Karl May
WINNETOU 3
An der großen Westbahn
Ich hatte seit dem frühen Morgen eine tüchtige Strecke zurückgelegt. Jetzt fühlte ich mich einigermaßen ermüdet und von den kräftigen Strahlen der hoch im Zenit stehenden Sonne belästigt; daher beschloß ich, Rast zu halten und mein Mittagsmahl zu mir zu nehmen. Die Prairie dehnte sich, eine Bodenwelle nach der andern bildend, in unendlicher Weite vor mir aus. Seit fünf Tagen, wo unsere Gesellschaft durch einen zahlreichen Trupp Ogellallahs zersprengt worden war, hatte ich weder ein nennenswertes Tier noch die Spur eines Menschen bemerkt und begann nun endlich mich nach irgend einem vernünftigen Wesen zu sehnen, an welchem ich erproben konnte, ob mir nicht vielleicht infolge des lange anhaltenden Schweigens die Sprache verloren gegangen sei.
Einen Bach oder ein sonstiges Wasser gab es hier nicht, Wald oder Buschwerk ebensowenig; ich brauchte also nicht lange zu wählen und konnte Halt machen, wo es mir eben beliebte. Ich sprang in einem Wellentale zur Erde, hobbelte meinen Mustang an, nahm ihm die Decke ab und stieg die kleine Bodenerhebung empor, um mich dort niederzulassen. Das Pferd mußte unten bleiben, damit es im Falle einer feindlichen Annäherung nicht bemerkt würde; ich selbst aber mußte den erhöhten Punkt wählen, um die Gegend überblicken zu können, während es nicht leicht möglich war, mich zu sehen, wenn ich mich auf den Boden legte.
Ich hatte gute Gründe, vorsichtig zu sein. Wir waren in einer Gesellschaft von zwölf Männern vom Ufer des Platte aufgebrochen, um im Osten der Felsenberge hinabzugehen nach Texas. Zu derselben Zeit hatten die verschiedenen Stämme der Sioux ihre Lagerdörfer verlassen, weil einige ihrer Krieger getötet worden waren und sie nun Rache nehmen wollten. Wir wußten dies, fielen aber trotz aller List in ihre Hände und wurden nach einem harten, blutigen Kampfe, in welchem fünf von uns das Leben ließen, nach allen Richtungen über die Prairie zerstreut.
Da die Indsmen aus unserer Fährte, die wir nicht ganz zu verwischen vermochten, wohl ersehen hatten, daß wir nach Süden gingen, so war mit Sicherheit anzunehmen, daß sie uns folgen würden. Es galt also, die Augen offen zu halten, wenn man nicht das Glück haben wollte, sich eines Abends in die Decke zu wickeln und am Morgen dann ohne Skalp in den »ewigen Jagdgründen« zu erwachen.
Ich legte mich nieder, langte ein Stück getrocknetes Büffelfleisch hervor, rieb es anstatt des Salzes mit Schießpulver ein und versuchte, es mit den Zähnen in einen Zustand zu bringen, welcher es mir ermöglichte, die lederharte Substanz in den Magen zu befördern. Dann nahm ich eine von meinen »Selbstgefertigten«, steckte sie mit Hilfe des Punks in Brand und blies Rauchfiguren mit einem Behagen, als sei ich ein virginischer Pflanzer und rauche die mit Glanzhandschuhen ausgezupften Herzblätter des besten Goosefoot.
Noch nicht lange hatte ich so auf meiner Decke gelegen, als ich, zufälligerweise hinter mich blickend, einen Punkt am Horizonte bemerkte, welcher sich in einem spitzen Winkel mit der von mir verfolgten Richtung grad auf mich zu bewegte, Ich schlüpfte von der Erhöhung so weit nieder, daß mein Leib durch dieselbe vollständig gedeckt wurde, und beobachtete die Erscheinung, in welcher ich nach und nach einen Reiter erkannte, welcher nach Indianerart weit vornüber auf dem Pferde hing.
Als ich ihn zuerst bemerkte, war er wohl anderthalb englische Meilen von mir entfernt. Sein Pferd ging in einem so langsamen Schlenderschritt, daß es beinahe eine halbe Stunde brauchte, um eine Meile zurückzulegen, Wieder hinaus in die Ferne blickend, aus welcher er kam, bemerkte ich zu meiner Überraschung noch vier Punkte, welche sich ganz genau auf seiner Fährte fortbewegten. Das mußte meine Aufmerksamkeit in hohem Grade erregen. Der erste Reiter war ein Weißer, wie ich jetzt an der Kleidung untrüglich erkannte. Waren die anderen vielleicht Indianer, welche ihn verfolgten? Ich zog mein Fernrohr hervor. Ich hatte mich nicht geirrt. Sie kamen näher, und ich konnte durch die Gläser sehr deutlich an ihrer Bewaffnung und Tätowierung erkennen, daß sie zu den Ogellallahs, dem kriegerischsten und grausamsten Stamme der Sioux, gehörten. Sie waren außerordentlich gut beritten, während das Pferd des Weißen ein sehr gewöhnliches Tier zu sein schien. Er war mir jetzt so nahe gekommen, daß ich ihn bis in das einzelnste betrachten konnte.
Er war von kleiner, sehr hagerer Statur und trug auf dem Kopfe einen alten Filzhut, dem die Krämpe vollständig fehlte, ein Umstand, der in der Prairie nicht auffallen konnte, hier aber einen Mangel hervorhob, der mir höchst auffällig erscheinen mußte: der Mann hatte nämlich keine Ohren. Die Stelle, an welcher sie sich befinden sollten, zeigte die Spuren einer gewalttätigen Behandlung, sie waren ihm jedenfalls abgeschnitten worden. Um die Schulter hing ihm eine ungeheure Decke, welche den Oberleib vollständig verhüllte und kaum die hageren Beine erkennen ließ, die in einem Paar so eigentümlicher Stiefel steckten, daß man drüben in Europa über dieselben gelacht hätte. Sie bestanden nämlich in derjenigen Sorte von Fußbekleidung, wie sie die Gauchos in Südamerika zu fertigen und zu tragen pflegen. Man zieht von einem enthuften Pferdefuße die Haut ab, steckt, wenn sie noch warm ist, das Bein hinein und läßt sie an demselben erkalten: die Haut legt sich eng und fest an Fuß und Unterbein und bildet so eine vortreffliche Fußbekleidung, welche allerdings die Eigentümlichkeit hat, daß man mit derselben auf seinen eigenen Sohlen geht. Am Sattel hatte er ein Ding hängen, welches jedenfalls eine Büchse sein sollte, eher aber einem Knittel ähnlich sah, wie man ihn zufällig im Walde findet. Sein Pferd war eine alte hoch- oder vielmehr kamelbeinige Stute, welcher der Schwanz vollständig fehlte; ihr Kopf war unverhältnismäßig groß, und die Ohren besaßen eine Länge, über welche man hätte erschrecken können. Das Tier sah aus, als sei es aus verschiedenen Körperteilen vom Pferd, Esel und Dromedar zusammengesetzt, hing beim Laufen den Kopf tief zur Erde und ließ dabei die Ohren wie ein Neufundländer Wasserhund hart am Kopfe herabfallen, wie wenn sie ihm zu schwer wären.
Unter anderen Verhältnissen oder als Neuling hätte man über Reiter und Pferd wohl lachen müssen, mir aber kam der Mann trotz der Sonderbarkeit seines Äußern doch vor wie einer jener Westmänner, welche man erst kennen lernen muß, um ihren Wert zu beurteilen. Er hatte wohl keine Ahnung, daß vier von den fürchterlichsten Feinden des Prairiejägers ihm so nahe seien, sonst hätte er nicht so langsam und sorglos seinen Weg verfolgt und sich doch zuweilen nach ihnen umgeschaut.
Er war jetzt bis auf hundert Schritte herbeigekommen und hatte meine Fährte erreicht. Wer sie eher bemerkte, er oder sein Pferd, das vermochte ich nicht zu sagen, aber ich sah ganz deutlich, daß die Stute von selbst stehen blieb, den Kopf noch tiefer als vorher zur Erde senkte, mit den Augen nach den Fußspuren meines Mustangs schielte und dabei überaus lebhaft mit den langen Ohren wedelte, welche bald auf- und bald niederwärts gingen, und sich bald vor-, bald rückwärts legten, daß es aussah, als ob sie von einer unsichtbaren Hand aus dem Kopfe gedreht werden sollten. Der Reiter wollte absteigen, um die Fährte genau zu untersuchen; dabei hätte er unnützerweise die so kostbare Zeit verloren, und daher kam ich ihm durch meinen Ruf zuvor:
»Halloo, heda, Mann! Haltet Euch unten und kommt doch einmal ein wenig näher heran!«
Ich hatte meine Stellung so verändert, daß er mich sehen konnte. Auch seine Stute hob den Kopf, legte die Ohren steif nach vorn, als wollte sie meinen Anruf wie einen Ball auffangen, und wedelte dabei emsig mit dem kurzen nackten Schwanzstumpfe.
