Der Zauberberg. Volume 2 - Томас Манн 16 стр.


Soviel von Hansens neuer Tischgenossenschaft. Der Platz zu seiner Rechten war frei, war nur vorübergehend besetzt, nur ei-nige Tage lang: von einem Hospitanten, wie er es einst gewe-sen, einem Verwandtenbesuch, Gast aus dem Flachlande und Sendboten von dort, wie man sagen mochte, mit einem Wor-te von Hansens Onkel James Tienappel.

Das war abenteuerlich, daß plötzlich ein Vertreter und Abge-sandter der Heimat neben ihm saß, die Atmosphäre des Alten, Versunkenen, des früheren Lebens, einer tieiegenden "Ober-welt" noch frisch im Gewebe seines englischen Anzugs tragend. Aber es hatte kommen müssen. Langst hatte Hans Castorp im stillen mit einem solchen Vorstoß des Flachlandes gerechnet und sogar die Persönlichkeit, die sich nun wirklich mit der Er-kundung betraut zeigte, ganz zutreffend dafür in Aussicht ge-nommen, was eben nicht schwer gewesen war; denn Peter, der seefahrende, kam wenig dafür in Frage, und vom Großonkel Tienappel selbst stand fest, daß keine zehn Pferde ihn je in diese Gegenden schleppen würden, von deren Luftdruckverhältnissen er alles zu fürchten hatte. Nein, James mußte es sein, der sich nach dem Abhandengekommenen im heimatlichen Auftrage umsehen würde; schon früher war er erwartet. Seit aber Joachim allein zurückgekehrt war und im Verwandtenkreis von der hiesigen Sachlage Nachricht gegeben hatte, war der Angriff fäl-lig und überfällig, und so war denn Hans Castorp nicht im ge-ringsten verblüfft, als, knappe vierzehn Tage nach Joachims Ab-reise, der Concierge ihm ein Telegramm überhändigte, das, ah-nungsvoll geöffnet, sich als James Tienappels kurzfristige An-meldung erwies. Er hatte auf Schweizer Boden zu tun und sich zu dem Gelegenheitsausug in Hansens Höhe entschlossen. Übermorgen war er zu erwarten.

"Gut", dachte Hans Castorp. "Schön", dachte er. Und sogar etwas wie "Bitte sehr!" fügte er innerlich hinzu. "Wenn du eine Ahnung hättest!" sagte er in Gedanken zu dem sich Nähernden. Mit einem Worte, er nahm die Meldung mit großer Ruhe auf, gab sie übrigens an Hofrat Behrens und an die Verwaltung wei-ter, ließ ein Zimmer bereitstellen das Zimmer Joachims war noch zur Verfügung und fuhr am übernächsten Tage, um die Stunde seiner eigenen Ankunft, abends gegen acht also, es war schon dunkel, mit demselben harten Vehikel, in dem er Joachim fortgeleitet, zum Bahnhof "Dorf", um den Sendboten des Flachlandes abzuholen, der nach dem Rechten sehen wollte.

Zinnoberrot, ohne Hut, im bloßen Anzug, stand er am Rande des Bahnsteiges, als das Züglein einrollte, stand unter dem Fen-ster seines Verwandten und forderte ihn auf, nur immer heraus-zukommen, denn er sei da. Konsul Tienappel er war Vizekon-sul, entlastete den Alten auch auf diesem ehrenamtlichen Ge-biete sehr dankenswert , verfroren in seinen Wintermantel ge-hüllt, denn wirklich war der Oktoberabend empndlich kalt, nicht viel fehlte und es hätte von klarem Frost die Rede sein können, ja, gegen Morgen würde es sicher frieren, entstieg dem Abteil in überraschter Heiterkeit, die er in den etwas dünnen, sehr zivilisierten Formen des feinen nordwestdeutschen Herrn verlautbarte, begrüßte den vetterlichen Neffen unter betonten Ausdrücken der Genugtuung über sein vorzügliches Aussehen, sah sich vom Hinkenden aller Sorge um sein Gepäck überhoben und erkletterte draußen mit Hans Castorp den hohen und har-ten Sitz ihres Gefährtes. Unter reichem Sternenhimmel fuhren sie dahin, und Hans Castorp, den Kopf zurückgelegt und den Zeigenger in der Luft, erläuterte dem Onkel-Cousin die obe-ren Gelde, faßte mit Wort und Gebärde ein und das andere funkelnde Sternbild zusammen und nannte Planeten bei Na-men, während jener, aufmerksam mehr auf die Person seines Begleiters als auf den Kosmos, sich innerlich sagte, daß es zwar möglich sei und nicht geradezu verrückt anmute, jetzt, hier und sofort gerade von Sternen zu sprechen, daß aber doch manches andere näher gelegen hätte. Seit wann er denn da oben so sicher Bescheid wisse, fragte er Hans Castorp; worauf dieser erwiderte, das sei ein Erwerb der abendlichen Liegekur auf dem Balkon im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wie? bei Nacht liege er auf dem Balkon? O ja. Und der Konsul werde es auch tun. Es werde ihm nichts anderes übrigbleiben.

