Kantorek war unser Klassenlehrer, ein strenger, kleiner Mann in grauem Schoßrock, mit einem Spitzmausgesicht. Er hatte ungefähr dieselbe Statur wie der Unteroffizier Himmelstoß, der »Schrecken des Klosterberges«. Es ist übrigens komisch, dass das Unglück der Welt so oft von kleinen Leuten herrührt, sie sind viel energischer und unverträglicher als großgewachsene. Ich habe mich stets gehütet, in Abteilungen mit kleinen Kompanieführern zu geraten; es sind meistens verfluchte Schinder*.
Kantorek hielt uns in den Turnstunden so lange Vorträge, bis unsere Klasse unter seiner Führung geschlossen zum Bezirkskommando zog und sich meldete. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er uns durch seine Brillengläser anfunkelte und mit ergriffener Stimme fragte: »Ihr geht doch mit, Kameraden?«
Diese Erzieher haben ihr Gefühl so oft in der Westentasche parat*; sie geben es ja auch stundenweise aus. Doch darüber machten wir uns damals noch keine Gedanken.
Einer von uns allerdings zögerte und wollte nicht recht mit. Das war Josef Behm, ein dicker, gemütlicher Bursche. Er ließ sich dann aber überreden, er hätte sich auch sonst unmöglich gemacht. Vielleicht dachten noch mehrere so wie er; aber es konnte sich niemand gut ausschließen, denn mit dem Wort »feige« waren um diese Zeit sogar Eltern rasch bei der Hand. Die Menschen hatten eben alle keine Ahnung von dem, was kam. Am vernünftigsten waren eigentlich die armen und einfachen Leute; sie hielten den Krieg gleich für ein Unglück, während die bessergestellten vor Freude nicht aus noch ein wussten, obschon gerade sie sich über die Folgen viel eher hätten klarwerden können.
Katczinsky behauptet, das käme von der Bildung, sie mache dämlich. Und was Kat sagt, das hat er sich überlegt.
Sonderbarerweise war Behm einer der ersten, die fielen. Er erhielt bei einem Sturm einen Schuss in die Augen, und wir ließen ihn für tot liegen. Mitnehmen konnten wir ihn nicht, weil wir überstürzt zurück mussten. Nachmittags hörten wir ihn plötzlich rufen und sahen ihn draußen herumkriechen. Er war nur bewusstlos gewesen. Weil er nichts sah und wild vor Schmerzen war, nutzte er keine Deckung aus, so dass er von drüben abgeschossen wurde, ehe jemand herankam, um ihn zu holen.
Man kann Kantorek natürlich nicht damit in Zusammenhang bringen; wo bliebe die Welt sonst, wenn man das schon Schuld nennen wollte. Es gab ja Tausende von Kantoreks, die alle überzeugt waren, auf eine für sie bequeme Weise das Beste zu tun.
Darin liegt aber gerade für uns ihr Bankerott.
Sie sollten uns Achtzehnjährigen Vermittler und Führer zur Welt des Erwachsenseins werden, zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der Kultur und des Fortschritts, zur Zukunft. Wir verspotteten sie manchmal und spielten ihnen Meine Streiche, aber im Grunde glaubten wir ihnen. Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschlicheres Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung. Wir mussten erkennen, dass unser Alter ehrlicher war als das ihre; sie hatten vor uns nur die Phrase und die Geschicklichkeit voraus. Das erste Trommelfeuer zeigte uns unseren Irrtum, und unter ihm stürzte die Weltanschauung zusammen, die sie uns gelehrt hatten.
Während sie noch schrieben und redeten, sahen wir Lazarette und Sterbende; während sie den Dienst am Staate als das Größte bezeichneten, wussten wir bereits, dass die Todesangst stärker ist. Wir wurden darum keine Meuterer, keine Deserteure, keine Feiglinge alle diese Ausdrücke waren ihnen ja so leicht zur Hand , wir liebten unsere Heimat genauso wie sie, und wir gingen bei jedem Angriff mutig vor; aber wir unterschieden jetzt, wir hatten mit einem Male sehen gelernt. Und wir sahen, dass nichts von ihrer Welt übrig blieb. Wir waren plötzlich auf furchtbare Weise allein; und wir mussten allein damit fertig werden.
