Der Dicke fing an zu bieten. Steiner legte seine Karten hin und ging zögernd mit. Der Schwarze verdoppelte. Bei hundertzehn Schilling schied er aus. Der Dicke trieb das Spiel auf hundertfünfzig. Steiner hielt es. Er war nicht ganz sicher. Dass der Dicke vier Könige hatte, wusste er. Nur die letzte Karte kannte er nicht. Wenn es der Joker war, war Steiner verloren.
Der Schmächtige zappelte auf seinem Sitz. Darf man mal sehen? Er wollte nach Steiners Karten greifen.
Nein. Steiner legte die Hand auf seine Karten. Er war erstaunt über diese naive Frechheit. Der Schmächtige hätte sofort dem Dicken Steiners Blatt mit dem Fuß telegrafiert.
Der Dicke wurde unsicher. Steiner war so vorsichtig bisher gewesen, dass er ein schweres Blatt haben musste. Steiner merkte es und erhöhte schärfer. Bei hundertachtzig hörte der Dicke auf. Er legte vier Könige auf den Tisch. Steiner atmete auf und drehte seine vier Asse um.
Der Schmächtige stieß einen Pfiff aus. Dann wurde es sehr still, während Steiner das Geld einsteckte.
Wir spielen noch eine Runde, sagte plötzlich der Schwarze hart.
Tut mir leid, sagte Steiner.
Wir spielen noch eine Runde, wiederholte der Schwarze und schob das Kinn vor. Steiner stand auf. Das nächstemal.
Er ging zur Theke und zahlte. Dann schob er dem Wirt eine zusammengefaltete Hundertschillingnote hin. Geben Sie das bitte Fred.
Der Wirt hob überrascht die Brauen. Fred?
Ja.
Gut. Der Wirt grinste, reingefallen, die Brüder! Wollten einen Schellfisch fangen und sind an einen Hai gekommen.
Die drei standen an der Tür. Wir spielen noch eine Runde, sagte der Schwarze und versperrte den Ausgang. Steiner sah ihn an.
So geht das nicht, Herr Nachbar, meckerte der Schmächtige. Ausgeschlossen[27], Sir!
Wir brauchen uns wohl nichts vorzumachen, sagte Steiner. Krieg ist Krieg. Man muss auch mal verlieren können.
Wir nicht, erwiderte der Schwarze. Wir spielen noch eine Runde.
Oder Sie geben raus, was Sie gewonnen haben, fügte der Dicke hinzu.
Steiner schüttelte den Kopf. Es war ein ehrliches Spiel, sagte er mit einem ironischen Lächeln. Sie wussten, was Sie wollten, und ich wusste, was ich wollte. Guten Abend.
Er versuchte, zwischen dem Schwarzen und dem Schmächtigen hindurchzukommen. Dabei fühlte er die Muskelstränge des Schwarzen.
In diesem Augenblick kam der Wirt. Keinen Radau[28] in meinem Lokal, meine Herren!
Ich will auch keinen, sagte Steiner. Ich will gehen.
Wir gehen mit, sagte der Schwarze.
Der Schmächtige und der Schwarze gingen voran, dann kam Steiner und hinter ihm der Dicke. Steiner wusste, dass nur der Schwarze gefährlich war. Es war ein Fehler, dass er voranging. Im Moment, als er die Tür passierte, trat Steiner nach hinten aus, dem Dicken in den Bauch, und schlug dem Schwarzen die geballte Faust mit aller Kraft wie einen Hammer ins Genick, so dass er die Stufen hinunter gegen den Schmächtigen taumelte. Mit einem Satz sprang er dann hinaus und raste die Straße entlang, ehe die andern sich erholt hatten. Er wusste, dass es seine einzige Chance war, denn auf der Straße hätte er gegen drei Mann nichts mehr machen können. Er hörte Geschrei und sah sich im Laufen um aber niemand folgte ihm. Sie waren zu überrascht gewesen.
Er ging langsamer und kam allmählich in belebtere Straßen. Vor dem Spiegel eines Modegeschäftes blieb er stehen und sah sich an. Falschspieler und Betrüger, dachte er. Aber ein halber Pass Er nickte sich zu und ging weiter.
5
Kern saß auf der Mauer des alten jüdischen Friedhofs und zählte im Schein einer Straßenlaterne sein Geld. Er hatte den ganzen Tag in der Gegend des Heiligenkreuzberges gehandelt. Es war ein armes Viertel; aber Kern wusste, dass Armut mildtätig ist und nicht nach Polizei ruft. Er hatte achtundreißig Kronen verdient. Es war ein guter Tag gewesen.
