In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hinunter, und nun war er lebendig, aber so matt, daß er nur einen kurzen Augenblick seine Augen zu öffnen und Däumelieschen anzusehen vermochte, die, weil sie kein anderes Lämpchen haben konnte, mit einem Stückchen faulen Holzes in der Hand neben ihm stand.
Herzlichen Dank, du niedliches kleines Kind! sagte die kranke Schwalbe zu ihr. Ich bin vortrefflich erwärmt! Bald erhalte ich meine Kräfte wieder und kann dann draußen im warmen Sonnenschein umherfliegen.
Ach! sagte sie, es ist draußen gar kalt, es schneit und friert! Bleib du in deinem warmen Bettchen, ich werde dich schon pflegen!
Darauf brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatte und diese trank und erzählte ihr, wie sie sich an einem Dornbusche einen ihrer Flügel verletzt hätte, weshalb sie nicht mehr so schnell wie die andern Schwalben zu fliegen vermochte, als dieselben weit weg nach den warmen Ländern fortzogen. Endlich war sie auf die Erde gefallen, und was weiteres mit ihr geschehen, wußte sie nicht.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten und Däumelieschen nahm sich ihrer auf das Beste an und hatte sie lieb. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhr das Geringste davon, weil sie die arme Schwalbe nicht leiden mochten.
Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe Däumelieschen Lebewohl, die nun das Loch öffnete, welches der Maulwurf in die Decke gemacht hatte. Die Sonne schien herrlich auf sie hernieder und die Schwalbe fragte, ob sie sie begleiten wollte, sie könnte ja auf ihrem Rücken sitzen, und dann wollten sie weit hinaus in den grünen Wald fliegen. Aber Däumelieschen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie dieselbe auf solche Art verließ.
Nein, ich kann nicht! sagte Däumelieschen. Lebewohl, lebewohl! du gutes, liebes Mädchen! sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelieschen sah ihr nach und die Thränen traten ihr in die Augen, denn sie hatte die Schwalbe gar lieb.
Quivit, quivit! sang der Vogel und flog hinein in den grünen Wald.
Däumelieschen war sehr betrübt. Sie erhielt nie Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Acker über dem Hause der Feldmaus ausgesäet war, wuchs auch hoch in die Luft empor; für das arme kleine Mädchen, das kaum Daumeslänge hatte, war es ein völlig undurchdringlicher Wald.
Während des Sommers sollst du nun an deiner Aussteuer nähen! sagte die Feldmaus zu ihr, denn nun hatte der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Sammetpelze, sich um sie beworben.
Däumelieschen mußte nun die Spindel drehen und die Feldmaus nahm vier Spinnen in Lohn, die Tag und Nacht spinnen und weben mußten. Jeden Abend kam der Maulwurf auf Besuch und sprach nur immer davon, daß, wenn der Sommer vergangen, die Sonne nicht mehr so warm scheinen würde, dann wollte er mit Däumelieschen Hochzeit feiern. Sie war aber gar nicht vergnügt, denn sie hatte den langweiligen Maulwurf keineswegs lieb. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, schlich sie sich zur Thür hinaus, und sobald der Wind die Kornähren auseinander wehte, daß sie den blauen Himmel sehen konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen wäre, und wünschte so sehr, die liebe Schwalbe wiederzusehen; aber die kam nie wieder, die war gewiß weit fort in den schönen grünen Wald geflogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelieschen ihre ganze Aussteuer fertig.
In vier Wochen sollst du Hochzeit halten! sagte die Feldmaus zu ihr. Aber Däumelieschen weinte und sagte, sie wollte den langweiligen Maulwurf nicht haben.
Schnickschnack! sagte die Feldmaus, sei nur nicht widerspenstig, sonst muß ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen.
Nun sollte Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelieschen zu holen.
Lebewohl, du klarer Sonnenstrahl! sagte sie und streckte die Ärmchen hoch empor und ging auch eine kurze Strecke vom Hause der Feldmaus fort, denn nun war das Korn geerntet und nur die dürren Stoppeln standen noch da. Lebewohl, Lebewohl! sagte sie und schlang ihre Ärmchen um eine kleine rote Blume, die daneben stand. Grüße die liebe Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!
