Жизнь взаймы / Der Himmel kennt keine Günstlinge - Эрих Мария Ремарк 5 стр.


Lillian sah sich um. Es war ein Bild, das sie kannte. Sie waren wie Kinder, die heimlich zu lange aufbleiben. Dolores Palmer trug ein chinesisches Kostüm, ein langes Kleid. Sie war von einer tragischen Schönheit, die sie selbst nicht empfand. Ihre Liebhaber gingen daran irre wie Reisende an einer Fata Morgana.

Eva Moser saß neben dem Fenster und schaute hinaus. Ihre glückliche Stimmung war umgeschlagen. »Sie weint«, sagte Maria Savini zu Lillian. »Was sagst du dazu?«

»Warum?«

»Frag sie selbst; du wirst es nicht glauben. Sie hält dies für ihr Zuhause.«

»Es ist mein Zuhause«, sagte Eva Moser. »Hier bin ich glücklich gewesen. Hier habe ich Freunde. Unten kenne ich niemand.«

»Was soll ich werden?« jammerte Eva Moser jetzt in voller Panik. »Sekretärin? Wer nimmt mich schon? Ich kann nur schlecht Schreibmaschine schreiben.«

Lillian betrachtete Eva. Sie hatte auch früher schon Patienten gesehen, die entlassen worden waren und behauptet hatten, lieber bleiben zu wollen. Aber Eva Moser war ein anderer Fall; sie meinte, was sie sagte. Sie war ehrlich verzweifelt. Sie hatte sich an das Sanatorium gewöhnt. Sie hatte Angst vor dem Leben unten.

»Ich gehe«, sagte Lillian. »Ich kann das nicht aushalten.«

»Geh nicht!« sagte Charles Ney und beugte sich zu ihr. »Bleibe noch! Wir brauchen dich. Sing etwas, Lillian!«

* * *

Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und das Krokodil stand im Rahmen.

»Das habe ich mir doch gedacht! Zigaretten! Alkohol auf dem Zimmer! Eine Orgie! Sogar Sie dabei, Fräulein Ruesch!«

* * *

Lillian zog die Vorhänge zu. Da war die Panik wieder! Sie suchte nach den Schlaftabletten. Einen Augenblick glaubte sie, draußen Clerfayts Motor zu hören. Sie sah auf die Uhr. Er hätte sie retten können vor der langen Nacht; aber sie konnte ihn nicht anrufen.

Hatte Hollmann nicht gesagt, er habe Besuch? Von wem? Von irgendeinem gesunden Frauenzimmer aus Paris oder Mailand oder Monte Carlo! Zum Teufel mit ihm, er fuhr ohnehin in ein paar Tagen ab! Sie schluckte die Tabletten.

5

Der alte Mann lag in einem schmalen Bett in einem schmalen Zimmer. Neben dem Bett stand auf dem Nachttisch ein Schachbrett.

Er hieß Richter. Er war achtzig Jahre alt und lebte seit zwanzig Jahren im Sanatorium. Er war das Renommierstück[22] des Sanatoriums. Man wies stets auf ihn, wenn es mutlose Patienten gab. Lillian saß an seinem Bett. »Sehen Sie sich das an!« sagte Richter und zeigte auf das Schachbrett. Regnier ist während des Krieges gekommen, 1944 glaube ich.

Das war eine Erlösung! Vorher  meine liebe junge Dame  vorher habe ich ein Jahr lang gegen einen Schachklub in Zürich gespielt. Wir hatten niemanden hier oben, wer gut Schach spielen konnte. Es war sehr langweilig.«

Schach war Richters einzige Leidenschaft. Zwei Freunde aus Deutschland, mit denen er brieflich gespielt hatte, waren in Russland gefallen; ein anderer wurde bei Stalingrad gefangengenommen. Ein paar Monate lang war Richter ganz ohne Partner gewesen; er hatte sogar Gewicht verloren. Dann hatte er gegen Mitglieder eines Schachklubs in Zürich per Telefon gepielt.

Doch das war zu teuer. Dann hat er Briefe geschrieben. Er konnte nur jeden zweiten Tag einen Zug machen, da die Post so lange dauerte.

Und wenn Regnier gekommen war und eine Partie mit Richter gespielt hatte, war Richter war froh, endlich wieder einen würdigen Gegner zu haben.

Aber Regnier, ein Franzose, der in einem deutschen Gefangenenlager war, wollte nicht mehr weiterzuspielen, als er hörte, daß Richter Deutscher sei. Beide langweilten sich; aber keiner wollte nachgeben. Ein Neger aus Jamaica fand schließlich eine Lösung. Auch er war bettlägerig. In zwei Briefen lud er Richter und Regnier zu je einer Schachpartie mit sich ein, von Bett zu Bett, über das Telefon. Die einzige Schwierigkeit war, daß der Neger Schach nicht spielen konnte. Er selbst hatte nicht einmal ein Brett, da er ja nichts weiter tat, als Regnier und Richter, ohne daß sie es wußten, gegeneinander spielen zu lassen.

Kurz nach dem Ende des Krieges starb der Neger. Das Krokodil übernahm jetzt die Rolle des Negers, damit die Partien weitergingen, man hat ihnen gesagt, daß der Neger wegen einer Kehlkopftuberkulose[23] jetzt nicht mehr sprechen konnte. Das ging gut, bis Regnier wieder aufstehen konnte. Er wollte als erstes den Neger besuchen und fand so alles heraus.

