Moderne Geister - Georg Brandes 7 стр.


Bei den einzelnen schmutzigen Angriffen, die es seinem Verfasser zugezogen hat, will ich nicht verweilen. Die Denunciationen in ein paar deutschen Winkelblättern interessiren mich nur, weil der norwegische Uebersetzer von Goethe's Faust einen dieser Schmähartikel, der den Inhalt des Buches so wiedergab, als handle es sich darin um lauter roheste Sinnlichkeit, mit einer Einleitung abdrucken liess, die alle norwegischen Familienväter warnte, das Buch über ihre Schwelle kommen zu lassen22.

Auf einen kleinen Hieb von Frankreich aus musste Heyse füglich gefasst sein. Er käme nicht unverdient: denn die in seinem Roman vorkommenden Aeusserungen über französische Literatur und Geistesrichtung sind ganz im Stil der üblichen deutschen Anschauung gehalten; aber der Hieb hätte ritterlicher und geschickter ausfallen sollen als der, vom Nationalhasse und Selbsterhaltungstriebe dictirte, sehr unedle und beschränkte Artikel von Albert Réville in der Revue des deux mondes.

Die Freiheit des Gedankens war die Grundidee der Kinder der Welt. Die Sittenfreiheit ist der Grundgedanke des Romans Im Paradiese, doch nicht so, dass er unbedingt als Vertheidigungs-Eingabe zu betrachten sei; denn wenn die Gedankenfreiheit als unbedingt behauptet werden muss, so ist die Freiheit der Sitten doch nur relativ, und der Dichter hat ihnen nicht mehr als eine relative Freiheit behaupten wollen. Im Paradiese ist aber auch ein Werk von ganz anderer Art als der erstere Roman. Schon der Umstand, dass jener im verstandesscharfen Berlin, dieser im heiteren und sinnlichen München vorgeht, deutet den Unterschied an. Während Kinder der Welt ein philosophischer Roman genannt werden konnte, ist Im Paradiese eine Art roman comique, leicht, graziös und voll mit Ernst gemischten Scherzes. Er hat vielleicht seinen grössten Werth als Psychologie einer ganzen bedeutenden Stadt und als Porträt ihrer gesellschaftlichen und künstlerischen Zustände. Ganz München ist in diesem Buche enthalten, und den Hauptplatz nimmt selbstverständlich das Künstlerleben der Kunststadt ein. Die Gespräche und Reflexionen über Kunst haben hier nicht das müssige und abstracte Gepräge wie in den gewöhnlichen Künstlerromanen; man fühlt, dass es kein Theoretiker sondern ein Kenner ist, der spricht, und ein wahrer Ateliergeruch ist über alle diese Partien des Buches verbreitet. Die ganze Aesthetik des Verfassers lässt sich in Ingres' alter Definition zusammenfassen: l'art c'est le nu.

Was die Schlingung und Composition der Handlung betrifft, bezeichnet Im Paradiese einen unzweifelhaften Fortschritt. Das Interesse wird hier überall erhalten, und, was mehr ist, es ist immer im Steigen; ein Lob, das man Kinder der Welt nicht spenden konnte. Ab und zu sind zwar noch die Mittel, die die Handlung vorwärts bringen, ein wenig ungeschickt benutzt. So ist besonders die ganze Rolle, die der Hund Homo als deus ex machina spielt, etwas stark übertrieben. Er erinnert mit seinem übermenschlichen Scharfblick an jene Löwen, welche die Sculptur der Zopfkunst mit menschlichen und majestätischen Gesichtern darstellte, von Mähnen umrahmt, die in Wirklichkeit Allongenperrücken allzu ähnlich sahen. Doch in deutschen Romanen ist nicht die Handlung, sondern die Charakteristik die Hauptsache, und in fast allen Nebenfiguren offenbart dieses Buch eine ganz neue Seite von Heyse's Talent. Gestalten wie Angelica, Rosenbusch, Kohle, Schnetz, haben ein spielendes, mannigfaltiges Leben, das von Heyse's Stilart sonst fast ausgeschlossen war. Heyse's Geist hat mit einem Wort Humor gewonnen, den Humor des reifen Mannesalters, der vierziger Jahre kann man vielleicht sagen; aber einen feinen, stillen Humor, der die Begabung des Dichters vervollständigt und seinen Farben den ächten Schmelz verleiht.