"Gewiß, selbstvers-tändlich", sagte James Tienappel entgegenkommend und etwas eingeschüchtert. Sein Pegebruder sprach ruhig und eintönig. Ohne Hut, ohne Paletot saß er neben ihm in der frostnahen Frische des Herbstabends. "Dich friert wohl gar nicht?" fragte ihn James; denn er selbst zitterte unter dem zolldicken Tuch seines Mantels, und seine Sprechweise hatte etwas zugleich Hastiges und Lahmes, da seine Zähne eine! Neigung bekundeten, aneinanderzuschlagen. "Uns friert nicht", antwortete Hans Castorp ruhig und kurz.

Der Konsul konnte ihn nicht genug von der Seite betrachten.

Hans Castorp erkundigte sich nicht nach den Verwandten und Bekannten zu Hause. Grüße von dort, die James übermittelte, auch diejenigen Joachims, der bereits beim Regiment sei und vor Glück und Stolz leuchte, empng er ruhig dankend, ohne auf die Umstände der Heimat weiter einzugehen. Beunruhigt durch ein unbestimmtes Etwas, von dem er sich nicht zu sagen wußte, ob es von dem Neffen ausging oder etwa in ihm selbst, dem physischen Benden des Reisenden, seinen Ursprung habe, blickte James umher, ohne von der Hochtallandschaft viel er-kennen zu können, und zog tief die Luft ein, die er ausatmend für herrlich erklärte. Gewiß, antwortete der andere, nicht um-sonst sei sie ja weit berühmt. Sie habe starke Eigenschaften. Ob-gleich sie die Allgemeinverbrennung beschleunige, setze der Körper in ihr doch Eiweiß an. Krankheiten, die jeder Mensch latent in sich trage, sei sie zu heilen imstande, doch befördere sie sie zunächst einmal kräftig, bringe sie vermöge eines allge-meinen organischen An und Auftriebes sozusagen zu festli-chem Ausbruch. Er möge erlauben, festlich? Allerdings. Ob jener nie bemerkt habe, daß der Ausbruch einer Krankheit etwas Festliches habe, eine Art Körperlustbarkeit darstelle. "Gewiß, selbstvers-tändlich", hastete der Onkel mit unbe-herrschtem Unterkiefer und teilte dann mit, daß er acht Tage bleiben könne, das heißt: eine Woche, sieben Tage also, viel-leicht auch nur sechs. Da er, wie gesagt, Hans Castorps Aussehen, dank einem Kuraufenthalt, der sich ja über alles Erwarten in die Länge gezogen habe, hervorragend gut und gekräftigt n-de, nehme er an, daß der Neffe gleich mit ihm hinunter nach Hause fahren werde.

"Na, na, nur nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand", sagte Hans Castorp. Onkel James rede recht wie einer von un-ten. Er solle sich hier bei uns nur erst mal ein bißchen umsehen und einleben, dann werde er seine Ideen schon ändern. Es kom-me auf restlose Heilung an, die Restlosigkeit sei das Entschei-dende, und ein halbes Jahr habe Behrens ihm neulich noch auf-gebrummt. Hier redete der Onkel ihn mit "Junge" an und fragte, ob er verrückt sei. "Bist du denn ganz verrückt?" fragte er. Ein Ferienaufenthalt von fünf Vierteljahren sei das nachgerade, und nun noch ein halbes! Man habe in des allmächtigen Gottes Namen doch nicht soviel Zeit! Da lachte Hans Castorp ruhig und kurz zu den Sternen empor. Ja Zeit! Was nun gerade diese betreffe, die menschliche Zeit, so werde James seine mitge-brachten Begriffe zu allererst revidieren müssen, bevor er hier oben darüber mitrede. Er werde in Hansens Interesse schon morgen ein ernstes Wörtchen mit dem Herrn Hofrat reden, versprach Tienappel. "Das tu'!" sagte Hans Castorp. "Er wird dir gefallen. Ein interessanter Charakter. Forsch und melancho-lisch zugleich." Und dann wies er auf die Lichter von Sanatorium Schatzalp hin und erzählte beiläug von den Leichen, die man die Bob-Bahn hinunterbefördere.