* * *Bevor wir zu Kemmerich aufbrechen, packen wir seine Sachen ein; er wird sie unterwegs gut brauchen können.
Im Feldlazarett ist großer Betrieb*; es riecht wie immer nach Karbol, Eiter* und Schweiß. Man ist aus den Baracken manches gewohnt, aber hier kann einem doch flau* werden. Wir fragen uns nach Kemmerich durch; er liegt in einem Saal und empfängt uns mit einem schwachen Ausdruck von Freude und hilfloser Aufregung. Während er bewusstlos war, hat man ihm seine Uhr gestohlen.
Müller schüttelt den Kopf: »Ich habe dir ja immer gesagt, dass man eine so gute Uhr nicht mitnimmt.«
Müller ist etwas tapsig und rechthaberisch. Sonst würde er den Mund halten, denn jeder sieht, dass Kemmerich nicht mehr aus diesem Saal herauskommt. Ob er seine Uhr wiederfindet, ist ganz egal, höchstens, dass man sie nach Hause schicken könnte.
»Wie gehts denn, Franz?« fragt Kropp.
Kemmerich lässt den Kopf sinken. »Es geht ja ich habe bloß so verfluchte Schmerzen im Fuß.«
Wir sehen auf seine Decke. Sein Bein liegt unter einem Drahtkorb, das Deckbett wölbt sich dick darüber. Ich trete Müller gegen das Schienbein, denn er brächte es fertig, Kemmerich zu sagen, was uns die Sanitäter draußen schon erzählt haben: dass Kemmerich keinen Fuß mehr hat. Das Bein ist amputiert.
Er sieht schrecklich aus, gelb und fahl, im Gesicht sind schon die fremden Linien, die wir so genau kennen, weil wir sie schon hundertmal gesehen haben. Es sind eigentlich keine Linien, es sind mehr Zeichen. Unter der Haut pulsiert kein Leben mehr; es ist bereits herausgedrängt bis an den Rand des Körpers, von innen arbeitet sich der Tod durch, die Augen beherrscht er schon. Dort liegt unser Kamerad Kemmerich, der mit uns vor kurzem noch Pferdefleisch gebraten und im Trichter* gehockt hat; er ist es noch, und er ist es doch nicht mehr, verwaschen, unbestimmt ist sein Bild geworden, wie eine fotografische Platte, auf der zwei Aufnahmen gemacht worden sind. Selbst seine Stimme klingt wie Asche.
Ich denke daran, wie wir damals abfuhren. Seine Mutter, eine gute, dicke Frau, brachte ihn zum Bahnhof. Sie weinte ununterbrochen, ihr Gesicht war davon gedunsen und geschwollen. Kemmerich genierte sich deswegen, denn sie war am wenigsten gefasst von allen, sie zerfloss förmlich in Fett und Wasser. Dabei hatte sie es auf mich abgesehen, immer wieder ergriff sie meinen Arm und flehte mich an, auf Franz draußen achtzugeben. Er hatte allerdings auch ein Gesicht wie ein Kind und so weiche Knochen, dass er nach vier Wochen Tornistertragen* schon Plattfüße* bekam. Aber wie kann man im Felde auf jemand achtgeben!
»Du wirst ja nun nach Hause kommen«, sagt Kropp, »auf Urlaub hättest du mindestens noch drei, vier Monate warten müssen.«
Kemmerich nickt. Ich kann seine Hände nicht gut ansehen, sie sind wie Wachs. Unter den Nägeln sitzt der Schmutz des Grabens, er sieht blauschwarz aus wie Gift. Mir fällt ein, dass diese Nägel weiterwachsen werden, lange noch, gespenstische Kellergewächse, wenn Kemmerich längst nicht mehr atmet. Ich sehe das Bild vor mir: sie krümmen sich zu Korkenziehern und wachsen und wachsen, und mit ihnen die Haare auf dem zerfallenden Schädel, wie Gras auf gutem Boden, genau wie Gras, wie ist das nur möglich ?
Müller bückt sich. »Wir haben deine Sachen mitgebracht, Franz.«
Kemmerich zeigt mit der Hand. »Legt sie unters Bett.«
Müller tut es. Kemmerich fängt wieder von der Uhr an. Wie soll man ihn nur beruhigen, ohne ihn misstrauisch zu machen!
