Dies ist der fassungsloseste und schwerste Abschied, den ich je gesehen habe, obwohl es bei Tiedjen auch schlimm war, der nach seiner Mutter brüllte, ein bärenstarker Kerl, und der den Arzt mit aufgerissenen Augen angstvoll mit einem Seitengewehr von seinem Bett fernhielt, bis er zusammenklappte.
Plötzlich stöhnt Kemmerich und fängt an zu röcheln. Ich springe auf, stolpere hinaus und frage: »Wo ist der Arzt? Wo ist der Arzt?«
Als ich den weißen Kittel sehe, halte ich ihn fest.
»Kommen Sie rasch, Franz Kemmerich stirbt sonst.«
Er macht sich los und fragt einen dabeistehenden Lazarettgehilfen: »Was soll das heißen?«
Der sagt: »Bett 26, Oberschenkel amputiert.«
Er schnauzt: »Wie soll ich davon etwas wissen, ich habe heute fünf Beine amputiert«, schiebt mich weg, sagt dem Lazarettgehilfen: »Sehen Sie nach«, und rennt zum Operationssaal.
Ich bebe vor Wut, als ich mit dem Sanitäter gehe. Der Mann sieht mich an und sagt: »Eine Operation nach der andern, seit morgens fünf Uhr doll, sage ich dir, heute allein wieder sechzehn Abgänge* deiner ist der siebzehnte. Zwanzig werden sicher noch voll «
Mir wird schwach, ich kann plötzlich nicht mehr. Ich will nicht mehr schimpfen, es ist sinnlos, ich möchte mich fallen lassen und nie wieder aufstehen.
Wir sind am Bette Kemmerichs. Er ist tot. Das Gesicht ist noch nass von den Tränen. Die Augen stehen halb offen, sie sind gelb wie alte Hornknöpfe.
Der Sanitäter stößt mich in die Rippen.
»Nimmst du seine Sachen mit?«
Ich nicke.
Er fährt fort: »Wir müssen ihn gleich wegbringen, wir brauchen das Bett. Draußen liegen sie schon auf dem Flur.«
Ich nehme die Sachen und knöpfe Kemmerich die Erkennungsmarke* ab. Der Sanitäter fragt nach dem Soldbuch*. Es ist nicht da.
Ich sage, dass es wohl auf der Schreibstube sein müsse, und gehe. Hinter mir zerren sie Franz schon auf eine Zeltbahn.
Vor der Tür fühle ich wie eine Erlösung das Dunkel und den Wind. Ich atme, so sehr ich es vermag, und spüre die Luft warm und weich wie nie in meinem Gesicht. Gedanken an Mädchen, an blühende Wiesen, an weiße Wolken fliegen mir plötzlich durch den Kopf. Meine Füße bewegen sich in den Stiefeln vorwärts, ich gehe schneller, ich laufe. Soldaten kommen an mir vorüber, ihre Gespräche erregen mich, ohne dass ich sie verstehe. Die Erde ist von Kräften durchflossen, die durch meine Fußsohlen in mich überströmen. Die Nacht knistert elektrisch, die Front gewittert dumpf wie ein Trommelkonzert. Meine Glieder bewegen sich geschmeidig, ich fühle meine Gelenke stark, ich schnaufe und schnaube. Die Nacht lebt, ich lebe. Ich spüre Hunger, einen größeren als nur vom Magen.
Müller steht vor der Baracke und erwartet mich. Ich gebe ihm die Schuhe. Wir gehen hinein, und er probiert sie an. Sie passen genau.
Er kramt in seinen Vorräten und bietet mir ein schönes Stück Zervelatwurst an. Dazu gibt es heißen Tee mit Rum.