IX

Wir haben den Kreis von Ideen und Formen durchlaufen, in welchen dieser Dichtergeist seinen Ausdruck gefunden hat. Wir sahen, wie Heyse zuletzt im Roman den bewegenden Gedanken der modernen Zeit gerecht ward, denen die Novellenform nicht Raum zu geben vermochte. Ich hob indess eine Novelle hervor, die sich durch ihren Grundgedanken nicht weniger auszeichnet, als Der Salamander durch den Stil.

Jedes Mal, wenn Heyse es versucht hat, den alten Mythen ein modernes Interesse abzugewinnen, hat er Glück gehabt. Das kleine, reizende Jugendgedicht Die Furie gehört zum Besten, was er geschrieben. In einem kleinen Drama Perseus (in die gesammelten Werke nicht aufgenommen) hat er eine neue Auslegung des Medusamythus gegeben: er hat mit der armen, schönen Medusa Mitleid gefühlt, der das grausame Schicksal, auf Jedermann versteinernd zu wirken, beschieden ward, und er belehrt uns, dass nur die Eifersucht neidischer Göttinnen auf ihre Liebe zu Perseus Schuld daran ist. Ihr Kopf fällt vor der Hand ihres eigenen Geliebten, während sie, um ihm nicht durch den unheilvollen Blick zu schaden, ihr Gesicht in den Sand begräbt. Heyse hat aus dem Mythus ein originelles und trauriges Märchen gemacht.