»Halloo, Master,« antwortete er, »nehmt ein andermal Eure Stimme in acht, und brüllt ein wenig leiser; auf dieser alten Wiese hier weiß man niemals richtig, ob es nicht vielleicht hier oder da Ohren gibt, die nichts zu hören brauchen! Komm, Tony!«
Die Stute setzte auf diesen Zuruf ihre unendlichen Beine in Bewegung und blieb dann ganz von selbst bei meinem Mustang stehen, dem sie nach einem hochmütigen und malitiösen Blick denjenigen Körperteil zukehrte, den man bei einem Schiffe den Stern zu nennen pflegt. Sie war wohl eines jener Reittiere, welche wie sie in der Prairie nicht selten vorkommen nur für ihren Herrn leben, jedem Andern aber sich so widerspenstig zeigen, daß sie für ihn unbrauchbar sind.
»Weiß ganz genau, wie laut ich reden darf!« gab ich ihm zur Antwort. »Woher kommt ihr, und wohin wollt Ihr, Master?«
»Das geht Euch verteufelt wenig an!« entgegnete er.
»Meint Ihr? Sehr übermäßig höflich seid Ihr nicht, Master; dies Zeugnis kann ich Euch schon jetzt mit gutem Gewissen geben, obgleich ich kaum zwei Worte mit Euch gesprochen habe. Doch will ich Euch aufrichtig gestehen, daß ich gewohnt bin, eine Antwort zu erhalten, wenn ich frage!«
»Hm, ja; Ihr scheint mir allerdings ein sehr vornehmer Gentleman zu sein,« meinte er mit einem geringschätzigen Blick auf mich. »Daher werde ich Euch sogleich die verlangte Auskunft geben!« Er winkte rückwärts und dann vorwärts. »Ich komme von daher und will dorthin.«
Der Mann begann, mir zu gefallen. Jedenfalls hielt er mich für einen von seiner Gesellschaft abgekommenen Sonntagsjäger. Der echte Westmann gibt auf sein Äußeres nichts und hegt eine offen gezeigte Abneigung gegen alles, was sauber ist. Wer sich jahrelang im wilden Westen umhertreibt, ist in Beziehung auf seinen Habitus nicht salonfähig und vermutet in jedem, der sich propre trägt, einen Greenbill, dem nichts Rechtes zuzutrauen ist. Ich hatte mich droben in Fort Wilfers mit neuer Kleidung versehen und war von jeher gewohnt, meine Waffen blank zu halten, zwei Umstände, welche nicht geeignet waren, mich in den Augen eines Savannenläufers als vollgültig erscheinen zu lassen. Daher nahm ich das kurz angebundene Wesen des fremden Männchens nicht übel und antwortete nun ebenso wie er nach vorwärts deutend:
»So macht, daß Ihr dorthin kommt; nehmt Euch aber vor den vier Indsmen in acht, welche sich da hinten auf Eurer Fährte halten! Ihr habt sie wohl noch gar nicht bemerkt?«
Er fixierte mich aus den hellen, scharfen Äuglein mit einem Blick, in welchem sich Erstaunen und Belustigung zugleich kundgaben.
»Nicht bemerkt? Hihihihi! Vier Indsmen hinter mir, und ich sie nicht bemerken! Ihr scheint mir zum Beispiel ein sonderbarer Kauz zu sein! Die guten Leute sind bereits seit heut früh hinter mir her; ich aber brauche mich nach ihnen gar nicht umzusehen, denn man kennt ja die Weise dieser roten Meschschurs. Sie werden sich in gehöriger Entfernung halten, solange es Tag ist, und mich dann beschleichen, wenn ich mir irgendwo einen Lagerplatz gesucht habe. Aber sie sollen sich zum Beispiel sehr verrechnet haben, denn ich werde ihnen einen Ring schlagen, der mich in ihren Rücken bringt. Ich hatte nur bisher kein passendes Terrain dazu; hier zwischen diesen Wellen kann ichs endlich tun, und wenn Ihr lernen und sehen wollt, wie ein alter Westmann es einrichtet, sich an die Redmen zu bringen, so dürft Ihr nur hier bleiben und zehn Minuten warten. Werdet es aber wohl bleiben lassen, denn ein Mann Eures Schlages pflegt zum Beispiel verteufelt wenig Lust zu haben, eine Portion Indianerparfum einzuschnobern! Come on, Tony!«
Ohne sich weiter um mich zu bekümmern, ritt er davon und war bereits nach einer halben Minute samt seiner famosen Stute zwischen den Bodenerhebungen verschwunden.