Quivit, quivit! ertönte es in demselben Augenblicke über ihrem Kopfe. Sie blickte auf, es war die Schwalbe, die gerade vorüberflog. Sobald sie Däumelieschen gewahrte, wurde sie sehr froh, sie erzählte derselben, wie ungern sie den garstigen Maulwurf zum Manne nähme und daß sie nun tief unter der Erde wohnen sollte, wo das Sonnenlicht nie hineinschiene.
Nun kommt der kalte Winter, sagte die Schwalbe, ich fliege nach den warmen Ländern fort. Willst du mich begleiten? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Fliege nur mit mir, du süßes kleines Däumelieschen, die du mir das Leben gerettet hast, als ich erfroren in dem finstern Schooße der Erde lag!
Ja, ich ziehe mit dir, sagte Däumelieschen, und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine ausgebreiteten Flügel, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und nun erhob sich die Schwalbe hoch in die Lüfte, über Wälder und Seen, hoch hinauf über die großen Gebirge, wo immer Schnee liegt.
Endlich kamen sie nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit heller als hier, der Himmel war doppelt so hoch und an den Gräben und Hecken wuchsen die herrlichsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen; Myrthen und Krausemünzen erfüllten alles mit ihrem Duft. Aber die Schwalbe flog immer noch weiter und es wurde schöner und schöner. Unter den prachtvollsten grünen Bäumen an dem blauen See stand seit alten Zeiten ein weißes Marmorschloß. Weinreben rankten sich um hohe Säulen; an der äußersten Spitze waren viele Schwalbennester und in einem derselben wohnte die Schwalbe, welche Däumelieschen trug.
Hier ist mein Haus! sagte die Schwalbe. Suche dir aber selbst eine der prächtigsten Blumen aus, die da unten wachsen, und ich will dich dann hinaufsetzen, und dein Los wird so glücklich sein, als du nur irgend wünschen kannst!
O wie herrlich! sagte Däumelieschen und klatschte in die kleinen Händchen.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, welche zur Erde gesunken und in drei Stücke zerborsten war, zwischen ihnen aber wuchsen die schönsten großen weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelieschen hinunter und setzte sie auf eines der breiten Blätter. Aber wer malt ihr Erstaunen: mitten in der Blume saß ein kleiner Mann, so weiß und durchsichtig, wie wenn er von Glas wäre. Die niedlichste goldene Krone hatte er auf dem Kopfe und die prächtigsten hellen Flügel auf den Schultern. Er selbst war nicht größer als Däumelieschen. Es war der Engel der Blumen. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, dieser aber war der König über alle.
Der kleine Prinz erschrak gewaltig vor der Schwalbe, denn gegen ihn, der so klein und fein war, schien sie ein wahrer Riesenvogel zu sein. Als er aber Däumelieschen gewahrte, ward er gar froh, war sie doch das allerschönste Mädchen, das er bis jetzt gesehen hatte. Deshalb nahm er die Goldkrone von seinem Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie hieße und ob sie seine Gemahlin sein wollte, dann sollte sie Königin über alle Blumen werden.
Däumelieschen gab dem schönen Prinzen das Jawort, und von jeder Blume kam eine Dame, oder ein Herr, so allerliebst, daß es eine Lust war. Jedes brachte Däumelieschen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen weißen Fliege. Sie wurden Däumelieschen am Rücken befestigt und nun konnte auch sie von Blume zu Blume fliegen. Überall herrschte darüber Freude und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen etwas vor, so gut sie vermochte, aber im Herzen war sie gleichwohl betrübt, denn sie hatte Däumelieschen gar lieb und würde sich nie von ihr getrennt haben.
Du sollst fortan nicht mehr Däumelieschen heißen! sagte der Engel der Blumen zu ihr, das ist ein häßlicher Name und du bist so schön. Wir wollen dich Maja nennen!
Lebewohl, lebewohl! sagte die Schwalbe, und zog wieder fort aus den warmen Ländern, weit fort nach unserem kalten Himmelsstriche. Dort hatte sie ein kleines Nest oben an dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Dem sang sie ihr Quivit, quivit, vor. Davon haben wir die ganze Geschichte.