Die Geschichte vom Centaur ist heiter und tiefsinnig. Man wundert sich nicht, wenn Im Paradiese uns mittheilt, dass diese Novelle den Maler Kohle zu seinen lieblichen Fresken begeistert hat. Der Pilgergang unserer lieben Frau von Milo, den man als Bild vor seinen Augen zu sehen glaubt, so lebhaft ist die Freske beschrieben, ist als Gedicht mit dem letzten Centaur gar innig verwandt. Der letzte Centaur! Das klingt fast wie der letzte Mohikaner! Was weiss Heyse vom letzten Centauren? Wie hat er ihn in eine reguläre Novelle einführen können? O, das geschieht mit vieler Kunst und doch auf die natürlichste Weise. Er zieht erst, so zu sagen, zwei Kreise in einander, dann einen dritten Kreis, und in diesem beschwört er den Centauren herauf. Der erste Kreis ist die Welt der Lebendigen, der zweite die Welt der Todten, der dritte schliesst leicht und natürlich das Reich des Uebernatürlichen ein. Die Erzählung hebt, wider Heyse's Gewohnheit, rein selbstbiographisch, also mit einem möglichst starken Wirklichkeitselemente, an: der Verfasser kommt eines späten Abends an einer Weinstube vorbei, wo er in seiner Jugend einmal wöchentlich seine liebsten Freunde und Kameraden zu treffen pflegte, und jetzt lässt er diese, welche alle gestorben sind, in der Erinnerung Revue passiren. Dann tritt er in die Weinstube ein, fühlt sich müde, und plötzlich ist es ihm, als werde er aufgefordert, in dem alten Kreise sich einzufinden, und als die Thür geöffnet wird, siehe! da sitzen sie alle beisammen. Aber keiner von ihnen bietet dem Eintretenden die Hand, es ist in ihren Mienen ein Zug von Fremdheit, Ernst und Kummer. Dann und wann trinken sie einen langen Zug aus dem Weinglase, dann glühen für einen Augenblick die bleichen Wangen und matten Augen, aber gleich darauf sitzen sie wieder starr und stumm und stieren in's Glas. Nur Einer von ihnen ist ungebeugt von dem Schicksal, das sie getroffen hat, und von welchem nach stillschweigender Abrede in der Gesellschaft nicht gesprochen wird. Es ist Genelli, der ausgezeichnete Maler, dessen Centauren in der Schackschen Sammlung zu München alle Reisenden bewundern. Einer von der Gesellschaft bemerkt, solch' ein Genellisches Fabelwesen sehe so lebendig aus, dass man fast glauben möchte, der Künstler wäre selbst dabei gewesen. Und als der Meister ruhig die Antwort gibt: Er ist auch dabei gewesen, gleiten wir unmerklich aus dem Reiche der Todten in die Fabelwelt hinüber. Er hat den Centauren gesehen, mit eigenen Augen gesehen, wie dieser eines schönen Sommernachmittags, ohne an etwas Böses zu denken, in ein kleines Tyrolerdorf hineintrabte, wo Genelli bei seinem Weinglase sass. In alten Zeiten war der Centaur Landarzt von Profession gewesen, hatte, während eines Ritts in seiner Praxis über die Berge ermüdet, sich in einer Gletscherhöhle schlafen gelegt, war dann eingefroren und jetzt erst, nach Verlauf von Jahrtausenden, ist das Eis um ihn geschmolzen, und er kann mit verwunderten Augen sich in der verwandelten Welt umsehen. Es ist Sonntag und eben Kirchweih, da er mit seinem mächtigen Körper oben ein farnesischer Herkules, unten ein prachtvoller heroischer Streithengst mit wehender Mähne und lang nachschleppendem Rossschweif, einen kleinen Rosenzweig im dichten Haar hinter dem Ohre, durch die leeren Strassen trabt, nur ab und zu ein altes Weib, das mit Geschrei vor der Erscheinung flüchtet, erschreckend. Er sieht die Kirchenthür offen, das Gebäude voll Menschen und eine wunderschöne Frau mit einem Kind auf dem Arme über dem Altare gemalt. Neugierig, nichts Arges denkend, trabt er durch das Portal und schnurstraks über die Steinfliessen, die von seinem mächtigen Hufschlag dröhnen, auf den Altar zu. Man begreift, welcher Lärm über dies geradewegs der Hölle entstiegene Ungeheuer entsteht. Der Pfarrer schreit laut, schwingt, was er Geweihtes in der Hand hat, gegen ihn und ruft: Apage! Apage! (was der Centaur versteht, weil es Griechisch ist). Die Gemeinde schlägt ein Kreuz über das andere; verwundert trabt das Fabelthier dann zur Kirche hinaus, und von allen alten Weibern und allen Kindern des Dorfes begleitet, die natürlich sehr erschrocken sind, den hohen Reisenden so leicht gekleidet zu sehen, bewegt es sich nach dem Dorfkruge hin, wo Genelli auf dem Altane sitzt. Der Meister belehrt dann den Centauren, dass dieser ein Paar hundert Jahre zu spät oder zu früh wieder zum Leben erwacht ist. Zur Zeit der Renaissance würde man ihn vermuthlich wohl empfangen haben. Aber heutzutage und unter dieser engbrüstigen, breitstirnigen, verschneiderten und verschnittenen Lumpenbagage, die sich die moderne Welt nennt! Genelli wagt es nicht, ihm ein heiteres Horoskop zu stellen. Wo Ihr Euch sehen lasst, in Städten oder in Dörfern, werden Euch die Gassenbuben nachlaufen und mit faulen Aepfeln bewerfen, die alten Weiber werden Zeter schreien und die Pfaffen Euch für den Gottseibeiuns ausgeben u. s. w. Und es geht, wie er geweissagt hat. Während der biedere Centaur gutmüthig, wie der Starke ist, vom Publikum sich anglotzen, sein sammetweiches Fell befühlen lässt, während er gemüthlich eine Flasche Wein nach der andern leert und über die Brüstung der Laube sie dem hübschen Schenkmädchen, dem er sofort seine Rose geschenkt hat, zurückreicht, lauern Hass und Neid auf sein Verderben. Eine ganze Verschwörung hat sich gegen ihn gebildet. An der Spitze stand natürlich die hochwürdige Geistlichkeit, die es für das Seelenheil ihrer Pfarrkinder sehr nachtheilig fand, sich mit einem gewiss ungetauften, völlig nackten und wahrscheinlich sehr unsittlichen Thiermenschen näher einzulassen. Ebenso aufgebracht zeigte sich ein Italiener, der auf dem Markte ein ausgestopftes Kalb mit zwei Köpfen und fünf Beinen vorwies. Den Rossmenschen sah man gratis, er war lebendig und trank und schwatzte, und wer wusste, ob er sich nicht noch bewegen liess, einige Kunstreiterstückchen zum Besten zu geben. Das Kalb dagegen war ein ruhiges Genie und machte zu solchen Extravaganzen durchaus keine Miene. In die Concurrenz kann sich der Italiener nicht finden. Es sei ein Unterschied, setzt er dem Pfarrer auseinander, zwischen einem zünftigen, von der Polizei approbirten Naturspiel und einer ganz unwahrscheinlichen nie dagewesenen Missgeburt, die ohne Pass und Gewerbeschein das Land unsicher machte und ehrlichen fünfbeinigen Kälbern das Brot vor dem Maule wegstehle. Aber der leidenschaftlichste Gegner des Centauren ist doch der kleine, schiefbeinige Dorfschneider, der Bräutigam des hübschen Schenkmädchens. Auch der Schneider klagt dem Pfarrer seine Noth, die neue Mode die der Unbekannte eingeführt, müsse das ganze Schneiderhandwerk ruiniren und überdies alle Begriffe von Anstand und guter Sitte über den Haufen werfen.

