes, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde zu verkehren hatte. »Lieber Bruder«, sprach er, »eine Sterbliche hat mir ein Kind geboren, es ist die Tochter des Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen verborgen; hilf mir es retten, bring es in der Kiste, in der es liegt, und mit den Windeln, in die es gewickelt ist, nach meinem Orakel zu Delphi und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das übrige laß meine Sorge sein, denn es ist mein Kind«. Hermes, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in welchem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor den Pforten des Tempels niedersetzte und den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dies geschah bei Nacht. Am andern Morgen, als schon die Sonne emporstieg, kam die delphische Priesterin nach dem Tempel geschritten, und als sie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiste schlummerte. Sie hielt dasselbe für die Frucht irgendeines Verbrechens und war schon geneigt, es von der heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid doch in ihrer Seele die Oberhand gewann; denn der Gott wandte ihr Herz und sprach in demselben für seinen Sohn. Die Prophetin nahm also das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen. Der Knabe erwuchs, um den Altar seines Vaters spielend, und wußte nichts von seinen Eltern. Er wurde ein stattlicher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, setzten ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke, die der Gott erhielt, und so brachte er fortwährend ein ehrbares und heiliges Leben im Tempel seines Vaters zu.
Inzwischen hatte Krëusa von dem Gotte nichts mehr erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und ihres Sohnes vergessen habe. Um diese Zeit gerieten die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nachbarinsel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde und in welchem die letzteren unterlagen. In diesem Kampfe war den Athenern besonders wirksam ein Fremdling aus Achaja beigestanden. Es war dies Xuthos, ein Sohn des Äolos, der selbst ein Sohn des Zeus war. Zum Lohne seiner Hilfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Krëusa; aber es war, als ob der ihr heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfinden ließe, daß sie sich einem andern vermählt hatte; denn ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet. Nach langer Zeit verfiel Krëusa auf den Gedanken, sich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu erflehen. Dies war es, was Apollo gewollt; denn er hatte seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Fürstin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf und wallfahrtete zu dem Tempel nach Delphi. Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat gerade der junge Sohn Apollos über die Schwelle, um gewohnterweise das Tor und den Vorhof mit Lorbeerzweigen zu fegen. Da fiel sein Auge auf die edle Matrone, welche auf die Tore des Tempels zugewandelt kam und der beim Anblicke des Heiligtums Tränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache ihres Kummers zu befragen. »Es wundert mich nicht, o Jüngling«, erwiderte sie seufzend, »daß meine Traurigkeit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch Geschicke zu beweinen, die man mir wohl ansehen mag. Die Götter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!« »Ich will deinen Kummer nicht weiter stören«, sprach der Jüngling, »aber sage mir, wenn es zu wissen erlaubt ist, wer du bist und von wannen du kommst«. »Ich bin Krëusa«, antwortete die Fürstin, »mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland ist Athen«. Mit unschuldiger Freude rief der Jüngling: »Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmtem Geschlechte stammst du! Aber sage mir, ist es wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, daß deines Vaters Großvater Erichthonios aus der Erde wie ein anderes Gewächs emporgesprossen ist, daß die Göttin Athene den erdgeborenen Knaben in eine Kiste eingeschlossen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und das Kistchen den Töchtern des Kekrops zur Bewahrung überlassen habe; daß diese aus Neugierde dasselbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn geraten und sich von dem Felsen der Kekropischen Burg herabgestürzt?« Krëusa bejahte die Frage schweigend, denn das Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ihres verlorenen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr stand, fuhr fort, unbefangen weiter zu fragen: »Sage mir auch, hohe Fürstin, ist es wahr, daß dein Vater Erechtheus seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, daß du allein gerettet worden bist?« »Ich war«, sprach Krëusa, »ein neugeborenes Kind und lag in den Armen der Mutter«. »Und ist es auch wahr«, so fragte der Jüngling weiter, »daß dein Vater Erechtheus von einem Erdspalt verschlungen worden ist, daß der Dreizack Poseidons ihn verderbt hat und daß in der Nähe seines Erdgrabes eine Grotte ist, die mein Herr, der pythische Apollo, so lieb hat?« »O schweige mir von jener Grotte, Fremdling«, unterbrach ihn seufzend Krëusa, »in ihr ist eine Treulosigkeit und ein großer Frevel begangen worden«. Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wieder und erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tempelhüter des Gottes erkannte, daß sie die Gemahlin des Fürsten Xuthos und mit diesem nach Delphi gewallfahrtet sei, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen Gottes zu erflehen. »Phöbos Apollo«, sprach sie mit einem Seufzer, »kennt die Ursache meiner Kinderlosigkeit; er allein kann mir helfen«. »So bist du kinderlos, Unglückliche?« sagte betrübt der Jüngling. »Ich bin es längst«, erwiderte Krëusa, »und ich muß deine Mutter beneiden, guter Jüngling, die sich eines so holdseligen Sohnes erfreut«. »Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem Vater«, gab der junge Mann betrübt zur Antwort, »ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch nicht, wie ich hierhergekommen bin; nur so viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Priesterin dieses Tempels, daß sie sich meiner erbarmt und mich großgezogen hat; das Haus des Gottes ist seitdem meine Wohnung, und ich bin sein Knecht«. Bei diesen Mitteilungen wurde die Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die traurigen Worte: »Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen ist wie deiner Mutter; um ihretwillen bin ich hierhergekommen und soll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheimnis anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wallfahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt ist, um das Orakel des Trophonios zu hören, den Tempel betritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gotte Phöbos Apollo vermählt gewesen zu sein und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn geboren zu haben. Diesen setzte sie aus und weiß seitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut oder nicht. Über sein Leben oder seinen Tod den Gott auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hierhergekommen«. »Wie lang ist es her, daß der Knabe tot ist?« fragte der Jüngling. »Wenn er noch lebte, so hätte er dein Alter, o Knabe«, sprach Krëusa. »O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und das meine!«rief mit dem Ausdrucke des Schmerzes der junge Mann; »sie sucht ihren Sohn, und ich suche meine Mutter. Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem Lande geschehen, und leider sind wir beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von seinem Dreifuße dir die gewünschte Antwort erteilen wird. Bist du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treulosigkeit anzuklagen; er wird nicht über sich selbst Richter sein wollen!« »Halt ein, Jüngling«, rief jetzt Krëusa, »dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen; laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe«.
Xuthos kam fröhlich in den Tempel und auf seine Gemahlin zugeschritten. »Frau«, rief er ihr entgegen, »Trophonios hat einen glücklichen Ausspruch getan: ich soll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber sage mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?« Der Jüngling trat dem Fürsten bescheiden entgegen und erzählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollos sei und im innersten Heiligtume die vornehmsten Delphier selbst, durchs Los ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem jetzt eben die Priesterin Orakel zu geben bereit sei. Als der Fürst dieses hörte, befahl er Krëusen, sich mit den Zweigen zu schmücken, welche Bittflehende zu tragen pflegen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel stand, zu Apollo zu beten, daß er ihnen ein günstiges Orakel senden möge. Er selbst eilte nach dem Heiligtume des Tempels, indes der junge Schatzmeister des Gottes im Vorhofe seine Wache fortsetzte. Es hatte nicht sehr lange gedauert, so hörte dieser die Türen des innersten Heiligtums gehen und sich dröhnend wieder schließen, dann sah er den Xuthos in freudiger Bestürzung herauseilen; dieser warf sich mit Ungestüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu wiederholten Malen seinen Sohn und verlangte seinen Handschlag und Kindeskuß. Der junge Mann aber, der von alledem nichts begriff, hielt den Alten für wahnsinnig und stieß ihn mit jugendlicher Kraft von sich. Doch Xuthos ließ sich nicht abweisen. »Der Gott selbst hat es mir geoffenbart«, sprach er; »sein Spruch lautete: Der erste, der mir draußen begegnen würde, der sei mein Sohn und ein Göttergeschenk. Wie das möglich ist, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau ich dem Gotte; mag er selbst sein Geheimnis enthüllen«. Jetzt gab sich auch der Jüngling der Freude hin; doch halb nur, und mitten unter den Küssen und Umarmungen seines Vaters mußte er seufzen: »O geliebte Mutter, wer bist du, wo bist du? wann wird es mir vergönnt sein, auch dein teures Antlitz zu schauen?« Dazu kamen ihm große Zweifel, wie die kinderlose Gemahlin des Xuthos, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten Stiefsohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht gesetzlichen Erben ihres Fürsten empfangen würde. Sein Vater hieß ihn aber guten Mutes sein; er versprach ihm, ihn den Athenern und seiner Gattin als einen Fremdling und nicht als seinen Sohn vorzustellen, und gab ihm den Namen Ion, das heißt Gänger, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als seinen Sohn erkannt hatte.