Die Herren speisten zusammen im Berghof-Restaurant, nachdem Hans Castorp den Gast in Joachims Zimmer eingeführt und ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich etwas zu erfri-schen. Mit H2CO sei das Zimmer geräuchert worden, sagte Hans Castorp, ebenso gründlich, wie wenn nicht wilde Abrei-se von dort gehalten worden wäre, sondern eine ganz andere, kein Exodus, sondern ein Exitus. Und da der Onkel sich nach dem Sinn erkundigte: "Jargon!" sagte der Neffe. "Ausdrucks-weise!" sagte er. "Joachim ist desertiert, zur Fahne desertiert, das gibt es auch. Aber mach', damit du noch warmes Essen be-kommst!" Und so saßen sie denn im behaglich erwärmten Restaurant einander gegenüber, an erhöhtem Platz. Die Zwergin bediente sie hurtig, und James ließ eine Flasche Burgunder kommen, die, in einem Körbchen liegend, aufgestellt wurde. Sie stießen an und ließen sich von der milden Glut durchrin-nen. Der Jüngere sprach von dem Leben hier oben im Wandel der Jahreszeiten, von einzelnen Erscheinungen des Speisesaals, vom Pneumothorax, dessen Wesen er erklärte, indem er den Fall des gutmütigen Ferge heranzog und sich über die grasse Natur des Pleurachoks verbreitete, und der drei farbigen Ohn-machten gedachte, in die Herr Ferge gefallen sein wollte, der Geruchshalluzination, die beim Chok eine Rolle gespielt, und des Gelächters, das er im Abschnappen ausgestoßen. Er bestritt die Kosten der Unterhaltung. James aß und trank stark, wie er es gewohnt war und mit überdies noch durch Reise und Luft-wechsel geschärftem Appetit. Dennoch unterbrach er sich zu-weilen in der Nahrungsaufnahme, saß, den Mund voller Spei-sen, die er zu kauen vergaß, Messer und Gabel im stumpfen Winkel über dem Teller stillgestellt, und betrachtete Hans Castorp unverwandt, scheinbar ohne es zu wissen, auch ohne daß jener sich weiter empndlich dafür gezeigt hätte. Geschwollene Adern zeichneten sich an Konsul Tienappels mit dünnem blon-dem Haar bedeckten Schädel ab.

Die Herren speisten zusammen im Berghof-Restaurant, nachdem Hans Castorp den Gast in Joachims Zimmer eingeführt und ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich etwas zu erfri-schen. Mit H2CO sei das Zimmer geräuchert worden, sagte Hans Castorp, ebenso gründlich, wie wenn nicht wilde Abrei-se von dort gehalten worden wäre, sondern eine ganz andere, kein Exodus, sondern ein Exitus. Und da der Onkel sich nach dem Sinn erkundigte: "Jargon!" sagte der Neffe. "Ausdrucks-weise!" sagte er. "Joachim ist desertiert, zur Fahne desertiert, das gibt es auch. Aber mach', damit du noch warmes Essen be-kommst!" Und so saßen sie denn im behaglich erwärmten Restaurant einander gegenüber, an erhöhtem Platz. Die Zwergin bediente sie hurtig, und James ließ eine Flasche Burgunder kommen, die, in einem Körbchen liegend, aufgestellt wurde. Sie stießen an und ließen sich von der milden Glut durchrin-nen. Der Jüngere sprach von dem Leben hier oben im Wandel der Jahreszeiten, von einzelnen Erscheinungen des Speisesaals, vom Pneumothorax, dessen Wesen er erklärte, indem er den Fall des gutmütigen Ferge heranzog und sich über die grasse Natur des Pleurachoks verbreitete, und der drei farbigen Ohn-machten gedachte, in die Herr Ferge gefallen sein wollte, der Geruchshalluzination, die beim Chok eine Rolle gespielt, und des Gelächters, das er im Abschnappen ausgestoßen. Er bestritt die Kosten der Unterhaltung. James aß und trank stark, wie er es gewohnt war und mit überdies noch durch Reise und Luft-wechsel geschärftem Appetit. Dennoch unterbrach er sich zu-weilen in der Nahrungsaufnahme, saß, den Mund voller Spei-sen, die er zu kauen vergaß, Messer und Gabel im stumpfen Winkel über dem Teller stillgestellt, und betrachtete Hans Castorp unverwandt, scheinbar ohne es zu wissen, auch ohne daß jener sich weiter empndlich dafür gezeigt hätte. Geschwollene Adern zeichneten sich an Konsul Tienappels mit dünnem blon-dem Haar bedeckten Schädel ab.