Aufgaben zum Text
1. Warum ruiniert der Krieg in erster Linie junge Menschen?
2. Beweisen Sie, dass der Unteroffizier Himmelstoß der schärfste Schinder des Kasernenhofes war.
3. Sprechen Sie über die Ausbildungszeit der Freunde im Rekrutenlager. Worauf hat sie die Freunde vorbereitet?
4. Beschreiben Sie Franz Tod. Warum benimmt sich der Arzt so?
Texterläuterungen
Saul erster König des Reichs Israel
Stoß, der eine Menge von gleichen Dingen, die übereinander gelegt wurden
Schwärmer, der jemand, der nicht realistisch denkt, sondern sehr schnell von etwas begeistert ist; Fantast
Liebhaberei, die etwas, das jemand regelmäßig (nicht beruflich, sondern zu seinem Vergnügen) tut; Hobby
Schoppenhauer, Arthur deutscher Philosoph
Wichsbürste, die die Bürste, mit der man die Schuhcreme einreibt
Drill, der strenge, harte (körperliche) Ausbildung
Plato griechischer Philosoph
Goethe, Johann Wolfgang deutscher Dichter und Schriftsteller
Schikane, die eine Handlung (meist eines Vorgesetzten oder einer Behörde), durch die jemand unnötige Arbeit oder Schwierigkeiten bekommt
eine Nase für etwas haben (gespr.) die Fähigkeit zu wissen, was man tun muss, um etwas Bestimmtes zu erreichen; Riecher, Gespür
Korporal, der der niedrigste Unteroffiziersdienstgrad
friesische Fischer Fischer, Bewohner der Inselkette längs der Nordseeküste
Bajonett, das ein langes Messer, das auf den Lauf eines Gewehrs aufgesetzt wird
blindlings ohne vorher nachzudenken (besonders weil man große Angst oder Wut spürt)
Radau, der Lärm
Reck, das ein Turngerät, das aus einer waagerechten Stange (in ca. 2,50 m Höhe) und Stützen für diese Stange besteht
Stichling, der kleiner schuppenloser Fisch, der Vorderteil seiner Rückenflosse hat einzelne kräftige Stacheln
Abgang, der der Tod eines Menschen
Erkennungsmarke, die die Marke eines Soldaten, an der man ihn erkennt
Sold, der das Geld, das ein Soldat für seinen Dienst bekommt
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Wir bekommen Ersatz. Die Lücken werden ausgefüllt, und die Strohsäcke in den Baracken sind bald belegt. Zum Teil sind es alte Leute, aber auch fünfundzwanzig Mann junger Ersatz aus den Feldrekrutendepots werden uns überwiesen. Sie sind fast ein Jahr jünger als wir. Kropp stößt mich an: »Hast du die Kinder gesehen?«
Ich nicke. Wir werfen uns in die Brust, lassen uns auf dem Hof rasieren, stecken die Hände in die Hosentaschen, sehen uns die Rekruten an und fühlen uns als steinaltes Militär.
Katczinsky schließt sich uns an. Wir wandern durch die Pferdeställe und kommen zu den Ersatzleuten, die gerade Gasmasken und Kaffee empfangen. Kat fragt einen der jüngsten: »Habt wohl lange nichts Vernünftiges zu futtern gekriegt, was?«
Der verzieht das Gesicht. »Morgens Steckrübenbrot mittags Steckrübengemüse, abends Steckrübenkoteletts und Steckrübensalat.«
Katczinsky pfeift fachmännisch. »Brot aus Steckrüben? Da habt ihr Glück gehabt, sie machen es auch schon aus Sägespänen*. Aber was meinst du zu weißen Bohnen, willst du einen Schlag haben?«
Der Junge wird rot. »Verkohlen brauchst du mich nicht.«
Katczinsky antwortet nichts als: »Nimm dein Kochgeschirr.«
Wir folgen neugierig. Er führt uns zu einer Tonne neben seinem Strohsack. Sie ist tatsächlich halb voll weißer Bohnen mit Rindfleisch. Katczinsky steht vor ihr wie ein General und sagt: »Auge auf, Finger lang! Das ist die Parole bei den Preußen.«
Wir sind überrascht. Ich frage: »Meine Fresse, Kat, wie kommst du denn dazu?«
»Die Tomate war froh, als ich ihrs abnahm. Ich habe drei Stück Fallschirmseide dafür gegeben. Na, weiße Bohnen schmecken kalt doch tadellos.«
Er gibt gönnerhaft dem Jungen eine Portion auf und sagt: »Wenn du das nächstemal hier antrittst mit deinem Kochgeschirr, hast du in der linken Hand eine Zigarre oder einen Priem*. Verstanden?«
Dann wendet er sich zu uns. »Ihr kriegt natürlich so.«
* * *Katczinsky ist nicht zu entbehren, weil er einen sechsten Sinn hat. Es gibt überall solche Leute, aber niemand sieht ihnen von vornherein an, dass es so ist. Jede Kompanie hat einen oder zwei davon. Katczinsky ist der gerissenste, den ich kenne. Von Beruf ist er, glaube ich, Schuster, aber das tut nichts zur Sache, er versteht jedes Handwerk. Es ist gut, mit ihm befreundet zu sein. Wir sind es, Kropp und ich, auch Haie Westhus gehört halb und halb dazu. Er ist allerdings schon mehr ausführendes Organ, denn er arbeitet unter dem Kommando Kats, wenn eine Sache geschmissen wird, zu der man Fäuste braucht. Dafür hat er dann seine Vorteile.