Während nun der Centaur in seiner heiteren Stimmung eben in dem Hofe des Wirthshauses die schöne Nanni auf seinem Rücken tragend die Umstehenden mit einem höchst graziösen und eigenthümlichen Tanz unterhält, kommen alle die Verschworenen mit berittenen Gensdarmen, um ihn zu fangen. Ohne sie der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen, führt er seinen Tanz fort, und die Hände des Mädchens sanft an seine Brust drückend, setzt er mit einem prachtvollen Sprung über die Köpfe der Bauern weg. Pistolenkugeln knallen um ihn, ohne ihn zu treffen, und bald steht er frei auf dem nächsten Bergabhang. Da lässt er, von dem kläglichen Flehen des Mädchens gerührt, sie sacht zur Erde niedergleiten. So sehr ihr die ritterliche Huldigung des Fremden geschmeichelt hatte und eine so traurige Figur ihr Schatz neben ihm spielte eine solide Versorgung konnte sie von diesem reitenden Ausländer nicht erwarten. Ihre praktische Natur trägt den Sieg davon, und wie eine gejagte Gemse springt sie von Stein zu Stein, ihrem Schneider in die Arme. Ein Ausdruck göttlichen Hohnes gleitet über die Mienen des Centauren hin, man sieht ihn sich entfernen, und bald nachher verschwindet er den nachstarrenden Blicken.

Hier schweigt Genelli, der kleine Kreis bricht auf, und der Dichter erwacht in der Vorstube des Weinhändlers.

Alle Eigenschaften, die das Lesen eines Dichterwerkes zu einem Genusse machen, scheinen mir in diesem Märchen vereint: ein hoher Humor, der einen milden Schimmer über alle Einzelheiten wirft, die zartesten Halbtöne und das feinste Helldunkel das die Handlung vom Lichte des Tages in einen Traum von lauter Verstorbenen hinübergleiten lässt, um dann wieder das Zwielicht der Schattenwelt von einem Sonnenstrahl des alten Hellas erhellen zu lassen. Hierzu kommt eine tiefe, für ihren Dichter ganz eigenthümliche Idee. Denn dieser Scherz ist ja in vollem Ernste ein Hymnus auf die Freiheit in der Kunst wie im Leben, und auf die Freiheit, wie Heyse sie immer aufgefasst hat. Für ihn besteht die Freiheit nicht (wie z. B. für Henrik Ibsen) im Kampfe für die Freiheit, sondern sie ist auf dem religiösen Gebiete der Protest der Natur gegen das Dogma, auf dem gesellschaftlichen und sittlichen Gebiete der Protest der Natur gegen die Convenienz. Durch Natur zur Freiheit! das ist sein Weg und seine Losung. So wird der Centaur als halb Naturwesen, halb Gottheit seiner Phantasie ein theures Sinnbild. Wie schön ist der Centaur in seiner stolzen Kraft durch den Rest altgriechischen Blutes, das er in seinen Adern bewahrt hat! Was muss er nicht Alles ertragen, der Arme, für den Rest Heidenthum, das in ihm wiedererstanden ist, das einige tausend Jahre eingefroren war, aber in unseren Tagen, da die Gletscher zu schmelzen beginnen, aufs Neue erwacht ist und sich an's Tageslicht hinaus wagt! Viel lehrreicher, viel gesetzter und moralischer findet die ganze civilisirte Umgebung seine interessanten Rivalen, die ausgestopften Kälber mit zwei Zungen und fünf durchaus nicht zum Fortschreiten bestimmten, höchst conservativen und ihren Platz conservirenden Beinen. Diese Merkwürdigkeiten übertreten nie eine bürgerliche Sitte, lassen sich nur mit Erlaubniss der Obrigkeit und Geistlichkeit sehen, und sind darum nicht minder ungewöhnlich. Sie werden ewig die Rivalen des Centauren bleiben, von Einigen als ihm ebenbürtig, von Vielen als ihn weit überstrahlend betrachtet.

Und ist der Dichter auf seinem Flügelrosse in dieser kleinlichen modernen Gesellschaft nicht leibhaftig der letzte Centaur?

X

Ich habe einige Aeusserungen über Heyse aufgezeichnet, günstige und ungünstige durcheinander, ächte Stimmen aus dem Publikum.

Heyse, sagte Einer, Das ist der Frauenarzt, der deutsche Frauenarzt, der das Goethe'sche Wort:

Es ist ihr ewig Weh und Ach

So tausendfach u. s. w.

gründlich verstanden hat. Dass er kein Dichter für Männer ist, das hat Fürst Bismarck richtig gefühlt.