Von heimatlichen Dingen war nicht die Rede, weder von persönlich-familiären, noch städtischen, noch geschäftlichen, noch von der Firma Tunder & Wilms, Schiffswerft, Maschinenfabrik und Kesselschmiede, die immer noch auf den Eintritt des jungen Praktikanten wartete, was aber natürlich so wenig ihre einzige Beschäftigung war, daß man sich fragen mochte, ob sie überhaupt noch wartete. James Tienappel hatte wohl alle diese Gegenstände während der Wagenfahrt und später berührt, aber sie waren zu Boden gefallen und tot liegen geblieben, abge-prallt von Hans Castorps ruhiger, bestimmter und ungekünstel-ter Gleichgültigkeit, einer Art von Unberührbarkeit oder Ge-feitheit, die an sein Unempndlichsein gegen die herbstliche Abendkühle, an sein Wort "Uns friert nicht", erinnerte und vielleicht Ursache war, weshalb sein Onkel ihn manchmal so unverwandt betrachtete. Auch von der Oberin, den Ärzten ging die Unterhaltung, von den Konferenzen Dr. Krokowskis es traf sich, daß James einer davon beiwohnen würde, wenn er acht Tage blieb. Wer sagte dem Neffen, daß der Onkel gewillt sei, den Vortrag zu besuchen? Niemand. Er nahm es an, setzte es mit so ruhiger Bestimmtheit als ausgemacht voraus, daß jenem selbst der Gedanke, er könne etwa nicht daran teilnehmen, in unnatürlichem Lichte erscheinen mußte, und daß er mit eiligem "Gewiß, selbstvers-tändlich" jedem Verdachte zuvorzukommen suchte, als habe er einen Augenblick Unmögliches geplant. Dies eben war die Macht, deren unbestimmte, aber zwingende Emp-ndung Herrn Tienappel unbewußt anhielt, den Vetter zu be-trachten, jetzt übrigens mit offenem Munde, denn der At-mungsweg der Nase hatte sich ihm verschlossen, obgleich seines Wissens der Konsul keinen Schnupfen hatte. Er hörte seinen Verwandten von der Krankheit sprechen, die hier das gemeinsa-me Berufsinteresse aller bildete, und von der Aufnahmelustig-keit für sie; von Hans Castorps eigenem bescheidenen, aber langwierigen Fall, dem Reiz, den die Bazillen auf die Gewebs-zellen der Luftröhrenverästelungen und der Lungenbläschen ausübten, der Tuberkelbildung und Erzeugung löslicher Be-schwipsungsgifte, dem Zellenzerfall und Verkäsungsprozeß, von dem dann die Frage sei, ob er durch kalkige Petrizierung und bindegewebige Vernarbung zu heilsamem Stillstande gelange oder zu größeren Erweichungsherden sich fortbilde, umsich-greifende Löcher fresse und das Organ zerstöre. Er hörte von der wild beschleunigten, galoppierenden Form dieses Vorgan-ges, die in ein paar Monaten schon, j a in Wochen zum Exitus führe, hörte von Pneumotomie, des Hofrats meisterlich geüb-tem Handwerk, von Lungenresektion, wie sie morgen oder demnächst bei einer neueingetroffenen Schweren, einer ur-sprünglich reizenden Schottin vorgenommen werden sollte, die von gangraena pulmonum, vom Lungenbrande ergriffen wor-den sei, so daß eine schwärzlich-grüne Verpestung in ihr walte und sie den ganzen Tag zerstäubte Karbolsäurelösung einatme, um nicht aus Ekel vor sich selber den Verstand zu verlieren: und plötzlich geschah es dem Konsul, völlig unerwartet für ihn selbst und zu seiner größten Beschämung, daß er herausplatzte. Prustend lachte er los, besann und beherrschte sich freilich so-fort mit Schrecken, hustete und suchte das sinnlos Geschehene auf alle Weise zu vertuschen, wobei er übrigens zu seiner Be-ruhigung, die aber neue Beunruhigung in sich trug, wahrnahm, daß Hans Castorp sich um den Unfall, der ihm unmöglich ent-gangen sein konnte, gar nicht kümmerte, vielmehr rnit einer Achtlosigkeit darüber hinwegging, die sich nicht etwa als Takt, Rücksicht, Höichkeit, sondern als reine Gleichgültigkeit und Unberührtheit, als eine Duldsamkeit unheimlichen Grades kennzeichnete, wie wenn er es längst verlernt hätte, sich durch solche Vorkommnisse befremdet zu fühlen. Sei es aber, daß der Konsul seinem Heiterkeitsausbruch nachträglich ein Mäntelchen von Vernunft und Sinn umzuhängen wünschte oder in wel-chem Zusammenhange sonst, plötzlich brach er ein Männer-und Klubgespräch vom Zaun, ng mit hochgeschwollenen Kopfadern an, von einer sogenannten "Chansonette", einer Bänkelsängerin zu reden, einem ganz tollen Weibsstück, das zurzeit in St. Pauli ihr Wesen treibe und mit ihren tempera-mentgeladenen Reizen, die er dem Vetter schilderte, die Her-renwelt der Heimatrepublik in Atem halte. Seine Zunge lallte etwas bei diesen Erzählungen, doch brauchte er sich davon nicht anfechten zu lassen, da sich die nicht zu befremdende Duldsamkeit seines Gegenübers offenbar auch auf diese Erscheinung er-streckte. Immerhin wurde ihm die übermächtige Reisemüdigkeit, deren Opfer er war, allmählich so deutlich, daß er schon gegen halb 11 Uhr die Beendigung des Beisammenseins befürwortete und es innerlich wenig begrüßte, daß es in der Halle noch zu einer Begegnung mit dem mehrfach erwähnten Dr. Krokowski kam, der zeitunglesend an der Tür eines Salons ge-sessen hatte, und mit dem sein Neffe ihn bekannt machte. Auf die stämmig-heitere Anrede des Doktors wußte er fast nichts anderes mehr als "Gewiß, selbstverständlich", zu erwidern und war froh, als sein Neffe sich mit der Ankündigung, er werde ihn morgen um 8 Uhr zum Frühstück abholen, auf dem Bal-konwege aus Joachims desinziertem Zimmer in sein eigenes begeben hatte und er mit der gewohnten Gute-Nacht-Zigarette sich ins Bett des Fahnenüchtlings fallen lassen konnte. Um ein Haar hätte er Feuersbrunst gestiftet, da er zweimal, das glim-mende Räucherwerk zwischen den Lippen, in Schlaf verel.