Katczinsky ist nicht zu entbehren, weil er einen sechsten Sinn hat. Es gibt überall solche Leute, aber niemand sieht ihnen von vornherein an, dass es so ist. Jede Kompanie hat einen oder zwei davon. Katczinsky ist der gerissenste, den ich kenne. Von Beruf ist er, glaube ich, Schuster, aber das tut nichts zur Sache, er versteht jedes Handwerk. Es ist gut, mit ihm befreundet zu sein. Wir sind es, Kropp und ich, auch Haie Westhus gehört halb und halb dazu. Er ist allerdings schon mehr ausführendes Organ, denn er arbeitet unter dem Kommando Kats, wenn eine Sache geschmissen wird, zu der man Fäuste braucht. Dafür hat er dann seine Vorteile.
Wir kommen zum Beispiel nachts in einen völlig unbekannten Ort, ein trübseliges Nest, dem man gleich ansieht, dass es ausgepowert* ist bis auf die Mauern. Quartier ist eine kleine, dunkle Fabrik, die erst dazu eingerichtet worden ist. Es stehen Betten darin, vielmehr nur Bettstellen, ein paar Holzlatten, die mit Drahtgeflecht bespannt sind.
Drahtgeflecht ist hart. Eine Decke zum Unterlegen haben wir nicht, wir brauchen unsere zum Zudecken. Die Zeltbahn ist zu dünn.
Kat sieht sich die Sache an und sagt zu Haie Westhus: »Komm mal mit.« Sie gehen los, in den völlig unbekannten Ort hinein. Eine halbe Stunde später sind sie wieder da, die Arme hoch voll Stroh. Kat hat einen Pferdestall gefunden und damit das Stroh. Wir könnten jetzt warm schlafen, wenn wir nicht noch einen so entsetzlichen Kohldampf hätten.
Kropp fragt einen Artilleristen, der schon länger in der Gegend ist: »Gibt es hier irgendwo eine Kantine?«
Der lacht: »Hat sich was! Hier ist nichts zu holen. Keine Brotrinde holst du hier.«
»Sind denn keine Einwohner mehr da?«
Er spuckt aus. »Doch, ein paar. Aber die lungern selbst um jeden Küchenkessel herum und betteln.«
Das ist eine böse Sache. Dann müssen wir eben den Schmachtriemen* enger schnallen und bis morgen warten, wenn die Furage kommt.
Ich sehe jedoch, wie Kat seine Mütze aufsetzt, und frage: »Wo willst du hin, Kat?«
»Mal etwas die Lage spannen.« Er schlendert hinaus.
Der Artillerist grinst höhnisch. »Spann mal! Verheb dich nicht dabei.«
Enttäuscht legen wir uns hin und überlegen, ob wir die eisernen Portionen anknabbern sollen. Aber es ist uns zu riskant. So versuchen wir ein Auge voll Schlaf zu nehmen.
Kropp bricht eine Zigarette durch und gibt mir die Hälfte. Tjaden erzählt von seinem Nationalgericht, großen Bohnen mit Speck. Er verdammt die Zubereitung ohne Bohnenkraut. Vor allem aber soll man alles durcheinander kochen, um Gottes willen nicht die Kartoffeln, die Bohnen und den Speck getrennt. Jemand knurrte, dass er Tjaden zu Bohnenkraut verarbeiten würde, wenn er nicht sofort still wäre. Darauf wird es ruhig in dem großen Raum. Nur ein paar Kerzen flackern in den Flaschenhälsen, und ab und zu spuckt der Artillerist aus.
Wir duseln ein bisschen, als die Tür aufgeht und Kat erscheint. Ich glaube zu träumen: er hat zwei Brote unter dem Arm und in der Hand einen blutigen Sandsack mit Pferdefleisch.
Dem Artilleristen fällt die Pfeife aus dem Munde. Er betastet das Brot. »Tatsächlich, richtiges Brot, und noch warm.«
Kat redet nicht weiter darüber. Er hat eben Brot, das andere ist egal. Ich bin überzeugt, wenn man ihn in der Wüste aussetzte, würde er in einer Stunde ein Abendessen aus Datteln*, Braten und Wein zusammenfinden.
Er sagt kurz zu Haie: »Hack Holz.«
Dann holt er eine Bratpfanne unter seinem Rock hervor und zieht eine Handvoll Salz und sogar eine Scheibe Fett aus der Tasche; er hat an alles gedacht. Haie macht auf dem Fußboden ein Feuer. Es prasselt durch die kahle Fabrikhalle. Wir klettern aus den Betten.
Der Artillerist schwankt. Er überlegt, ob er loben soll, damit vielleicht auch etwas für ihn abfällt. Aber Katczinsky sieht ihn gar nicht, so sehr ist er Luft für ihn*. Da zieht er fluchend ab.
Kat kennt die Art, Pferdefleisch weichzubraten. Es darf nicht gleich in die Pfanne, dann wird es hart. Vorher muss es in wenig Wasser vorgekocht werden. Wir hocken uns mit unsern Messern im Kreis und schlagen uns den Magen voll.