Krëusa war indessen von dem Altare Apollos, vor dem sie sich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem brünstigen Flehen von ihren Dienerinnen unterbrochen, welche sich ihr unter Wehklagen nahten. »Unglückliche Herrin«, riefen sie ihr entgegen, »dein Gatte zwar ist in große Freude versetzt, du aber wirst nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Brust legen. Ihm freilich hat Apollo einen Sohn gegeben, einen erwachsenen Sohn, den ihm vor Zeiten wer weiß welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieser entgegen. Er wird sich seines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirst wie zuvor einer Witwe gleich im öden Hause wohnen«. Die arme Fürstin, deren Geist der Gott selbst mit Blindheit geschlagen zu haben schien, daß sich ein so naheliegendes Geheimnis ihr nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schicksal eine Weile fort. Endlich fragte sie nach der Person und dem Namen des Stiefsohnes, den sie so unvermutet erhalten hatte. »Es ist der junge Tempelhüter, den du schon kennst«, erwiderten die Dienerinnen; »sein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben; wer seine Mutter ist, wissen wir nicht; jetzt ist dein Gatte zu dem Altare des Bakchos gegangen, um heimlich für seinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erkennungsschmaus zu feiern. Uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geschichte zu entdecken; nur unsre große Liebe zu dir hat uns vermocht dieses Verbot zu übertreten. Du wirst uns ja nicht bei ihm verraten!« Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blinder Treue anhing und seiner Gebieterin mit großer Liebe zugetan war. Dieser schalt den Fürsten Xuthos einen treulosen Ehebrecher und ließ sich von seinem Eifer so weit verleiten, daß er ihr das Anerbieten machte, den Bastard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßigerweise an sich bringen würde, aus dem Wege zu räumen. Krëusa glaubte sich von ihrem Gatten und von ihrem früheren Geliebten, dem Gott Apollo, verlassen, und betäubt von ihrem Kummer, lieh sie den frevelhaften Anschlägen des Greisen allmählich ihr Ohr und machte ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnisses zu dem Gott.
Als Xuthos mit Ion, in welchem er unbegreiflicherweise einen Sohn gefunden zu haben meinte, den Tempel des Gottes verlassen hatte, begab er sich mit ihm nach dem doppelten Gipfel des Berges Parnassos, wo der Gott Bakchos, nicht weniger heilig als Apollo selbst, von den Delphiern verehrt und mit seinem wilden Orgiendienste von den Frauen gefeiert wurde. Nachdem er hier ein Trankopfer ausgegossen, zum Danke für den gefundenen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hilfe der Diener, die ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumiges Zelt, das er mit schön gewirkten Teppichen bedeckte, die er aus Apollos Tempel hatte herbeischaffen lassen. In dem Zelte wurden lange Tafeln aufgestellt und mit silbernen Schüsseln voll köstlicher Speisen und goldenen Bechern voll des edelsten Weines belastet; dann sandte der Athener Xuthos seinen Herold in die Stadt Delphi und lud sämtliche Einwohner ein, an seiner Freude teilzunehmen. Bald füllte sich das große Zelt mit bekränzten Gästen, und sie tafelten in Herrlichkeit und Freude. Beim Nachtische trat ein alter Mann, dessen sonderbare Gebärden den Gästen zur Belustigung dienten, mitten in den Saal des Zeltes und maßte sich das Amt des Mundschenken an. Xuthos erkannte in ihm jenen greisen Diener seiner Gemahlin Krëusa, lobte den Gästen seinen Eifer und seine Treue und ließ ihn arglos schalten. Der Alte stellte sich an den Schenktisch und fing an, sich der Becher anzunehmen und die Gäste zu bedienen. Als nun gegen Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Tafel wegzunehmen und den Gästen große silberne und goldene Trinkgefäße vorzusetzen. Er selbst ergriff das herrlichste Gefäß und trat, als wollte er damit seinen neuen jungen Herrn ehren, an den Schenktisch, füllte es zuoberst mit köstlichem Weine, schüttete aber zugleich unvermerkt ein tödliches Gift in den Becher. Indem er sich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zufälligerweise einem der nahestehenden Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachsen war, erkannte darin eine böse Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden schüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er selbst feierlich das Trankopfer ausgoß, während alle Gäste aus ihren Bechern dasselbe taten. Während dies geschah, flatterte eine Schar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Gottes aufgefüttert wurden, lustig in das Zelt herein. Als sie die Ströme Weines sahen, die von allen Seiten ausgegossen wurden, ließen sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an, von dem herumschwimmenden Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen. Und allen übrigen schadete das Trankopfer nicht; nur die eine Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen ersten Becher ausgegossen, schüttelte, sowie sie den Trank gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäste, zu ächzen und zu toben an und starb unter Flügelschlag und Zuckungen. Da erhub sich Ion von seinem Sitze, streifte sein Gewand zürnend von den Armen, ballte die Fäuste und rief. »Wo ist der Mensch, der mich töten wollte? Rede, Alter! denn du hast deine Hand dazu geliehen, du hast mir den Trank gemischt!« Damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder loszulassen. Dieser, überrascht und erschrocken, gestand die ganze Freveltat als von Krëusen herrührend. Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthos Sohn erklärte Ion das Zelt, und alle Gäste folgten ihm in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien stand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmsten Delphiern, und sprach: »Heilige Erde, du bist mein Zeuge, daß dieses fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus dem Wege räumen will!« »Steiniget, steiniget sie!« erscholl es von der Versammlung der Delphier wie aus einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu suchen. Xuthos selbst, dem die schreckliche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde von dem Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was er tat.