Die Störche
Auf dem letzten Hause eines kleinen Dörfchens befand sich ein Storchnest. Die Storchmutter saß im Neste bei ihren vier Jungen, welche den Kopf mit dem kleinen schwarzen Schnabel, denn er war noch nicht rot geworden, hervorstreckten. Ein Stückchen davon stand auf der Dachfirste starr und steif der Storchvater. Man hätte meinen können, er wäre aus Holz gedrechselt, so stille stand er. Gewiß sieht es recht vornehm aus, daß meine Frau eine Schildwache bei dem Neste hat! dachte er. Und er stand unermüdlich auf einem Beine.
Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder und als sie die Störche erblickten, sang einer der dreistesten Knaben und allmählich alle zusammen einen Vers aus einem alten Storchliede, so gut sie sich dessen erinnern konnten:
Störchlein, Störchlein, fliege,
Damit ich dich nicht kriege,
Deine Frau, die liegt im Neste dein
Bei deinen lieben Kindelein:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt,
Das dritte wird verbrannt,
Das vierte dir entwandt!
Höre nur, was die Jungen singen! sagten die kleinen Storchkinder. Sie sagen, wir sollen gebraten und verbrannt werden!
Daraus braucht ihr euch nichts zu machen! sagte die Storchmutter.
Aber die Knaben wiederholten es immer von Neuem und wiesen mit Fingern nach dem Storche. Nur ein Knabe, Peter mit Namen, sagte, es wäre eine Sünde und Schande, sich über die Tiere lustig zu machen, und nahm an ihrem Unfug nicht Teil. Die Storchmutter tröstete ihre Kinder: Kümmert euch nicht darum! sagte sie; seht nur, wie ruhig und unbekümmert euer Vater dasteht, und zwar auf einem Beine!
Uns ist so bange! sagten die Jungen und zogen ihre Köpfe in das Nest zurück.
Als am nächsten Tage die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die Störche erblickten, begannen sie wieder ihr altes Lied:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt!
Werden wir wohl gepfählt und verbrannt? fragten die Storchkinder.
Nein, sicher nicht! erwiderte die Mutter. Ihr sollt fliegen lernen; ich werde euch schon einüben! Dann geht es hinaus auf die Wiese und auf Besuch zu den Fröschen. Das wird eine Lust werden!
Und was dann? fragten die Storchkinder.
Dann versammeln sich alle Störche, die hier im Lande wohnen und darauf beginnt die große Herbstübung. Da muß man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit, denn wer nicht fliegen kann, wird von dem General mit seinem Schnabel totgestochen. Lernt deshalb nur fliegen, wenn der Unterricht beginnt!
Dann werden wir aber doch gepfählt, wie die Knaben behaupteten, und höre nur, jetzt sagen sie es schon wieder!
Hört auf mich und nicht auf sie! sagte die Storchmutter. Nach der großen Übung fliegen wir nach den warmen Ländern, weit fort von hier, über Berge und Wälder. Nach Ägypten fliegen wir, wo es dreieckige Steinhäuser giebt, die in einer Spitze zusammenlaufen und bis über die Wolken ragen. Da ist auch ein Fluß, der aus seinen Ufern tritt und das ganze Land mit Schlamm bedeckt. Man geht im Schlamm und ißt Frösche.
O! riefen alle Jungen.
Ja, da ist es wunderbar schön! Man thut den ganzen Tag nichts Anderes als essen. Und während wir es so gut haben, ist hier zu Lande nicht ein grünes Blatt auf den Bäumen. Hier ist es so kalt, daß die Wolken in Stücke gefrieren und in kleinen weißen Läppchen herniederfallen, was dann die Menschen Schnee nennen.
Zerfrieren denn auch die unartigen Knaben in lauter Stücke? fragten die Storchkinder.
Nein, in Stücke zerfrieren sie nicht, aber es fehlt nicht viel daran und sie müssen in der dunklen Stube und hinter dem Ofen sitzen.