Das ist Kat. Wenn in einem Jahr in einer Gegend nur eine Stunde lang etwas Essbares aufzutreiben wäre, so würde er genau in dieser Stunde, wie von einer Erleuchtung getrieben, seine Mütze aufsetzen, hinausgehen, geradewegs wie nach einem Kompass darauf zu, und es finden.
Er findet alles; wenn es kalt ist, kleine Ofen und Holz, Heu und Stroh, Tische, Stühle vor allem aber Fressen. Es ist rätselhaft, man sollte glauben, er zaubere es aus der Luft. Seine Glanzleistung waren vier Dosen Hummer. Allerdings hätten wir lieber Schmalz dafür gehabt.
* * *Wir haben uns auf der Sonnenseite der Baracken hingehauen. Es riecht nach Teer, Sommer und Schweißfüßen.
Kat sitzt neben mir, denn er unterhält sich gern. Wir haben heute mittag eine Stunde Ehrenbezeigungen geübt, weil Tjaden einen Major nachlässig gegrüßt hat. Das will Kat nicht aus dem Kopf. Er äußert: »Pass auf, wir verlieren den Krieg, weil wir zu gut grüßen können.«
Kropp storcht näher, barfuß, die Hosen aufgekrempelt. Er legt seine gewaschenen Socken zum Trocknen aufs Gras. Kat sieht in den Himmel, lässt einen kräftigen Laut hören und sagt versonnen dazu: »Jedes Böhnchen gibt ein Tönchen.«
Die beiden fangen an zu disputieren. Gleichzeitig wetten sie um eine Flasche Bier auf einen Fliegerkampf, der sich über uns abspielt.
Kat lässt sich nicht von seiner Meinung abbringen, die er als altes Frontschwein wieder in Reimen von sich gibt: »Gleiche Löhnung, gleiches Essen, war der Krieg schon längst vergessen.«
Kropp dagegen ist ein Denker. Er schlägt vor, eine Kriegserklärung solle eine Art Volksfest werden mit Eintrittskarten und Musik wie bei Stiergefechten. Dann müssten in der Arena die Minister und Generäle der beiden Länder in Badehosen, mit Knüppeln bewaffnet, aufeinander losgehen. Wer übrigbliebe, dessen Land hätte gesiegt. Das wäre einfacher und besser als hier, wo die falschen Leute sich bekämpfen.
Der Vorschlag gefällt. Dann gleitet das Gespräch auf den Kasernendrill über.
Mir fällt dabei ein Bild ein. Glühender Mittag auf dem Kasernenhof. Die Hitze steht über dem Platz. Die Kasernen wirken wie ausgestorben. Alles schläft. Man hört nur Trommler üben, irgendwo haben sie sich aufgestellt und üben, ungeschickt, eintönig, stumpfsinnig. Welch ein Dreiklang: Mittagshitze, Kasernenhof und Trommelüben!
Die Fenster der Kaserne sind leer und dunkel. Aus einigen hängen trocknende Drillichhosen*. Man sieht sehnsüchtig hinüber. Die Stuben sind kühl.
Oh, ihr dunklen, muffigen Korporalschaftsstuben mit den eisernen Bettgestellen, den gewürfelten Betten, den Spindschränken und den Schemeln davor! Selbst ihr könnt das Ziel von Wünschen werden; hier draußen seid ihr sogar ein sagenhafter Abglanz von Heimat, ihr Gelasse voll Dunst von abgestandenen Speisen, Schlaf, Rauch und Kleidern!
Katczinsky beschreibt sie mit Farbenpracht und großer Bewegung. Was würden wir geben, wenn wir zu ihnen zurück könnten! Denn weiter wagen sich unsre Gedanken schon gar nicht
Ihr Instruktionsstunden in der Morgenfrühe »Worin zerfällt das Gewehr 98?« ihr Turnstunden am Nachmittag »Klavierspieler vortreten. Rechts heraus. Meldet euch in der Küche zum Kartoffelschälen«
Wir schwelgen in Erinnerungen. Kropp lacht plötzlich und sagt: »In Löhne umsteigen.«
Das war das liebste Spiel unseres Korporals. Löhne ist ein Umsteigebahnhof. Damit unsre Urlauber sich dort nicht verlaufen sollten, übte Himmelstoß das Umsteigen mit uns in der Kasernenstube. Wir sollten lernen, dass man in Löhne durch eine Unterführung zum Anschlusszug gelangte. Die Betten stellten die Unterführung dar, und jeder baute sich links davon auf. Dann kam das Kommando: »In Löhne umsteigen!«, und wie der Blitz kroch alles unter den Betten hindurch auf die andere Seite. Das haben wir stundenlang geübt.