James Tienappel, den Hans Castorp abwechselnd "Onkel Ja-mes" und einfach nur "James" anredete, war ein langbeiniger Herr von gegen Vierzig, gekleidet in englische Stoffe und blü-tenhafte Wäsche, mit kanariengelbem, gelichtetem Haar, nahe beisammenliegenden blauen Augen, einem strohigen, gestutz-ten, halb wegrasierten Schnurrbärtchen und bestens gepegten Händen. Gatte und Vater seit einigen Jahren, ohne darum genö-tigt gewesen zu sein, die geräumige Villa des alten Konsuls am Harvestehuder Weg zu verlassen, vermählt mit einer Angehö-rigen seines Gesellschaftskreises, die ebenso zivilisiert und fein, von ebenso leiser, rascher und spitzhöflicher Sprechweise war wie er selbst, gab er zu Hause einen sehr energischen, umsichti-gen und bei aller Eleganz kalt sachlichen Geschäftsmann ab, nahm aber in fremdem Sittenbereich, auf Reisen, etwa im Sü-den des Landes, ein gewisses überstürztes Entgegenkommen in sein Wesen auf, eine höflich eilfertige Bereitwilligkeit zur Selbstverleugnung, in der sich nichts weniger als eine Unsicher-heit der eigenen Kultur, sondern im Gegenteil das Bewußtsein ihrer starken Geschlossenheit bekundete, nebst dem Wunsche, seine aristokratische Bedingtheit zu korrigieren und selbst in-mitten von Lebensformen, die er unglaublich fand, nichts von Befremdung merken zu lassen. "Natürlich, gewiß, selbstverständlich!" beeilte er sich zu sagen, damit niemand denke, er sei zwar fein, aber beschränkt. Hierher gekommen nun freilich in einer bestimmten sachlichen Sendung, nämlich mit dem Auftra-ge und der Absicht, energisch nach dem Rechten zu sehen, den säumigen jungen Verwandten, wie er sich innerlich ausdrückte, "loszueisen" und daheim wieder einzuliefern, war er sich doch wohl bewußt, auf fremdem Boden zu operieren, schon im er-sten Augenblick empndlich von der Ahnung berührt, daß eine Welt und Sittensphäre ihn als Gast aufgenommen habe, die an geschlossener Selbstsicherheit seiner eigenen nicht nur nicht nachstand, sondern sie sogar noch darin übertraf, so daß seine Geschäftsenergie sofort in Zwiespalt mit seiner Wohlerzogen-heit geriet und zwar in einen sehr schweren; denn die Selbstge-wißheit der Wirtssphäre erwies sich als wahrhaft erdrückend.

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