Er steckte sein Geld ein und versuchte, auf dem verwitterten Grabstein, der schief neben ihm an der Mauer lehnte, den Namen zu entziffern. Rabbi Israel Löw, sagte er dann, gestorben in verwischten Zeiten, sicher hochgelehrt einst und nun ein bisschen Knochenerde da unten was meinst du, was soll ich jetzt tun? Nach Hause gehen, zufrieden sein oder versuchen, zu spekulieren und auf fünfzig Kronen Verdienst zu kommen?
Er zog ein Fünfkronenstück hervor. Es ist dir ziemlich gleichgültig, Alter, was? Fragen wir also das Schicksal der Emigranten, den Zufall. Kopf ist Zufriedenheit, Schrift Weiterhandeln.
Er wirbelte das Geldstück hoch und fing es auf. Es rollte aus seiner Hand und fiel auf das Grab. Kern kletterte über die Mauer und hob es vorsichtig hoch. Schrift! Auf deinem Grab! Du selbst rätst mir also ebenfalls dazu, Rabbi! Dann aber los! Er ging auf das nächste Haus zu, als wollte er eine Festung stürmen.
Im Parterre öffnete niemand. Kern wartete eine Zeitlang, dann stieg er die Treppen hinauf. In der ersten Etage kam ein hübsches Dienstmädchen heraus. Es sah seine Tasche, verzog die Lippen und machte schweigend die Tür wieder zu.
Kern stieg zur zweiten Etage empor. Nach zweimaligem Klingeln erschien dort ein Mann mit offenstehender Weste in der Tür. Kern hatte kaum angefangen zu sprechen, als der Mann ihn empört unterbrach. Toilettewasser? Parfüm? So eine Frechheit! Können Sie nicht lesen, Mensch? Mir, dem Generalvertreter von Andrea-Parfümerieartikeln, ausgerechnet mir wagen Sie Ihren Mist anzubieten? raus!
Er schmiss die Tür zu. Kern zündete ein Streichholz an und studierte das Messingschild an der Tür. Es war Tatsache; Josef Schimek handelte selbst en gros mit Parfüm, Toilettewasser und Seife. Kern schüttelte den Kopf. Rabbi Israel Löw, murmelte er. Was heißt das? Sollten wir uns missverstanden haben?
Er klingelte in der dritten Etage. Eine freundliche, dicke Frau öffnete. Kommen Sie nur herein, sagte sie gutmütig, als sie ihn sah. Deutscher, nicht wahr? Flüchtling? Kommen Sie nur herein!
Kern folgte ihr in die Küche. Setzen Sie sich, sagte die Frau, Sie sind doch sicher müde.
Nicht sehr.
Es war das erstemal in Prag, dass man Kern einen Stuhl anbot. Er nutzte die seltene Gelegenheit aus und setzte sich. Entschuldige, Rabbi, dachte er, ich war voreilig. Entschuldige, ich bin jung, Rabbi Israel. Dann packte er seine Tasche aus.
Die dicke Frau stand behäbig, mit über dem Magen gekreuzten Armen, vor ihm und sah ihm zu. Ist das Parfüm? fragte sie und zeigte auf eine kleine Flasche.
Ja. Kern hatte eigentlich erwartet, dass sie sich für Seife interessieren würde. Er hielt die Flasche hoch wie einen kostbaren Edelstein. Das hier ist das berühmte Farr-Parfüm der Firma Kern. Etwas ganz Besonderes! Nicht so eine Lauge wie zum Beispiel die Produkte der Andreawerke, die Herr Schimek unter uns vertritt.
Soso
Kern öffnete die Flasche und ließ die Frau riechen. Dann nahm er ein Glasstäbchen und strich es über ihre fette Hand. Versuchen Sie selbst
Die Frau schnupperte ihre Hand ab und nickte. Scheint gut zu sein. Aber haben Sie nur so kleine Flaschen?
Hier ist eine größere. Dann habe ich noch eine, die ist sehr groß. Die hier. Sie kostet allerdings vierzig Kronen.
Das macht nichts. Die große ist richtig, die behalte ich.
Kern glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Das waren bare achtzehn Kronen Verdienst. Wenn Sie die große Flasche nehmen, gebe ich Ihnen noch ein Stück Mandelseife gratis dazu, erklärte er begeistert.