Inzwischen war schon einige Zeit verstrichen, und die Jungen waren so groß, daß sie im Neste aufrecht stehen und sich weit umschauen konnten. Der Storchvater kam jeden Tag mit wohlschmeckenden Fröschen, kleinen Schlangen und allen auffindbaren Storchleckereien geflogen.
Hört, nun müßt ihr fliegen lernen! sagte eines Tages die Storchmutter, und dann mußten alle vier Junge auf die Dachfirste hinaus. O, wie sie schwankten! Wie sie suchten, sich mit den Flügeln im Gleichgewicht zu erhalten, und doch nahe daran waren, hinunter zu fallen.
Seht nun auf mich! sagte die Mutter. So müßt ihr den Kopf halten! So müßt ihr die Beine setzen! Eins, zwei! eins, zwei! Das wird euch in der Welt vorwärts bringen! Darauf flog sie eine kurze Strecke und die Jungen machten einen kleinen plumpen Satz. Bums! da lagen sie, denn sie waren noch zu schwerfällig.
Ich will nicht fliegen! sagte das eine Junge und kroch wieder in das Nest hinein. Ich mache mir nichts daraus, nach den warmen Ländern zu kommen.
So willst du also hier im Winter erfrieren? Sollen etwa die Knaben kommen und dich pfählen, abkehlen und verbrennen? Dann will ich sie rufen!
O nein! sagte das Storchkind und hüpfte dann wieder auf das Dach zu den andern. Den dritten Tag konnten sie schon ordentlich ein wenig fliegen, und nun meinten sie auch in der Luft schweben zu können.
Seht, das war sehr gut! sagte die Storchmutter; Ihr sollt morgen mit mir in den Sumpf fliegen. Dort kommen mehrere nette Storchfamilien mit ihren Kindern zusammen.
Aber sollen wir denn an den unartigen Knaben keine Rache nehmen? fragten die Storchjungen.
Laßt sie schreien, was sie wollen! Ihr erhebt euch doch zu den Wolken und kommt nach dem Lande der Pyramiden, während sie frieren müssen und kein grünes Blatt noch einen süßen Apfel haben!
Ja, wir wollen uns rächen! flüsterten sie einander zu und dann wurde wieder fleißig geübt.
Von allen Knaben auf der Gasse war keiner ärger, das Spottlied zu singen, als gerade der, welcher es zuerst angestimmt hatte, und das war ein ganz kleiner Bursche, denn er zählte sicher nicht mehr als sechs Jahre. Die Storchkinder meinten freilich, er wäre hundert Jahre, weil er so viel größer als ihre Mutter und ihr Vater war. Was wußten sie davon, wie alt kleine und große Kinder sein könnten. Ihre ganze Rache sollte sich über diesen Knaben ergießen; er hatte ja mit dem Liede den Anfang gemacht und war dessen noch nicht müde geworden. Die jungen Störche waren sehr aufgebracht und je größer sie wurden, desto weniger wollten sie es leiden.
Nun kam der Herbst. Alle Störche versammelten sich allmählich, um gegen Winter nach den warmen Ländern zu fliegen. Was für eine Übung ging voraus! Über Wälder und Städte mußten sie, nur um zu sehen, wie gut sie fliegen könnten, denn es war ja eine große Reise, welche bevorstand. Unsere jungen Störche machten ihre Sache so hübsch, daß sie die Zensur: Ausgezeichnet gut mit Frosch und Schlange erhielten. Das war das allerbeste Zeugnis und den Frosch und die Schlange durften sie essen, und thaten es auch.
Nun müssen wir uns rächen! sagten sie.
Jawohl! sagte die Storchmutter. Was ich mir ausgedacht habe, das ist gerade das Richtige! Ich weiß, wo der Teich ist, in dem alle die kleinen Menschenkinder liegen, bis der Storch kommt und sie ihren Eltern bringt. Die niedlichen kleinen Kinder schlafen und träumen so süß, wie sie nachher nie mehr träumen. Alle Eltern wollen gern so ein kleines Kind haben, und alle Kinder wollen eine Schwester oder einen Bruder haben. Nun wollen wir nach dem Teiche hinfliegen und für jedes der Kinder eins holen, welche das arge Lied nicht gesungen und sich über die Störche nicht lustig gemacht haben!