Wir sprachen über das Theater und natürlich über seinen Bruder Eduardo. Er erzählte uns von seinem Leben auf den Brettern, die die Welt bedeuten, immer auf Reisen, in Begleitung der Familie.
Wir gingen nach fast einer Stunde, etwas benebelt, mit einer vollen Tonbandkassette.
Dies war nicht nur das erste Interview meines Lebens, es war insbesondere der Moment, in dem ich begriff, dass der Beruf des Journalisten für mich die einzige überhaupt denkbare Option war. Und es war der Augenblick, an dem ich zum ersten Mal diese merkwürdige Alchimie, diese subtile Magie spürte, die sich zwischen dem Interviewten und dem Interviewer aufbaut.
Ein Interview kann entweder die mathematische Formel einer Lebensweisheit sein, oder eine unnütze und eitle Zurschaustellung. Das Interview ist aber auch eine mächtige Waffe in den Händen des Journalisten, der die Macht hat, zu wählen, ob er dem Interviewten beipflichten- oder sich in den Dienst des Lesers stellen und diesen begeistern soll.
Was mich anbelangt, so ist in meinen Augen das Interview sehr viel mehr; es ist eine psychologische Konfrontation, eine Sitzung mit Psychoanalyse. Involviert sind beide, der Interviewte und der, der ihn interviewt.
So wie mir später der Marchese di Vilallonga in einem in diesem Buch
enthaltenen Interview sagte: «das Geheimnis liegt allein in diesem Zustand der Erlösung, der entsteht, wenn der Journalist sich von seinem Status als Journalist löst und zum Freund wird, dem man alles erzählt, auch das, was man einem Journalisten niemals anvertrauen würde.»
Das Interview ist die praktische Umsetzung der von Sokrates praktizierten Kunst der Mäeutik, die Fähigkeit der Journalisten, dem Interviewpartner seine aufrichtigsten Gedanken zu entlocken, ihn dazu zu bringen, unachtsam zu werden, ihn reden zu lassen und auf das Ãberraschungsmoment zu hoffen, um ihm die ungeschminkte Wahrheit zu entlocken.
Nicht immer gelingt es, diese besondere Magie in die Praxis umzusetzen, aber wenn es geschieht, dann ist das Ergebnis ein gutes Interview. Etwas mehr als ein Schlagabtausch und eine sterile Antwort; es hat nichts gemein mit der unnützen Selbstgefälligkeit des Journalisten, der nur versucht, einen Scoop zu landen.
In über dreiÃig Jahren journalistischer Aktivitäten bin ich Berühmtheiten begegnet, Staatsmännern, Premierministern, religiösen und politischen Führern. Ich muss allerdings gestehen, dass nicht sie es waren, bei denen ich ein echtes Gefühl von Empathie empfand.
Auf Grund meines kulturellen Hintergrunds und meines familiären Umfelds hätte ich mich ihnen zugehörig fühlen müssen und auf der Seite der Männer und Frauen stehen müssen, die die Fäden der Macht in Händen hatten, die die Macht hatten über das Schicksal von Millionen Menschen zu entscheiden, über ihr Leben und oftmals über ihren Tod. Zuweilen über das Schicksal und die Zukunft ganzer Völker.
Aber so war es nicht. Empathie, eine Woge der Sympathie, den Schauder und die Erregung habe ich beim Treffen mit den Rebellen gespürt, den Kämpfern, die bereit waren â und das auch unter Beweis stellten â ihr Leben zu opfern, die oftmals, da beseelt von ihren Idealen, Ruhe und Freiheit ausstrahlten.
Gleich ob ich einen Revolutionsführer mit schwarzer, wollener Skimütze in einer Hütte im mexikanischen Dschungel traf, oder eine couragierte Mutter, die in aller Bescheidenheit, aber verbissen darum kämpfte, die Wahrheit über das schreckliche Ende ihrer Kinder zu erfahren, die in Chile unter dem Pinochet-Regime verschollen sind.
Sie waren in meinen Augen die wirklich Mächtigen.
Grotteria, August 2017
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Die Interviews in diesem Buch wurden in einem Zeitraum zwischen 1993 und 2006 in den groÃen Zeitschriften veröffentlicht, für die ich in jenen Jahren als Korrespondent oder Sonderberichterstatter hauptsächlich in Lateinamerika und in Fernost tätig war: die Wochenzeitschriften Panorama und LâEspresso , die Tageszeitungen Il Tempo , Il Corriere della Sera und La Repubblica sowie einige für die rai
Ich habe bewusst die Originalform beibehalten, in der sie damals geschrieben wurden, zuweilen nach dem traditionellen Aufbau von Frage/Antwort, andere mehr in der umgangssprachlicheren Form des Zitats in Anführungszeichen .
Ich habe mich entschieden, jedem einzelnen Interview eine kurze Einleitung voranzustellen, die dem Leser helfen soll, sich zeitlich und räumlich in der jeweiligen Epoche zu orientieren, in der sie gemacht wurden.
1
Sub-Comandante Marcos
Venceremos [Wir werden siegen]! (früher oder später)
Chiapas, Mexiko, San Cristobal de Las Casas, Hotel Flamboyant. Man hatte die Nachricht unter der Zimmertür durchgeschoben:
Fahrt in die Selva unbedingt heute.
Treffpunkt 19 h an der Rezeption.
Mitzubringen: Bergschuhe, eine Decke,
ein Rucksack und Dosenverpflegung.
Mir bleiben nur eineinhalb Stunden, um die wenigen Sachen zu packen. Mein Ziel liegt im Herzen des Dschungels. An der Grenze zwischen Mexiko und Guatemala, wo die Selva Lacandona beginnt, einer der wenigen Orte der Welt, die bis heute völlig unerforscht sind. Momentan gibt es nur einen einzigen sehr speziellen âReiseveranstalterâ, der mich dazu bewegen könnte, dort hinzugehen. Er lässt sich mit Sub-Comandante Marcos ansprechen und die Selva Lacandona ist sein letztes Refugium.
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Das, worauf ich noch heute in meiner Karriere wahrscheinlich am meisten stolz bin, ist dieses Treffen mit dem Sub-Comandante Marcos im Dschungel von Lacandona del Chiapas im April 1995 für die Wochenzeitschrift Sette des Corriere della Sera; ich war der erste italienische Journalist, dem es gelang, in zu interviewen (allerdings weià ich ehrlich gesagt nicht, ob vor mir nicht der sympathische und allgegenwärtige Gianni Minà dort war), aber es war sicherlich lange bevor der mystische Sub-Comandante mit seiner legendären schwarzen Skimütze in den späteren Jahren eine Art authentisches âGuerilla-Pressebüroâ ins Leben rief, zu dem die Journalisten aus den entlegensten Winkeln hin- und herpendelten.
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Das, worauf ich noch heute in meiner Karriere wahrscheinlich am meisten stolz bin, ist dieses Treffen mit dem Sub-Comandante Marcos im Dschungel von Lacandona del Chiapas im April 1995 für die Wochenzeitschrift Sette des Corriere della Sera; ich war der erste italienische Journalist, dem es gelang, in zu interviewen (allerdings weià ich ehrlich gesagt nicht, ob vor mir nicht der sympathische und allgegenwärtige Gianni Minà dort war), aber es war sicherlich lange bevor der mystische Sub-Comandante mit seiner legendären schwarzen Skimütze in den späteren Jahren eine Art authentisches âGuerilla-Pressebüroâ ins Leben rief, zu dem die Journalisten aus den entlegensten Winkeln hin- und herpendelten.
Es waren gerade mal zwei Wochen vergangen, nachdem, in den letzten Märztagen des Jahres 1995, das Flugzeug aus Mexiko-Stadt auf dem kleinen Militärflugplatz von Tuxla Gutierrez, der Hauptstadt des zentralen Hochlandes von Chiapas gelandet war. Auf der Piste rollten Maschinen mit den Emblemen der mexikanischen Armee, flankiert von Militärfahrzeugen, die bedrohlich an beiden Rändern der Rollbahn Parkposition bezogen hatten. In einem Gebiet, das flächenmäÃig ein Drittel von Italien umfasst leben drei Millionen Menschen. Bei der Mehrzahl flieÃt Indioblut in den Venen: Zweihundertfünfzigtausend sind direkte Nachkommen der Maya.
Ich befand mich in einer der ärmsten Gegenden der Welt: Neunzig Prozent der Indios hatten kein Trinkwasser. Sechzig von Hundert waren Analphabeten.
Die Sachlage schien mir klar zu sein: auf der einen Seite die weiÃen Grundbesitzer, wenige und sehr Reiche. Auf der anderen die Campesinos, viele, die im Schnitt sieben Peso, weniger als zehn Dollar pro Tag verdienten.
Für diese Menschen hatte die Hoffnung auf Rückeroberung am ersten Januar 1994 begonnen. Während Mexiko das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada unterschrieb, erklärte ein vermummter Revolutionär dem Land den Krieg: zu Pferde, mit Gewehren bewaffnet â einige (wenige) davon echt, die anderen Attrappen aus Holz â besetzten zweitausend Mann der Nationalen Befreiungsarmee der Zapatisten San Cristobal de Las Casas, die antike Hauptstadt des Hochlandes von Chiapas, die Parole lautete: «Land und Freiheit».
Heute wissen wir, an wen die erste Runde ging, die Entscheidende: sie wurde von den fünfzigtausend Soldaten gewonnen, die man mit Panzern geschickt hatte, um den Aufstand niederzuschlagen. Und Marcos? Was war aus dem Mann geworden, der auf eine gewisse Art dafür gesorgt hatte, dass die Legende von Emiliano Zapata, dem Helden der mexikanischen Revolution von 1910 wieder auflebte?
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19 Uhr, Hotel Flamboyant: Unser Kontaktmann kommt pünktlich. Er heiÃt Antonio und ist ein mexikanischer Journalist, der nicht einmal, sondern zehn oder zwanzig Mal im Dschungel war. Sicher, heute ist es nicht mehr wie noch vor einem Jahr, als Marcos noch ein relativ ruhiges Leben mit den Seinen im kleinen Dorf von Guadalupe Tepeyac, am Eingang zur Selva führte, mit Handy und PC âbewaffnetâ und mit Internetverbindung, jederzeit bereit, die Abgesandten der amerikanischen TV-Sender zu empfangen. Für die Indios hat sich bis heute nichts verändert, für Marcos und die Seinen schon â alles ist anders: nach der letzten Offensive der Regierung mussten sich die Anführer der Zapatisten wirklich und wahrhaftig in den Bergen verstecken. Hier gibt es keine Telefone, es gibt keinen Strom, keine StraÃen: nichts.
Der colectivo (wie man hier diese komischen Taxi-Minibusse nennt) verschwindet rasch Kurve für Kurve in die Nacht. Im Innenraum riecht es nach Schweià und nach feuchtem Stoff. Man braucht zwei Stunden bis nach Ocosingo , einem Pueblo am Eingang zum Dschungel. Auf den belebten StraÃen treffen wir auf lachende Mädchen mit langen schwarzen Haaren und Indio-Gesichtern und auf viel Militär â überall. Die Zimmer des einzigen Hotels haben keine Fenster, nur ein Gitter in der Tür. Es sieht aus wie eine Gefängniszelle. Im Radio kommt eine Nachricht: «Heute hat die Mutter von Marcos erklärt: Mein Sohn, der Universitätsprofessor Rafael Sebastian Guillen Vicente, 38 Jahre, geboren in Tampico, ist der Sub-Comandante Marcos».
Am nächsten Tag haben wir einen neuen Führer. Er heiÃt Porfirio. Auch er ist ein Indio.
In seinem Minibus brauchen wir fast sieben Stunden durch Schlaglöcher und Staub, bevor wir in Lacandon, der letzten Ortschaft ankommen. Hier endet die befestigte StraÃe. Es beginnt der Dschungel. Es regnet nicht, aber der Schlamm reicht uns trotzdem bis zu den Knien. Geschlafen wird in Baracken am Weg, im Dschungel. Nach zwei Tagen strammem und kräftezehrendem Marsch durch den unwirtlichen Dschungel, halb erstickt wegen der Feuchtigkeit, kommen wir im Dorf an. Die Gemeinde nennt sich Giardin ; wir sind im Gebiet der Montes Azules . Hier wohnen etwas zweihundert Menschen. Alles Alte, Kinder und Frauen. Die Männer sind im Krieg. Man empfängt uns freundlich. Nur weniger sprechen Spanisch. Alle sprechen Tzeltal , den Dialekt der Maya. «Werden wir Marcos treffen?» fragen wir «Kann sein», Porfirio nickt zustimmend.
Um drei Uhr morgens werden wir sanft geweckt: wir müssen aufbrechen. Es scheint kein Mond, aber es gibt viele Sterne. Nach einem Marsch von einer halben Stunde kommen wir an eine Hütte. Im Inneren sind die Gestalten von drei Männern zu erahnen. Drinnen ist es dunkel, schwarz wie ihre Skimützen. Nach dem Steckbrief der Regierung ist Marcos ein Universitätsprofessor mit Abschluss in Philosophie mit einer Dissertation über Althusser, der an der Pariser Sorbonne promoviert hat. An diesem Punkt wird die Stille in der Hütte von einer Stimme in französischer Sprache unterbrochen: «Wir haben nur zwanzig Minuten. Ich würde lieber Spanisch sprechen, wenn das in Ordnung ist. Ich bin Sub-Comandante Marcos. Das Aufnahmegerät benutzen Sie besser nicht, denn wenn Sie abgehört werden, hätten wir alle ein Problem, vor allem Sie. Auch wenn wir uns offiziell im Waffenstillstand befinden, sucht man mich in Wirklichkeit mit allen Mitteln. Sie können mich fragen, was Sie wollen.»
Warum nennen Sie sich Sub-Comandante?
Man sagt über mich: «Marcos ist der Capo». Das stimmt nicht. Die Anführer sind sie, das zapatistische Volk, ich habe nur militärisch die Verantwortung. Sie haben mich beauftragt, für sie zu sprechen, weil ich Spanisch spreche. Die Kameraden benutzen mich als Sprachrohr. Ich gehorche nur.
Zehn Jahre im Untergrund sind lang... Wie leben Sie in den Bergen?
Ich lese. Von den zwölf Büchern, die ich mit in den Dschungel genommen habe ist eins der Canto General von Pablo Neruda. Ein anderes ist der Don Quijote ...
Und sonst?
Ansonsten vergehen die Tage und Jahre während unseres Kampfes. Wir sehen Tag für Tag dieselbe Armut, dieselbe Ungerechtigkeit... Du kannst hier nicht leben, ohne dass der Wille zu kämpfen, etwas zu verändern, stärker wird. Da müsstest du schon entweder Zyniker sein, oder ein Hurensohn. Dann sind da noch Dinge, die Journalisten mich für gewöhnlich nicht fragen. Das wir uns nämlich hier im Dschungel schon mal von Mäusen ernähren oder den Urin der Kameraden trinken müssen, um bei den langen Ortswechseln nicht zu verdursten ⦠mehr ist dazu nicht zu sagen.