Müller taucht mit einem Paar Fliegerstiefel wieder auf. Es sind herrliche englische Schuhe aus weichem, gelbem Leder, die bis zum Knie reichen und ganz hinauf geschnürt werden, eine begehrte Sache. Müller ist von ihrem Anblick begeistert, er hält ihre Sohlen gegen seine eigenen klobigen Schuhe und fragt: »Willst du denn die Stiefel mitnehmen, Franz?«
Wir denken alle drei das gleiche: selbst wenn er gesund würde, könnte er nur einen gebrauchen, sie wären für ihn also wertlos. Aber wie es jetzt steht, ist es ein Jammer, dass sie hierbleiben; denn die Sanitäter werden sie natürlich sofort wegschnappen, wenn er tot ist.
Müller wiederholt: »Willst du sie nicht hier lassen?«
Kemmerich will nicht. Es sind seine besten Stücke.
»Wir können sie ja umtauschen«, schlägt Müller wieder vor, »hier draußen kann man so was brauchen.« Doch Kemmerich ist nicht zu bewegen.
Ich trete Müller auf den Fuß; er legt die schönen Stiefel zögernd wieder unter das Bett.
Wir reden noch einiges und verabschieden uns dann. »Machs gut, Franz.«
Ich verspreche ihm, morgen wiederzukommen. Müller redet ebenfalls davon; er denkt an die Schnürschuhe und will deshalb auf dem Posten sein.
Kemmerich stöhnt. Er hat Fieber. Wir halten draußen einen Sanitäter an und reden ihm zu, Kemmerich eine Spritze zu geben.
Er lehnt ab. »Wenn wir jedem Morphium geben wollten, müssten wir Fässer voll haben «
»Du bedienst wohl nur Offiziere«, sagt Kropp gehässig.
Rasch lege ich mich ins Mittel und gebe dem Sanitäter zunächst mal eine Zigarette. Er nimmt sie. Dann frage ich: »Darfst du denn überhaupt eine machen?«
Er ist beleidigt. »Wenn ihrs nicht glaubt, was fragt ihr mich «
Ich drücke ihm noch ein paar Zigaretten in die Hand. »Tu uns den Gefallen «
»Na, schön«, sagt er. Kropp geht mit hinein, er traut ihm nicht und will zusehen. Wir warten draußen.
Müller fängt wieder von den Stiefeln an.» Sie würden mir tadellos passen. In diesen Kähnen laufe ich mir Blasen über Blasen. Glaubst du, dass er durchhält bis morgen nach dem Dienst? Wenn er nachts abgeht, haben wir die Stiefel gesehen «
Albert kommt zurück. »Meint ihr ?« fragt er.
»Erledigt«, sagt Müller abschließend.
Wir gehen zu unsern Baracken zurück. Ich denke an den Brief, den ich morgen schreiben muss an Kemmerichs Mutter. Mich friert. Ich möchte einen Schnaps trinken. Müller rupft Gräser aus und kaut daran. Plötzlich wirft der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum, sieht sich um, mit einem aufgelösten und verstörten Gesicht, und stammelt: »Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße.«
Wir gehen weiter, eine lange Zeit. Kropp hat sich beruhigt, wir kennen das, es ist der Frontkoller*, jeder hat ihn mal. Müller fragt ihn: »Was hat dir der Kantorek eigentlich geschrieben?«
Er lacht: »Wir wären die eiserne Jugend.«
Wir lachen alle drei ärgerlich. Kropp schimpft; er ist froh, dass er reden kann.
Ja, so denken sie, so denken sie, die hunderttausend Kantoreks! Eiserne Jugend. Jugend! Wir sind alle nicht mehr als zwanzig Jahre. Aber jung? Jugend? Das ist lange her. Wir sind alte Leute.