Inzwischen hatten sich die nationalen Gefühle etwas beruhigt. Und beide spielten seitdem wieder miteinander. Mit der Zeit war auch Regnier wieder bettlägerig geworden. Und da beide jetzt kein Telefon mehr hatten, machten ein paar Patienten für sie die Botendienste. Lillian auch. Dann war Regnier vor drei Wochen gestorben. Richter war um diese Zeit so schwach gewesen, daß man auch seinen Tod erwartete, und niemand wollte ihm sagen, daß Regnier tot sei.

»Wollen Sie nicht Schach lernen«, fragte er Lillian,. »Ich kann es Ihnen rasch beibringen.«

»Ich habe kein Talent dafür. Und keine Geduld.«

»Jeder hat Talent! Und Geduld muß man haben, wenn man nachts nicht schlafen kann. Was soll man sonst tun? Beten? Das hilft nicht. Ich bin Atheist. Philosophie hilft auch nicht. Detektivromane nur für kurze Zeit. Ich habe alles probiert, meine Dame. Nur zwei Dinge helfen. Das eine ist, daß ein anderer bei einem ist; deshalb habe ich geheiratet. Aber meine Frau ist längst tot«

»Und das andere?«

»Schachaufgaben zu lösen. Es beruhigt. Es ist eine Welt ohne Panik und ohne Tod. Es hilft! Wenigstens für die eine Nacht  und mehr wollen wir ja nicht, nicht wahr? Nur durchhalten bis zum nächsten Morgen«

»Ja. Mehr will man hier nicht.«

»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte sie.

»Zwanzig Jahre. Ein Leben, wie?«

»Ja, ein Leben.«

Ein Leben, dachte sie, aber was für ein Leben! Jeder Tag war wie der andere.Nein, dachte Lillian, nicht so! Ich will nicht so enden! Nicht so!

»Wollen wir heute anfangen?« fragte Richter.

Lillian schüttelte den Kopf. »Ich bleibe nicht mehr lange hier.«

»Sie fahren nach unten?« fragte Richter.

»Ja. In ein paar Tagen.«

Was rede ich da? dachte sie. Es ist ja nicht wahr!

Verwirrt stand sie auf.

»Ich fahre nicht für lange«, sagte sie schnell.

»Nur für kurze Zeit. Ich komme wieder.«

»Jeder kommt wieder«, sagte Richter beruhigt. »Jeder.«

»Soll ich Ihren Zug für Regnier mitnehmen?«

»Zwecklos. Er ist so gut wie matt. Sagen Sie ihm, wir müßten ein neues Spiel anfangen.«

Die Unruhe verließ sie nicht. Nachmittags gelang es ihr, eine junge

Assistenzschwester im Operationsraum zu überreden, ihr die letzten Röntgenaufnahmen zu zeigen. Die Schwester glaubte, Lillian verstände nichts davon, und brachte ihr die Filme.

»Hier ist das Kleid. Sie können es jetzt mitnehmen.«

Die Schwester errötete. »Das gelbe Kleid? Haben Sie das wirklich so gemeint?«

»Warum nicht? Es paßt mir nicht mehr. Ich bin zu dünn dafür geworden.«

Die Schwester nahm das Kleid. »Ich glaube, es paßt sogar«, flüsterte sie und sah in den Spiegel. »Ich lasse es noch ein paar Minuten hier. Die Aufnahmen auch. Dann hole ich alles ab. Ich muß noch zu Nummer sechsundzwanzig. Sie ist abgereist.«

»Abgereist?«

»Ja. Vor einer Stunde.«

»Wer ist Nummer sechsundzwanzig?«

»Die kleine Südamerikanerin aus Bogotá.«

»Die mit den drei Verwandten? Manuela?«

»Ja. Es kam rasch; aber es war zu erwarten.«

»Sie ist nicht abgereist, sie ist tot, gestorben, nicht mehr da!«

»Ja, natürlich«, erwiderte die Schwester.

»Die mit den drei Verwandten? Manuela?«

»Ja. Es kam rasch; aber es war zu erwarten.«

»Sie ist nicht abgereist, sie ist tot, gestorben, nicht mehr da!«

»Ja, natürlich«, erwiderte die Schwester.

Lillian konnte die Filme nicht wirklich lesen. Der Dalai Lama hatte ihr nur öfter die Schatten und Verfärbungen gezeigt, auf die es ankam.

Es schien ihr, daß die Flecken größer geworden seien.

Die junge Schwester war wieder hereingekommen. »Ich habe in den letzten zwei Monaten drei Pfund verloren.«

»Sie haben doch kürzlich ein halbes Pfund zugenommen.«

»Das habe ich schon wieder abgenommen.«

»Sie sind zu unruhig. Und Sie müssen mehr essen.«

Lillian dreht sich rasch um. »Warum behandelt ihr uns immer wie Kinder?« sagte sie. »Denkt ihr wirklich, wir glauben alles, was ihr uns vorerzählt? Hier « sie hielt der Schwester die Röntgenaufnahmen hin  »sehen Sie das an! Sie wissen, daß es nicht besser geworden ist!«

Lillian wartete ungeduldig darauf, daß die Schwester die Aufnahmen und das Kleid nehme und ginge.

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