Erstaunlich schnell begriff Klaus die alten Hosen und Jacken so vorzulegen, daß Flicke und Risse auf der andern Seite waren. Verstand er mehr zu verlangen, als selbst der Vater als Bezahlung wünschte. Lernte er, daß Kunden angelächelt sein wollten, gleichviel ob man fror oder schwitzte.
In den ersten Jahren seines Umherwanderns sprach man noch viel vom Krieg. In den Schilderungen von Raub- und Beutezügen hockte der Neid über das rasche Soldatenglück. Klaus wünschte sich neue Kriege. Er wollte Soldat werden. Gewiß, es würde Gefahr geben, aber auch ebensoviel Wege zu Geld und zu Glück.
Wenn er dergleichen dachte, machten seine Beine so große Schritte, daß sie den humpelnden Füßen des Vaters lange vorauskamen.
Aber es wurde nicht wieder Krieg.
Es kamen bessere Zeiten für die Berliner. Gute Tage. Sehr gute Jahre. Aus der Ruhe des Friedens hob sich der Wohlstand. Auf blutgedüngtem Boden wogte Erntesegen.
Neue Zeiten neue Kleider.
Mancher, der nie eine neue Jacke getragen, konnte sich, wenn's ihm gefiel, jetzt zwei auf einmal anmessen lassen.
Viele, die jeden Lumpenfetzen verkauften, um einen Sechser in die leere Tasche zu kriegen, erinnerten sich gar nicht mehr, je dergleichen Handel getrieben zu haben, und klapperten mit Geld im gut gefütterten Rock.
Friedrich Spreemanns Geschäft war gehemmt.
»Die Konjunktur der Landstraße steht faul.« Er sagte es immer häufiger, unter der rauchenden Funzellampe am Wirtstisch. Und manches vom Hunger modellierte Gesicht nickte ihm schweigend Beifall.
Sonderbar war nur, daß Spreemann bei solchen Reden wohl schmerzlich das Gesicht verzog, doch nicht sonderlich von Sorgen gehetzt schien.
Man kann auch ein Übel bedauern, ohne selbst davon betroffen zu sein. Denn nicht jeder ist ein Egoist.
Viel stärker, als die Zeit, drückten Friedrich Spreemann seine hohen gefüllten Stiefel. Selbst wenn er die Füße still unter dem Tisch hielt, geschweige denn bei jedem Schrittfühlte er die harten Taler, die Rubelchen und Napoleons, die sich, in den Tagen der guten Konjunktur, dort angesammelt hatten. Und unter der linken Zehe, in der tausend Stecknadeln stachen, wenn sich das Wetter ändern wollte, und die er darum sein Barometerchen nannte, lagen die Scheine. Die ersten Zettel, die der preußische Staat seinen Bürgern gegen Bargeld gegeben. Das erste Papiergeld.
Der Mensch ist immer mehr, als sein Nachbar von ihm glaubt.
Der siegreiche, preußische Staat war Friedrich Spreemanns Schuldner.
Und an Klaus sollte er zurückzahlen.
Friedrich Spreemann war zu sparsam und praktisch, um von seinen Schätzen noch etwas für sich auszugeben. Er war ein zu gewiegter Geschäftsmann, um nicht zu wissen, daß ein verbrauchtes Leben nichts wert war. Abgetragene Sachen auszubessern, das lohnte sich nicht.
Aber das Leben von Klaus war noch neu, war ein glattes gediegenes Stück, aus dem sich noch alles schneidern ließ. Er konnte in Wirklichkeit haben, was sich sein Alter nur gewünscht hatte.
Klaus war pfiffig, gut und geduldig. Er würde erst einen kleinen Laden haben. Dann einen größeren. Und schließlich einen großen. Er würde eines Tages soviel Steuern zahlen, daß ihm der König gnädig zuwinken würde, wenn er ihm Unter den Linden begegnete. Mancher, der das sieht, wird dann vielleicht sagen: Sein Vater war noch Händler. Allerdings ein tüchtiger . . .
So hatte auch Friedrich Spreemann seine heimlichen Träume. Trotz seines guten Geschäftssinns naschte auch er von dieser goldenen Arznei. Sie kostete gar nichts. Und war doch das beste Mittel gegen knurrenden Magen und wunde Füße.
Klaus war nicht wenig erstaunt gewesen, als der Vater eines Tages mit ihm in eine Schneiderstube bog und dem Schneider befahl, dem Jungen hier Hose und Rock anzumessen.
In der warmen Werkstatt saß, neben dem Ofen, des Schneiders Vater und hämmerte Schuhe. Da waren zwei schöne Gewerbe friedlich beisammen.
»Ihr habt's gut,« sagte Friedrich Spreemann, als er sich ächzend auf einen Stuhl plumpsen ließ. Seine tränigen Blicke blinzelten von Schuster und Schneider zu Klaus hinüber und dann an sich selbst nieder.
Ja, ja. Um das Stubenhocken zu lernen war nicht mehr Zeit genug übrig. Er hatte zu viele Menschen dem Leben adieu sagen sehen, um nicht zu wissen, was die dicke Schwere in Kopf und Beinen bedeute.
Der Bader hatte schon recht: Fünfzig Jahre lang immer zu wenig Brot und immer zu viel Schnaps, das rächt sich. Es geht alles ganz natürlich im Leben zu . . .
Der Schneider ein Stück Kreide hinterm Ohr, zwei Stecknadeln im Mund, die Elle in der Hand drehte kichernd mehrmals Klaus herum, bevor er mit dem Maßnehmen begann.
Er sagte, daß er das junge Herrchen gar nicht herausfinde aus dem großen Rock, und meckerte wieder.
Aber der Alte am Ofen, der neugierig zusah, stocherte mit dem gebogenen Zeigefinger in die Luft und krächzte, daß man dem Bürschchen da noch manchen neuen Anzug anmessen werde. Hunger und Entbehrung machen die Schlauköpfe.
»Das ist wahr,« sagte der Schneider, und sah sich in den Spiegel.
Kleider machen Leute. Spreemann hatte es oft genug versichert, wenn er seine Waren anpries. Überzeugt von der Wahrheit dieser Worte aber wurde er erst, als er seinen Klaus im neuen Anzug sah. So wohlgewachsen und stämmig hatte er sich seinen kleinen Ableger gar nicht gedacht. Er hatte alle Mühe, seinen Stolz zu unterdrücken.
Denn erst hieß es, Schneider und Schuster noch einige Silbergroschen vom Preise zu handeln. Freude braucht nicht gleich übermütig und verschwenderisch zu machen.
Alles zu seiner Zeit. Stolz und Wichtigkeit breiteten sich erst über sein Gesicht, als man den niederen Laden betrat, wo Klaus als Lehrling eintreten sollte.
Hier begann Spreemann seinen Sohn aus vollem Halse zu rühmen. Es wurde ihm leicht. Es war eins der seltenen Male, daß ihm das Lob über den angepriesenen Gegenstand von Herzen kam. Es war das erstemal, daß er etwas anzubieten hatte, das nicht nur wie neu aussah, sondern auch wirklich nicht abgenutzt war.
Doch Klaus' künftiger Prinzipal, der in den Kriegsjahren eine Zeitlang Spreemanns Weggenosse gewesen, unterbrach ihn lächelnd. Er klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Er ist dein Sohn, Spreemann, das genügt mir.«
So trennten sich die Wege von Vater und Sohn. Spreemann wanderte allein hinaus . . .
Klaus fegte den Laden, verschnürte Pakete, sprang schnell über die Straße um seinem Herrn das heimliche Schnäpschen zu holen, zog die Wassereimer aus dem Brunnen und kaufte Eier und Brot für die Frau Prinzipalin. In der Mittagsstunde aber, wenn der Herr Chef sein Nickerchen machte, durfte er selber die Kunden bedienen und den Stoff an der Elle abmessen.
In seiner Schlafkammer war es nicht wärmer als draußen auf der Landstraße. Im Winter war das Wasser in der Kanne gefroren. Wie Feuer brannte das Eis nach dem Waschen auf Gesicht und Händen. So lebte Klaus trotz aller Bescheidenheit auf vertrautestem Fuß mit zwei der mächtigsten Elemente.
Am Nachmittag kam sogar etwas Sonne zu ihm. Wenn auch nicht auf dem geradesten Wege. Ehe sie unterging, brach sich ihr blankes Licht in den gegenüberliegenden Fenstern. Die warfen einen warmen Wiederschein hinüber zu Klaus. Und oft genug brockte er sich sein Vesperbrot bei schönstem Sonnenschein in die dampfende Tasse.
Zu alle diesem bekam er in jedem Monat noch zwei runde Taler ausgezahlt.
Als er sie zum erstenmal erhalten hatte, wollte er sie dem Vater geben, der ihn des Sonntags fast immer besuchte, denn er wußte, wieviel Geld seine neuen Kleider gekostet hatten. Aber Spreemann wehrte würdig ab. Er sagte:
»Du hast nun Anzug und Schuhe. Du wirst also bald an ein Hemd denken müssen. Und über kurz oder lang sogar an ein zweites. Auch die beiden Paar Strümpfe werden nicht ewig reichen. Verschwende nicht, aber kaufe, was sich als nötig erweist.«
Als er dann in der Dämmerung des Sonntags durch die ruhigen Straßen, vorbei an den erhellten Fenstern der Giebelhäuser, dem Stadttor zuwanderte, wo seine Herberge lag, blieb er häufig stehn, um heftig mit dem Kopf zu nicken. Auf Schritt und Tritt war ihm etwas anderes eingefallen, was sich sein Klaus wird anschaffen müssen, um so nach und nach ein Herr zu werden . . .
Er hätte gern mit angesehen, wie der König den Klaus Unter den Linden grüßen würde. Immerhin erlebte er noch, daß Klaus mit einem weißen Kragen und großer Seidenkrawatte, die widerspenstige Lockenfülle mit wohlduftender Pomade vornehm geglättet und gescheitelt, als »junger Mann« hinter dem Ladentisch stand. Daß er nicht mehr zu fegen brauchte, sondern nur mit einem Federpuschel die Waren abstäubte und zu jeder Tageszeit die geehrten Kunden artig lächelnd bedienen durfte.
So weit war Klaus gekommen, als eines rauhen Novembersonntags nicht mehr die eigenen Füße, sondern mitleidige Menschen den Vater zum Sohn brachten. Er war einige Straßenecken vorher zusammengebrochen.
Klaus bewohnte noch dieselbe kleine Kammer. Nur daß jetzt ein paar Handelsbücher darin standen und Seife, Kamm und Pomade dazugekommen waren. Der kleine, kalte Raum borgte sich gerade wieder den allerletzten Sonnenfunken vom Nachbarhause, als man Friedrich Spreemann auf seines Sohnes Bett legte.
»Die schöne Sonne,« sagte er bewundernd.
Als er sich ein wenig erholt zu haben schien, befahl er dem weinenden Klaus, ihm die hohen Stiefel von den geschwollenen Beinen zu schneiden. Und drückte ihm das Messer dazu in die Hand.
Klaus sammelte fassungslos die herausspringenden Münzen zusammen, auch das Wachstuchpaket unter dem Barometerchen fand er.
»Alles für dich,« sagte Spreemann. »Mit einem kleinen Laden fang an.«
Dann schien seine Kraft zu Ende zu sein. Klaus schluchzte und begann mechanisch das Geld zu zählen.
Da hob Spreemann noch einmal mühselig den Kopf und flüsterte unruhig, daß Klaus nun etwa nicht unnützes Geld für das Begräbnis verschwenden solle.
»Sparsamkeit ist halber Profit.«
Bei diesen Worten war Klaus seines Vaters gesetzlicher Erbe geworden.
Drittes Kapitel
Man kann in niemand hineinsehen. Möglich, daß der freundliche Herr Spreemann noch heute an die vergangenen Zeiten zurückdachte. Anzumerken war es ihm nicht.
Er war nun längst gewohnt, daß sein Lehrling den Laden fegte und daß sein junger Mann die Waren und den Wandspruch mit einem Federpuschel abstäubte. Daß über der Ladendecke eine hübsche Wohnung lag, mit Mullgardinen an den Fenstern und einem breiten Lehnstuhl davor, mit warmem Ofen und hohem Federbett. Und daß Klaus Spreemann darin der Hausherr war.
Was dem Vater der Krieg gewesen, war dem Sohn der Frieden geworden. Von allen Seiten war man durch die friedenbehüteten Tore gezogen, hatte sich seßhaft gemacht und war Berliner geworden. Und da man so wohl sich's auch lebte im werdenden Wohlstand doch nicht im Paradiese war, so hatte man Kleider gebraucht. Kleider und wieder Kleider. Trotz aller Sparsamkeit.
Klaus Spreemann hatte nicht nach Käufern zu suchen gebraucht. Er hatte nur reell und billig zu sein. Zumal auf dem Firmenschild.
In den zwanzig Jahren, die seit seiner Jünglingszeit verflossen waren, hatten sich die Berliner um das Doppelte vermehrt.
Dazu hatte Klaus Spreemann allerdings nichts beigetragen.
Aber auch das war verzeihlich.
Er hatte keine Zeit für Ehe und Liebe gehabt. Alle seine Tage hatten der Arbeit gehört. Einer wie der andere. Denn damals war es noch keine Sünde, auch Sonntags ein gutes Geschäft zu machen. Erst zu vielen Jahren gereiht, hatten alle diese zähen Stunden diesen heimlichen Wohlstand geschaffen.
Doch auch ohne um Amors Reich zu streichen, hatte Klaus Spreemann mehr Freuden genossen als die meisten seiner Mitbürger.
Man kann seine Abstammung vor andern verbergen, aber nicht vor sich selbst.
Keiner, wie Klaus Spreemann selbst, konnte ganz und voll ermessen, was es heißen wollte, des Morgens in sonniger Stube ein kühles Leinenhemd über die gepflegte Haut rieseln zu lassen. Oder sich an einen Tisch zu setzen, der sauber gedeckt war, wo Messer und Gabeln blank, mit reinlichen Horngriffen und später sogar mit Elfenbeinenden neben dem guten Berliner Porzellan lagen und Speisen aufgetragen wurden, die auf dem eigenen Herde gekocht waren. Wer begriff, was es sagen wollte, dann mit vollem Magen, die lange Pfeife im Mund, in der Ladentür zu stehen und sich von den besten Bürgern höflich grüßen zu lassen.
Wer von seinen Nachbarn wußte, was es bedeutete, des Abends, wenn draußen der Regen rauschte und die Hunde die müden Schritte eines nächtlichen Wanderers umkläfften, unter das hohe Federbett zu kriechen und an das Dunkel der Landstraße, an die schmutzigen Strohsäcke der Herberge zu denken.
Ruhe und Zufriedenheit gab das.
Selbst die schmerzlich süßen Vorfrühlingstage, wo die weiche Luft mit Veilchenduft gemischt ist, obwohl sie noch nirgends blühen, und jeder sich wünschevoll fragt: »Was wollen alle die schönen Tage, wird einer auch mir etwas bringen?« erregten Klaus Spreemann nicht. Er wußte genau, was sie ihm bringen würden: Eine gute Säson.
Und ebensowenig beunruhigten sein Gemüt die ungewohnten Pfiffe der neuen Eisenbahn, die dann und wann vom Potsdamer oder Anhalter Tore über die Stadtmauer schrillten. Er sagte, daß man auch in Berlin Sonne und Mond sehen könne. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß es irgendwo in der Welt schöner sein könne als hier.
Ganz früher, ehe er das war, was er heute geworden, war er wohl manchmal an sommerlichen Sonntagsabenden mit irgendeinem runden Mädchen durch die Kornfelder nach Tempelhof und Schöneberg gewandert. Oder hatte auf dem Stralauer Fischzug eine rotbäckige Schöne einige Runden hindurch auf dem klingelnden Karussell begleitet auf hochgebäumtem und doch sicherem Pferde. Aber nie hatte er solche Ausfälle mit den Gedanken an seine Zukunft verbunden.
Zu dieser gehörte eine Dame.
Zwischen die Mullgardinen und die buntbemusterte Tapete hätte nur eine von den hübschen Demoisellen gepatzt, die an der Seite ihrer Mama den duftigen Tarlatan für die Ballkleidchen bei ihm kauften.
Aber im Privatverkehr mit seinen Kunden fühlte sich Klaus Spreemann unsicher. Besonders den jungen Damen gegenüber, die immer über etwas Unbekanntes kicherten und lachten, so daß man ängstlich nach allen seinen Knöpfen zu fassen begann.
Mit den Herren und auch mit den älteren Damen war es leichter gewesen, auf dasselbe Niveau zu kommen. Dazu hatte beinahe der einzige Erziehungslehrspruch zugereicht, den er aus seiner Kindheit behalten hatte. Und den er der Latrinen-Jule verdankte.
»Guter Ton ist nichts weiter als Katzenfreundlichkeit,« hatte sie mehr als einmal gesagt, wenn sie mit den andern städtischen Beamtinnen ihres Berufs beisammen saß und Strümpfe strickte oder sich mit einer der langen Stricknadeln hinterm Ohr kratzte.
Mit diesem Satz konnte man weiter kommen, als man glaubte.
Nur bei den jungen Damen reichte er nicht aus.
Darum hatte sich Spreemann, als seine Wohnung immer gemütlicher wurde, sogar verleiten lassen, ein Buch anzuschaffen, von dem jetzt viel die Rede war, weil es über den Umgang mit Menschen belehrte.
Aber was da an Nachsicht, Höflichkeit und Geduld seinen Mitmenschen gegenüber gefordert wurde, hatte Klaus Spreemann im Blut sitzen. Daß man sich vor weichen, verworrenen Wünschen hüten sollte, war ihm ebenfalls selbstverständlich.
Über die Liebe jedoch fand er nur etwas Bemerkenswertes: Daß man dem geliebten Gegenstand nicht stundenlang ins Gesicht starren dürfe. Das wäre Klaus Spreemann ohne dies niemals eingefallen. Einzig neu war ihm, daß man auch seine ernsten Absichten nicht dem geliebten Gegenstand anvertrauen dürfe, sondern nur dem in Frage kommenden Papa.