Sein Plan war mir sehr verständlich, denn ich an seiner Stelle hätte einen ähnlichen Gedanken ausgeführt. Er wollte einen Bogen reiten, der ihn hinter seine Verfolger brachte, denen er sich nähern mußte, noch ehe sie aus der veränderten Richtung auf seine Taktik schließen konnten. Um diesen Zweck zu erreichen, durfte er sich natürlich nur in den Wellentälern halten, und besser war es, wenn er sich nicht hinter die Indsmen brachte, sondern den Bogen so kurz schlug, daß sie an ihm vorüber mußten. Sie hatten ihn bisher genau beobachten können, wußten also, wie weit sie ihn vor sich hatten, und konnten nicht vermuten, daß er ihnen wieder nahe sei.
Es waren Vier gegen Einen, und die Möglichkeit lag vor, daß ich in die Lage kommen konnte, meine Waffen zu gebrauchen. Ich untersuchte sie daher und erwartete dann den Verlauf der Dinge.
Die Indianer kamen jeden Augenblick näher, immer einer hinter dem andern. Sie hatten beinahe die Stelle erreicht, an welcher die Spur des Kleinen mit der meinigen zusammenlief, als der vorderste von ihnen sein Pferd anhielt und sich zurückwandte. Es schien sie doch zu befremden, daß der von ihnen verfolgte Weiße nicht mehr zu sehen war. Sie hielten eine kurze Beratung, während welcher sie eng beisammen blieben. Mit einer Kugel meines Bärentöters konnte ich sie bereits erreichen; aber das war gar nicht nötig, denn jetzt krachte ein Schuß, und in der nächsten Sekunde ein zweiter. Zwei Indianer sanken tot von ihren Pferden, und zu gleicher Zeit ertönte ein lauter, triumphierender Ruf.
»O hi hi hiiii!« erscholl es in jenem Kehllaute, in welchem der Schlachtruf der Indianer ausgestoßen wird.
Aber nicht ein Indianer ließ ihn hören, sondern der kleine Jäger, welcher aus einer nahen Talrinne auftauchte. Er hatte seinen Vorsatz ausgeführt, war hinter mir verschwunden, und vor mir wieder zu sehen. Er tat, als ob er nach seinen beiden Schüssen fliehen wolle. Seine Stute schien jetzt auf einmal ein ganz anderes Wesen geworden zu sein; sie warf die Beine auseinander, daß der Rasen krachte; der Kopf mit den enthusiastisch gespitzten Ohren lag tief im Genick, und jede Sehne, jede Faser schien angespannt zu sein. Reiter und Pferd waren wie verwachsen miteinander. Der Erstere schwang sein Gewehr und lud es im Galopp mit einer Sicherheit, welche darauf schließen ließ, daß er sich nicht das erste Mal in einer solchen Lage befand.
Hinter ihm knatterten zwei Schüsse; die beiden Indianer hatten auf ihn abgedrückt, aber keine Kugel traf ihn. Die Indsmen stießen ein Wutgeheul aus, griffen zu den Tomahawks und sprengten hinter ihm her. Er hatte sich bisher noch gar nicht nach ihnen umgesehen; jetzt aber war er mit dem Laden fertig und riß sein Pferd herum. Es war, als ob das Tier die Entschlüsse seines Reiters mitdächte; es hielt, streckte sich und stand dann bewegungslos wie ein Sägebock. Er nahm das Gewehr empor und zielte kurz; in den nächsten Augenblicken blitzte es zweimal auf, ohne daß die Stute zuckte die beiden Indsmen waren durch die Köpfe getroffen.
Ich hatte bisher im Anschlage gelegen, aber nicht losgedrückt, da der Kleine meiner Hilfe nicht bedurfte. Jetzt war er vom Pferde gestiegen, um die Gefallenen zu untersuchen, und ich ging zu ihm heran.
»Nun, Sir, wißt Ihr jetzt zum Beispiel, wie man diesen roten Halunken einen Ring schlägt, he?« fragte er mich.
»Thank you, Master! Ich sehe, daß man bei Euch etwas lernen kann!«
Mein Lächeln mußte ihm denn doch etwas zweideutig erscheinen; er blickte mich scharf an und meinte dann:
»Oder wäret etwa auch Ihr auf einen solchen Gedanken gekommen?«
»Ein Ring war gerade nicht notwendig. Bei diesem Terrain, wo man sich in den Wellentälern unsichtbar machen kann, genügt es, sich auf einem großen Vorsprunge dem Feinde zu zeigen, und dann reitet man einfach auf der eigenen Spur zurück. Der Ring ist weit angemessener für die ebene und offene Prairie.«
»Schaut, wo Ihr das alles her haben mögt! Wer seid Ihr denn eigentlich, he?«