Im Gegentheil, sagte ein Anderer, Paul Heyse ist sehr männlich. Man findet ihn weich, weil er anmuthig ist, weil eine vollendete Grazie seinen Schöpfungen ihr Gepräge verliehen hat. Man ahnt nicht, wie viel Kraft erforderlich ist, um diese Anmuth zu haben!

Was ist Heyse?, sagte ein Dritter, ein Kleinstädter, der so lange mit Berlin, dem Weltleben und der Politik Verstecken gespielt hat, dass er sich unserer Gegenwart entfremdet hat und sich nur unter Troubadouren in der Provence zu Hause fühlt. Ich wittere immer aus seinen Schriften den Provençalen und Provinzialisten heraus.

Dieser Heyse, bemerkte ein Vierter, hat trotz seiner fünfzig Jahre und seiner dichterischen Reife die Schwäche, uns durchaus überreden zu wollen, dass er ein unmoralischer, lüsterner Poet sei. Aber kein Mensch glaubt es ihm. Das ist seine Strafe.

Ich bin in meinem Leben nie so beneidet worden, sagte in meiner Gegenwart eine alte Jugendfreundin Heyse's, wie heute, als in einer höheren Töchterschule, die ich besuchte, sich das Gerücht verbreitet hatte, ich würde heute Abend mit ihm in einer Gesellschaft zusammen treffen. Die Backfische haben mir einstimmig aufgetragen, ihm ihre begeisterten Grüsse zu bringen. Wie gerne wären sie ihm sämmtlich um den Hals gefallen! Er ist und bleibt der vergötterte Lieblingsdichter der jungen Mädchen.

Man kann, sagte ein Kritiker, Paul Heyse als den Mendelssohn-Bartholdy der deutschen Poesie definiren. Er erscheint wie Mendelssohn nach den grossen Meistern. Sein Wesen ist wie dasjenige Mendelssohns ein deutsches lyrisches und sinniges Naturell mit der feinsten, südländischen Bildung durchdrungen. Beiden fehlt der grosse Pathos, die durchgreifende Gewalt, der Sturm des dramatischen Elements; aber beide haben natürliche Würde im Ernst, reizende Liebenswürdigkeit und Anmuth im Scherz, beide sind sie durchgebildet in der Form, Virtuosen in der Ausführung.

Max Klinger.

(1882.)

I

In der Berliner permanenten Kunstausstellung erregten im Frühling 1878 eine Reihe Federzeichnungen Aufmerksamkeit. Sie waren betitelt: Phantasien über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet. Ihre Originalität war so tief und so barock, sie waren so unähnlich Allem, was man früher in dieser Art gesehen, dass kein Besucher gleichgiltig daran vorbeiging. Der gewöhnliche Berliner war allerdings nicht ganz klar darüber, ob dies Genialität oder Wahnwitz sei; ein und der andere Siebengescheidte murmelte Fliegende Blätter-Illustrationen zwischen den Zähnen; aber mehrere von den Künstlern und Kritikern, deren Kunstsinn nicht durch das Althergebrachte bestimmt wird, stutzten, vertieften sich in die Bilder und bewunderten das Talent, das in diesem ersten Aufleuchten sich fast blendend offenbarte. Der Name des Künstlers war Max Klinger, und er war erst 21 Jahre alt.

Diese Blätter sind voriges Jahr erschienen in einem Cyclus meisterhaft ausgeführter Radierungen Ein Handschuh. Rad. Op. VI ausnahmsweise im Selbstverlag des Künstlers, da er kein grosses allgemeines Interesse an einer Arbeit von so persönlichem Charakter erwarten konnte. Hier eine kurze Beschreibung davon.

1. und 2. Berlins Skating-Rink, die Gesellschaft, die damals diesen Sport betrieb, genau porträtirt darunter der Künstler selbst, hoch, von militärischer Haltung, mit seinen dichten, gekrausten Haaren, die den Kopf wie eine Pelzmütze bedecken und eine junge ausgezeichnet schöne Dame, eine Brasilianerin, die in jener Zeit durch ihre Schönheit und ihr graziöses Laufen das Interesse der Zuschauer auf sich lenkte. Die junge Dame verliert beim Dahinsausen einen langen weissen Handschuh mit sechs Knöpfen; der junge Künstler bückt sich im Laufen und hebt ihn auf, vermuthlich, um ihn in der Tasche zu bergen, die dem Herzen am nächsten ist.

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