Schön, Seife kann man immer gebrauchen.
Die Frau nahm die Flasche und die Seife und ging in ein Nebenzimmer. Kern packte inzwischen seine Sachen wieder ein. Aus der halboffenen Tür drang der Geruch von gekochtem Fleisch. Er beschloss, sich nachher ein erstklassiges Abendessen zu gönnen. Die Suppe aus der Mensa am Wenzelsplatz machte nicht satt.
Die Frau kam zurück. Also schönen Dank und auf Wiedersehen, sagte sie freundlich. Hier haben Sie auch ein Butterbrot auf den Weg!
Danke. Kern blieb stehen und wartete.
Ist noch was? fragte die Frau.
Ja, natürlich, Kern lachte, Sie haben mir das Geld noch nicht gegeben.
Das Geld? Was für Geld?
Die vierzig Kronen, sagte Kern erstaunt.
Ach so! Anton! rief die Frau ins Nebenzimmer hinein. Komm doch mal her! Hier fragt einer nach Geld!
Ein Mann in Hosenträgern kam aus dem Nebenzimmer. Er wischte sich den Schnurrbart und kaute. Kern sah, dass er über dem verschwitzten Hemd eine Hose mit Litzen trug, und eine böse Ahnung stieg plötzlich in ihm auf. Geld? fragte der Mann heiser und bohrte in seinem Ohr.
Vierzig Kronen, erwiderte Kern. Aber geben Sie mir lieber einfach die Flasche zurück, wenn es Ihnen zuviel ist. Die Seife können Sie dann behalten.
Soso! Der Mann kam näher heran. Er roch nach altem Schweiß und gekochtem frischem Schweinebauch. Komm mal mit, mein Sohn! Er ging und öffnete die Tür zum Nebenzimmer weiter. Kennst du das da? Er zeigte auf einen Uniformrock, der über einem Stuhl hing. Soll ich das mal anziehen und mit dir zur Polizei gehen?
Kern trat einen Schritt zurück. Er sah sich bereits vierzehn Tage im Gefängnis wegen verbotenen Handels. Ich habe eine Aufenthaltserlaubnis, sagte er so gleichgültig, wie er konnte. Ich kann sie Ihnen zeigen.
Zeig mir lieber deine Arbeitserlaubnis, erwiderte der Mann und starrte Kern an. Die habe ich im Hotel.
Dann können wir ja mal zum Hotel gehen. Oder soll die Flasche nicht doch lieber ein Geschenk sein, wie?
Meinetwegen. Kern sah sich nach der Tür um.
Hier, nehmen Sie doch Ihr Butterbrot mit, sagte die Frau mit breitem Lächeln.
Danke, das brauche ich nicht. Kern öffnete die Tür.
Sieh einer an! Undankbar ist er auch noch!
Kern schlug die Tür hinter sich zu und ging rasch die Treppen hinunter. Er hörte nicht das donnernde Gelächter, das seiner Flucht folgte. Großartig, Anton! prustete die Frau. Hast du gesehen, wie er türmte? Als wenn er Bienen in der Hose hätte. Noch schneller als der alte Jude heute nachmittag. Der hat dich bestimmt für n Polizeihauptmann gehalten und sah sich schon im Kasten!
Anton schmunzelte. Haben eben alle Angst vor jeder Uniform! Selbst wenn sie einem Briefträger gehört. Unser Vorteil! Wir leben nicht schlecht von den Emigranten, was? Er griff der Frau an die Brüste.
Das Parfüm ist gut. Sie drängte sich an ihn. Besser als das Haarwasser von dem alten Juden heute nachmittag.
Anton zog sich die Hose hoch. Da schmiere dich heute Abend damit ein; dann habe ich eine Gräfin im Bett. Ist noch Fleisch im Topf?
Kern stand auf der Straße. Rabbi Israel Löw, sagte er ziemlich jämmerlich zum Friedhof hinüber. Sie haben mich reingelegt. Vierzig Kronen. Dreiundvierzig sogar mit dem Stück Seife. Das sind vierundzwanzig Nettoverlust.
Er ging zum Hotel zurück. War jemand für mich da? fragte er den Portier.
Der schüttelte den Kopf. Kein Mensch.
Bestimmt nicht?
Nein. Nicht mal der Präsident der Tschechoslowakei.
Auf den warte ich auch nicht, sagte Kern.