Aufgaben zum Text
1. Wie verstehen Sie den Vorspruch zum Roman? Was nehmen Sie an, worum geht es im Roman?
2. Beschreiben Sie die neuen Freunde.
3. Wofür freueten sich die Freunde? Und warum war der Furier erschlagen?
4. Beschreiben Sie die Natur und das Wetter an jenem Tag. Welche Rolle spielt hier die Naturbeschreibung?
5. Was erfahren Sie über Kantorek?
6. Wer ist Behm? Warum wird sein Tod so ausführlich geschildert?
7. Wie hat der Krieg die Weltanschauung der achtzehnjährigen Jungen geändert?
8. Wie glauben Sie, warum nennen sich die Achtzehnjährigen alte Leute?
9. Warum ist im Roman die Episode mit Kemmerichs Stiefeln so ausführlich geschildert?
Texterläuterungen
Küchenbulle, der jemand, der das Essen für die Soldaten ausgibt, Koch
Gulaschkanone, die scherzhaft für die Küche
langen etwas ist in genügendem Maß vorhanden; etwas reicht aus, genügt
splendid freigebig
Furier, der der für die Verpflegung und Unterkunft sorgende Unteroffizier
Quantum, das die Menge von etwas, die angemessen ist
Langrohr, das Langrohrartellerie
dicke Brocken großkalibrige Geschosse
Gefreite, der ein Soldat mit dem zweitniedrigsten Rang
Puff, das / der (gesprochen) Bordell
Wanze, die ein flaches Insekt, das Pflanzensäfte oder das Blut von Menschen und Tieren saugt
Kommiss, der (veraltend, gesprochen, pejorativ) Militär(dienst)
Schwein haben (gespr.) Glück, das man nicht verdient hat
Kleinholz geben prügeln
Speckjäger, der Schimpfwort
platzen etwas platzt: etwas geht plötzlich (oft mit einem Knall) kaputt, meist weil der Druck im Inneren zu stark geworden ist
Latrine, die eine Toilette im Freien, bei der die Exkremente in eine Grube fallen
Verdauung, die das Verdauen der Nahrung (verdauen die Nahrung im Magen und im Darm auflösen, so dass der Körper sie aufnehmen kann)
entrüsten sich über etwas sehr ärgern (und diesen Ärger auch zeigen)
Flack, die Kurzform für die Flugzeugabwehrkanone
Garbe, die mehrere Schüsse (aus einer automatischen Schusswaffe), die rasch aufeinander folgen
Skat, der das beliebteste deutsche Kartenspiel für drei Personen
Nullouvert, der Null uffs Ferd, eine bestimmte Kombination von Karten beim Skatspiel (offenes Nullspiel)
Schieberamsch, der eine inoffizielle Variante des Kartenspiels Skat
Schinder, der jemand, der ein Tier quält, besonders indem man es sehr hart arbeiten lässt
parat so, dass man es (zur Hand) hat, wenn man es braucht; (griff)bereit
großer Betrieb die Aktivitäten und Arbeiten, die an einer Stelle oder in einer Institution ablaufen
Eiter, der eine dicke, gelbliche Flüssigkeit, die in infizierten Wunden entsteht
flau sein jemandem ist flau: jemand fühlt sich nicht wohl, ihm ist ein wenig übel oder schwindlig
Trichter, der ein großes Loch im Erdboden, das durch die Explosion einer Bombe entstanden ist
Tornister, der ein flaches Gepäckstück, das meist Soldaten auf dem Rücken tragen
Plattfuß, der ein Fuß, bei dem die ganze Sohle den Boden berührt, wenn man geht
Koller, der Wutanfall, Wutausbruch
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Es ist für mich sonderbar, daran zu denken, dass zu Hause, in einer Schreibtischlade, ein angefangenes Drama »Saul*« und ein Stoß* Gedichte liegen. Manchen Abend habe ich darüber verbracht, wir haben ja fast alle so etwas Ähnliches gemacht; aber es ist mir so unwirklich geworden, dass ich es mir nicht mehr richtig vorstellen kann.
Seit wir hier sind, ist unser früheres Leben abgeschnitten, ohne dass wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, einen Überblick und eine Erklärung dafür zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade für uns Zwanzigjährige ist alles besonders unklar, für Kropp, Müller, Leer, mich, für uns, die Kantorek als eiserne Jugend bezeichnet. Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind, dass der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjährigen aber haben nur unsere Eltern und manche ein Mädchen. Das ist nicht viel denn in unserm Alter ist die Kraft der Eltern am schwächsten, und die Mädchen sind noch nicht beherrschend. Außer diesem gab es ja bei uns nicht viel anderes mehr; etwas Schwärmertum*, einige Liebhabereien* und die Schule; weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben.