Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке - Эрих Мария Ремарк 7 стр.


Ich war aufgestanden, um ihren Blick zu fangen. Zu winken wagte ich nicht. Es waren noch zu viele Leute da; in der Kirche hätte so etwas Aufsehen erregt. Sie lebt, war mein erster Gedanke. Sie ist nicht tot und nicht krank! Sonderbar, dass man das immer zuerst denkt in unserer Situation! Man ist so überrascht, dass etwas noch so ist wie früher dass jemand noch da ist.

Sie ging weiter, rasch, zum Chor hinauf. Ich drängte mich aus meiner Bank und folgte ihr. Vor der Kommunionbank* blieb sie stehen und drehte sich um. Sie musterte aufmerksam die Leute, die noch in den Bänken knieten, und kam langsam den Gang wieder zurück. Ich blieb stehen. Sie war so überzeugt, mich irgendwo in den Bänken zu finden, dass sie dicht an mir vorüberging und mich fast streifte. Ich folgte ihr. Helen, sagte ich, als sie aufs neue stehenblieb, dicht hinter ihr.,,Dreh dich nicht um! Geh hinaus! Ich werde dir folgen. Man darf uns hier nicht sehen.

Sie zuckte, als hätte ich sie geschlagen, und ging dann weiter. Weshalb war sie nur hierhergekommen? Wir waren in großer Gefahr, erkannt zu werden. Aber ich selbst hatte ja auch nicht gewusst, dass so viele Menschen hier sein würden. Ich sah sie vor mir hergehen; aber ich spürte nichts als Sorge, so rasch wie möglich aus der Kirche zu entkommen. Sie trug ein schwarzes Kostüm und einen sehr kleinen Hut und hielt ihren Kopf sehr aufrecht und etwas schräg, als lausche sie auf meine Fußtritte. Ich blieb einige Schritte zurück, so weit, dass ich sie gerade noch sehen konnte; ich hatte öfter erfahren, dass man nur deshalb erkannt wurde, weil man so nahe bei jemand anderem stand.

Sie ging an den steinernen Weihwasserbecken* vorbei durch das große Eingangsportal und bog sofort nach links. Am Dom entlang führte ein breiter, mit Steinplatten gepflasterter Weg, der durch eiserne Ketten zwischen Sandsteinpfählen vom großen Domplatz abgetrennt war. Sie sprang über die Ketten, ging einige Schritte in das Dunkel, blieb stehen und drehte sich um. Ich kann nicht erklären, was ich in diesem Augenblick empfand. Wenn ich sage, dass mir so war, als ginge mein ganzes Leben dort vor mir her, scheinbar weg von mir, und drehe sich plötzlich um und sähe mich an so ist das wieder ein Klischee, und es ist wahr und nicht wahr, aber trotzdem fühlte ich es, doch das war nicht alles, was ich fühlte. Ich ging auf Helen zu, auf ihre schmale, dunkle Gestalt, auf ihr bleiches Gesicht und auf ihre Augen und ihren Mund, und ich ließ alles hinter mir, was gewesen war. Die Zeit, in der wir nicht zusammen gewesen waren, versank nicht; sie blieb, aber wie etwas, das ich gelesen hatte, nicht erlebt.

Wo kommst du her? fragte Helen, fast feindselig, bevor ich sie erreicht hatte.

Aus Frankreich.

Haben sie dich hereingelassen?

Nein. Ich bin schwarz über die Grenze gekommen.

Es waren fast dieselben Fragen, die Martens gestellt hatte.

Warum? fragte sie.

Um dich zu sehen.

Du hättest nicht kommen sollen!

Ich weiß. Ich habe mir das jeden Tag gesagt.

Und warum bist du gekommen?

Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier.

Ich wagte nicht, sie zu küssen. Sie stand dicht vor mir, aber so starr, als könne sie zerbrechen, wenn man sie berührte. Ich wusste nicht, was sie dachte, aber ich hatte sie wiedergesehen, sie lebte, und nun konnte ich gehen oder dem entgegensehen, was käme.

Du weißt es nicht? fragte sie.

Ich werde es morgen wissen. Oder in einer Woche. Oder später.

Ich sah sie an. Was war zu wissen? Wissen war ein bisschen Schaum, der über eine Woge tanzt. Jeder Wind konnte ihn wegblasen; aber die Woge blieb.

Du bist gekommen, sagte sie, und ihr Gesicht verlor die Starre, es wurde sanft, und sie trat einen Schritt naher. Ich hielt sie bei den Armen, und ihre Hände waren gegen meine Brust gepresst, als wolle sie mich noch abwehren. Ich hatte das Gefühl, als ständen wir lange Zeit so einander gegenüber auf dem schwarzen, windigen Domplatz, allein, während der Straßenlärm uns nur, wie durch eine dämpfende Glaswand entfernt, matt erreichte. Links, etwa hundert Schritte entfernt, lag, der Querseite des Platzes gegenüber, das hellerleuch tete Stadttheater mit seinen weißen Stufen, und ich weiß noch, dass ich mich einen Augenblick vage darüber wunderte, dass man dort noch spielte und nicht schon eine Kaserne oder ein Gefängnis daraus gemacht hatte. Eine Gruppe von Leuten kam an uns vorbei. Jemand lachte, und einige sahen sich nach uns um.

Komm, flüsterte Helen. Wir können nicht hier bleiben.

Wohin sollen wir gehen?

In deine Wohnung.

Ich glaubte nicht recht gehört zu haben.

Wohin? fragte ich noch einmal.

In deine Wohnung. Wohin sonst?

Man kann mich auf der Treppe erkennen! Wohnen nicht dieselben Leute wie früher noch in dem Haus?

Man wird dich nicht sehen.

Und das Mädchen?

Ich werde es für den Abend wegschicken.

Und morgen früh?

Helen sah mich an. Bist du von so weit gekommen, um mich alles das zu fragen?

Ich bin nicht gekommen, um gefasst zu werden und dich in ein Lager zu bringen, Helen.

Sie lächelte plötzlich. Josef, sagte sie. Du hast dich nicht verändert. Wie bist du nur hierhergekommen?

Das weiß ich auch nicht, erwiderte ich und musste selbst lächeln. Die Erinnerung daran, dass sie das früher manchmal, halb zornig, halb verzweifelt, über meine Umständlichkeit gesagt hatte, wischte die Gefahr auf einmal weg. Aber ich bin da, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf, und ich sah, dass ihre Augen voll Tränen waren. Noch nicht, erwiderte sie. Noch nicht! Und nun komm, oder man wird uns tatsächlich verhaften, weil es aussieht, als mache ich dir eine Szene.

Wir gingen über den Platz. Ich kann doch nicht sofort mit dir kommen, sagte ich. Du musst dein Mädchen doch vorher wegschicken! Ich habe ein Zimmer in einem Hotel in Münster genommen. Man kennt mich da nicht. Ich wollte dort wohnen.

Sie blieb stehen. Wie lange?

Das weiß ich nicht, erwiderte ich. Ich habe nie weiter denken können, als dass ich dich sehen wollte und dass ich danach irgendwie zurück müsste.

Über die Grenze?

Wohin sonst, Helen?

Sie senkte den Kopf und ging weiter. Ich dachte daran, dass ich nun sehr glücklich sein sollte, aber ich fühlte es nicht so. Wirklich fühlt man es wohl immer erst später. Jetzt jetzt weiß ich, dass ich es war.

* * *

Ich muss mit Martens telefonieren, sagte ich. Du kannst das von deiner Wohnung aus tun, erwiderte Helen. Es traf mich jedesmal, wenn sie deine Wohnung sagte. Sie tat es absichtlich. Ich wusste nicht, weshalb.

Ich habe Martens versprochen, ihn in einer Stunde anzurufen, sagte ich. Das ist jetzt. Wenn ich es nicht tue, glaubt er, es sei etwas passiert. Vielleicht tut er dann etwas Unvorsichtiges.

Er weiß, dass ich dich abhole.

Ich blickte auf die Uhr. Es war schon eine Viertelstunde später, als ich anrufen wollte. Ich kann es von der nächsten Kneipe aus tun, sagte ich. Es dauert nur eine Minute.

Mein Gott, Josef! sagte Helen zornig. Du hast dich wirklich nicht geändert. Du bist noch pedantischer geworden.

Dies ist keine Pedanterie. Es ist Erfahrung. Ich habe zu oft gesehen, wieviel Unheil passieren kann, wenn man Kleinigkeiten vernachlässigt. Und ich weiß zu genau, was Warten heißt, unter Gefahr. Ich nahm ihren Arm. Ohne Pedanterie dieser Art wäre ich nicht mehr am Leben, Helen.

Sie drückte heftig meinen Arm. Ich weiß, murmelte sie. Siehst du denn nicht, dass ich fürchte, es würde etwas passieren, wenn ich dich jetzt nur noch eine Minute allein lasse?

Sie drückte heftig meinen Arm. Ich weiß, murmelte sie. Siehst du denn nicht, dass ich fürchte, es würde etwas passieren, wenn ich dich jetzt nur noch eine Minute allein lasse?

Ich spürte alle Wärme der Welt. Nichts wird passieren, Helen. Auch daran kann man glauben. Mit aller Pedanterie.

Sie lächelte und hob ihr blasses Gesicht. Geh nun telefonieren! Aber nicht in einer Kneipe. Drüben ist ein Telefonstand. Man hat ihn hingebaut, während du fort warst. Er ist sicherer als eine Kneipe.

Ich ging in die Glaskabine. Helen blieb draußen. Ich rief Martens an. Die Nummer war besetzt. Ich wartete einige Zeit und rief wieder an. Das Nickelstück fiel scheppernd zurück; die Nummer war immer noch besetzt. Ich wurde unruhig. Durch das Glas sah ich Helen draußen aufmerksam hin und her gehen. Ich machte ihr ein Zeichen, aber sie sah mich nicht. Sie beobachtete die Straße, den Hals gereckt, spähend, ohne es zu sehr zeigen zu wollen, Wärter und Schutzengel zugleich, in einem sehr gut sitzenden Kostüm, wie ich jetzt bemerkte. Ich sah auch, während ich wartete, dass ihr Mund mit Lippenstift nachgezogen war. Im gelben Licht wirkte er fast schwarz. Mir fiel ein, dass Schminke und Lippenstift im neuen Deutschland unerwünscht waren.

Beim dritten Anruf erreichte ich Martens. Meine Frau hat telefoniert, sagte er. Fast eine halbe Stunde. Ich konnte sie nicht unterbrechen. Über Kleider, Krieg und Kinder. Wo ist sie jetzt?

In der Küche. Ich musste sie reden lassen. Du verstehst?

Ja. Alles in Ordnung. Ich danke dir, Rudolf. Vergiss alles.

Wo bist du?

Auf der Straße. Ich danke dir, Rudolf. Ich brauche weiter nichts mehr. Ich habe alles gefunden. Wir sind zusammen.

Ich sah durch die Scheibe auf Helen und wollte den Hörer niederlegen. Weißt du, wo du unterkommen wirst? fragte Martens.

Ich glaube, ja. Sorge dich nicht. Vergiss den Abend, als hättest du geträumt.

Wenn ich noch etwas tun kann, sagte er zögernd, lass es mich wissen. Ich war zuerst zu überrascht. Du verstehst

Ja, Rudolf, ich verstehe. Und wenn ich etwas brauche, werde ich es dich wissen lassen.

Wenn du hier übernachten willst wir könnten dann noch miteinander reden

Ich lächelte. Wir werden sehen. Ich muss jetzt aufhören

Ja, natürlich, sagte er eilig. Verzeih. Alles Glück, Josef. Wirklich! Danke, Rudolf.

Ich trat aus der stickigen Kabine. Ein Windstoß fasste mich und riss mir fast den Hut vom Kopf. Helen kam rasch heran. Komm nach Hause! Du hast mich mit deiner Vorsicht angesteckt. Es ist plötzlich, als ob hier hundert Augen aus der Dunkelheit starrten. Hast du noch dasselbe Mädchen? Lena? Nein, sie spionierte für meinen Bruder. Er wollte wissen, ob du mir schriebest. Oder ich dir. Und das jetzige?

Sie ist dumm und gleichgültig. Ich kann sie wegschicken, und sie wird sich freuen und nicht nachdenken.

Du hast sie noch nicht weggeschickt?

Sie lächelte und war plötzlich sehr schön. Ich musste doch erst sehen, ob du wirklich hier wärest.

Du musst sie wegschicken, ehe ich komme, sagte ich. Sie darf uns nicht sehen. Können wir nicht anderswohin gehen?

Wohin?

Ja, wohin? Helen lachte plötzlich. Da stehen wir wie Halbwüchsige, die sich heimlich treffen müssen, weil ihre Eltern sie noch für zu jung halten! Wohin können wir gehen? In den Schlosspark? Er wird um acht Uhr geschlossen. Auf eine Bank in den städtischen Anlagen? In eine Konditorei? Schon zu gefährlich!

Sie hatte recht. Es waren die kleinen Tatsachen, die ich nicht vorausgesehen hatte man sieht sie nie voraus.

Ja, sagte ich. Wir stehen da wie Halbwüchsige. Als wären wir in unsere Jugend zurückgeworfen.

Ich blickte sie an. Sie war neunundzwanzig Jahre alt; aber sie wirkte so, wie ich sie früher gekannt hatte. Die fünf Jahre dazwischen schienen abgeglitten zu sein wie Wasser von einem jungen Seehund. Ich bin auch gekommen wie ein Halbwüchsiger, sagte ich. Alle Überlegungen waren dagegen, aber wie ein Halbwüchsiger habe ich nicht weitergedacht. Ich wusste nicht einmal, ob du nicht längst mit jemand anderem lebtest.

Sie antwortete nicht. Ihr braunes Haar glänzte im Licht der Laterne. Ich werde vorausgehen und das Mädchen wegschicken, sagte sie. Aber ich hasse es, dich allein auf der Straße zu lassen. Du könntest wieder verschwinden so, wie du aufgetaucht bist. Wo willst du so lange bleiben?

Da, wo du mich gefunden hast. In einer Kirche. Ich kann zum Dom zurückgehen. Kirchen sind sicher, Helen. Ich bin ein großer Kenner französischer, schweizer und italienischer Kirchen und Museen geworden.

Komm in einer halben Stunde, flüsterte sie. Erinnerst du dich noch an die Fenster unserer Wohnung?

Ja, sagte ich.

Wenn das Eckfenster offen ist, ist alles in Ordnung, und du kannst heraufkommen. Wenn es geschlossen ist, warte, bis ich es öffne.

Ich musste an Martens und meine Jugend denken, wenn wir Indianer spielten. Damals war es ein Licht im Fenster gewesen: das Zeichen für Lederstrumpf oder Winnetou, der unten wartete. Wiederholte es sich? Gab es das, dass sich etwas wiederholte?

Gut, sagte ich und wollte gehen.

Wohin gehst du?

Ich will sehen, ob die Marienkirche noch offen ist. Soweit ich mich erinnere, ist sie ein schönes Beispiel gotischer Baukunst. Ich habe inzwischen gelernt, das zu schätzen.

Lass das! sagte sie. Es ist schlimm genug, dass ich dich allein lassen muss.

Helen, erwiderte ich. Ich habe gelernt, auf mich aufzupassen.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht verlor plötzlich jeden Versuch zur Tapferkeit. Nicht genug, sagte sie.

Nicht genug. Was tue ich, wenn du nicht kommst?

Du kannst nichts tun. Ist deine Telefonnummer noch dieselbe?

Ja.

Ich berührte ihre Schulter. Helen, sagte ich. Alles wird gut gehen.

Sie nickte. Ich bringe dich zur Marienkirche. Ich will wissen, dass du sicher hinkommst.

Wir gingen schweigend hin. Es war nicht weit. Helen verließ mich, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah ihr nach, während sie über den alten Marktplatz ging. Sie ging rasch und blickte sich nicht um.

* * *

Ich blieb im Schatten des Portals stehen. Rechts lag das Rathaus im Schatten; nur auf den steinernen Gesichtern der alten Skulpturen schimmerte ein Streifen Mondlicht. Auf der Freitreppe davor war das Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahre 1648 verkündet worden; ebenso der Beginn des Tausendjährigen Reiches im Jahre 1933. Ich überlegte, ob ich erleben würde, dass auch sein Ende hier gemeldet werden würde. Ich hatte wenig Hoffnung.

Ich versuchte nicht, in die Kirche zu gehen. Es war mir auf einmal zuwider, mich zu verstecken. Ich wollte zwar nicht unvorsichtig werden; aber seit ich Helen gesehen hatte, wollte ich nicht mehr ohne Not ein gehetztes Tier sein.

Ich ging weiter, um nicht aufzufallen. Die Stadt, die vorher gefährlich, bekannt und entfremdet gewesen war, fing jetzt an zu leben. Ich spürte, dass es so war, weil ich selbst begonnen hatte zu leben. Das anonyme Dasein der letzten Jahre, das nur ein Überleben gewesen war, ein Wachsen ohne Frucht von einem Tag zum anderen, schien mir auf einmal nicht mehr so unnütz gewesen zu sein. Es hatte mich geformt, und wie eine schwankende Blüte, heimlich aufgebrochen, war plötzlich ein Lebensgefühl da, das ich früher nicht gekannt hatte. Es hatte nichts mit Romantik zu tun; aber es war so neu und erregend, als wäre es eine große, leuchtende, tropische Blüte, hingezaubert auf einen durchschnittlichen Strauch, von dem man höchstens ein paar bescheidene, durchschnittliche, kleine Knospen erwartet hätte. Ich kam an den Fluss und blieb auf der Brücke stehen und blickte über das Geländer auf das Wasser. Links von mir stand ein Wachtturm aus dem Mittelalter, in dem jetzt eine Wäscherei eingerichtet war. Die Fenster waren erleuchtet, und die Mädchen arbeiteten noch. Das Licht wehte in breiten Reflexen über den Fluss darunter. Der schwarze Wall mit den Linden stand vor dem hohen Himmel, und rechts lagen die Gärten mit der Silhouette des Domes darüber.

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