Er stieg die Treppen hinauf. Es war sonderbar, dass er von seinem Vater nichts hörte. Vielleicht war er wirklich nicht da; oder er war inzwischen von der Polizei gefasst worden.
Er beschloss, noch ein paar Tage zu warten und dann noch einmal in die Wohnung der Frau Ekowski zu gehen.
Oben in seinem Zimmer traf er den Mann, der nachts schrie. Er hieß Rabe. Er war gerade dabei sich auszuziehen.
Wollen Sie schon zu Bett? fragte Kern. Vor neun schon?
Rabe nickte. Es ist das Vernünftigste für mich. Ich schlafe dann bis zwölf. Das ist die Zeit, wo ich jede Nacht hochfahre. Um Mitternacht kamen sie gewöhnlich, wenn man im Bunker saß. Dann setze ich mich zwei Stunden ans Fenster. Hinterher nehme ich ein Schlafmittel. So komme ich ganz gut durch.
Er stellte ein Glas Wasser neben sein Bett. Wissen Sie, was mich am meisten beruhigt, wenn ich nachts am Fenster sitze? Ich sage mir Gedichte auf. Alte Gedichte aus der Schule.
Gedichte? fragte Kern erstaunt.
Ja, ganz einfache. Zum Beispiel dieses, das man abends bei Kindern singt:
Müde bin ich, geh zur Ruh,
Schließe meine Augen zu,
Vater, lass die Augen dein
Über meinem Bette sein.
Hab ich Unrecht heut getan,
Sieh es, lieber Gott, nicht an.
Deine Gnad und Jesu Blut
Machen alle Sünden gut
Er stand in seinem weißen Unterzeug wie ein müdes, freundliches Gespenst im halbdunklen Zimmer und sprach die Verse des Wiegenliedes langsam, mit monotoner Stimme vor sich hin, die erloschenen Augen in die Nacht vor dem Fenster gerichtet.
Es beruhigt mich, wiederholte er dann und lächelte. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es beruhigt mich.
Kann sein, sagte Kern.
Es klingt verrückt, aber es beruhigt mich wirklich. Ich fühle mich dann still und als wäre ich irgendwo zu Hause.
Kern wurde unbehaglich zumute. Er spürte etwas wie eine Gänsehaut. Ich kann keine Gedichte auswendig, sagte er. Ich habe alles vergessen. Mir ist, als wäre es eine Ewigkeit her, seit ich in der Schule war.
Ich wusste es auch nicht mehr. Aber jetzt auf einmal kann ich mich an alles erinnern.
Kern nickte. Dann stand er auf. Er wollte aus dem Zimmer raus. Rabe konnte dann schlafen, und er brauchte nicht mehr an ihn zu denken.
Wenn man nur wüßte, was man abends machen soll! sagte er. Abends, das ist immer das Verfluchte. Zu lesen habe ich schon lange nichts mehr. Und unten zu sitzen und zum hundertsten Male darüber zu reden, wie schön es in Deutschland war, und wann es wohl anders werden wird, dazu habe ich auch keine Lust.
Rabe setzte sich auf sein Bett. Gehen Sie ins Kino. Das ist das beste, um einen Abend rumzukriegen. Man weiß nachher nicht mehr, was man gesehen hat; aber man hat wenigstens an nichts gedacht.
Er zog die Strümpfe aus. Kern sah ihm nachdenklich zu. Kino, sagte er. Ihm fiel ein, dass er vielleicht das Mädchen von nebenan dazu einladen könnte. Kennen Sie die Leute hier im Hotel? fragte er.
Rabe legte die Strümpfe auf einen Stuhl und bewegte seine nackten Zehen. Ein paar. Warum? Er blickte seine Zehen an, als hätte er sie noch nie gesehen.
Hier nebenan die?
Rabe dachte nach. Da wohnt die alte Schimanowska. Sie war vor dem Kriege eine berühmte Schauspielerin.
Die meine ich nicht.
Er meint Ruth Holland, ein junges, hübsches Mädchen, sagte der Mann mit der Brille, der als dritter im Zimmer wohnte. Er hatte schon eine Weile in der Tür gestanden und zugehört. Er hieß Marill und war ehemaliger Reichstagsabgeordneter. Nicht wahr, Kern, Don Juan, so ist es doch?
Kern errötete.
Sonderbar, fuhr Marill fort. Bei den natürlichsten Sachen errötet der Mensch. Bei den gemeinen nie. Wie war das Geschäft heute, Kern?