Allmählich wurde ihr Schluchzen milder, verlosch. Sie richtete sich auf, fuhr mit beiden Händen über das heißgeweinte Gesicht, sah fremd um sich. Nach einer Weile machte sie mit der Linken eine starre Geste, als zöge sie einen Strich: »Finita la commedia! Ich gehe heim zu meinen Rosen, meinen Büchern und meinen Bildern! In der Einsamkeit will ich vergessen, wer ich war und was ich ertragen habe!«
Der Reporter wartete noch einige Augenblicke. Da sie nichts mehr sprach, erhob er sich, um ihr zu danken und zu gehen. Sie hüllte sich jetzt fröstelnd in ihren Mantel, reichte ihm mit einem rührenden Ausdruck der Erschöpfung die Hand.
»Leben Sie wohl, Herr Doktor! Es hat mir wohlgetan, einmal mit einem Menschen zu reden, der wirklich ein Mensch ist. Und nicht wahr, es bleibt unter uns, Sie geben nichts davon in die Zeitung? Ich habe mich vielleicht von meinen Empfindungen hinreißen lassen und es wäre mir peinlich, wenn die Welt davon erführe. Die Welt braucht nichts zu wissen, als daß Meta Martens aufhört, Komödie zu spielen. Leben Sie wohl, Herr Doktor! Sie haben doch einen guten Platz für heute abend? Das Haus ist schon seit vorgestern ausverkauft. Also auf Wiedersehen heute abend! Wenn Sie mich heute auf der Bühne lachen und jubeln sehen, dann denken Sie ein wenig daran, wie unglücklich Meta Martens im Leben ist!«
Der Reporter ging.
Der Kopf war ihm benommen von der warmen parfümierten Luft, dem Blumenduft, den Worten und den Gesten der Martens. Während er auf die Redaktion eilte, um sein Interview gleich an Ort und Stelle zu verfassen, dachte er bei sich: »Was für ein Weib! Was für ein wundervolles Weib!«
II
Meta Martens blieb einige Augenblicke in derselben Stellung und in denselben Gedanken. Dann begann sie im langsamen Spiel mit den Händen durch den weißen Pelz zu gleiten. Es freute sie, die schwarzen Schwänzchen durch die Finger schlüpfen zu lassen und zu sehen, wie durchsichtig ihre Finger erschienen. Einmal nahm sie einen Zipfel des Mantels und trocknete die letzten Tränenspuren auf ihren Wangen. Sie ging zur Klingel, um ihre Kammerjungfer herbeizuläuten, die goldbraune Strähne mußte ja wieder aufgesteckt, die ganze Frisur ein wenig in Ordnung gebracht werden. Sie war unangenehm überrascht, als der Kellner meldete, die Kammerjungfer sei ausgegangen. Sie sagte ziemlich barsch: »Ausgegangen? Das ist ja unglaublich! Sie hat doch nicht ohne meine Erlaubnis auszugehen!«
Das Stubenmädchen der Etage schlüpfte herbei und erläuterte, daß Fräulein Therese schon seit drei Stunden unterwegs sei.
»Sie hat gesagt: im Auftrag der gnädigen Frau! Ich glaube, sie holt Blumen für die gnädige Frau «
Die Martens besann sich einen Augenblick. Ach ja, richtig, sie selbst hatte Therese weggeschickt. Sie wollte für heute abend einen Strauß weiße Rosen haben, sieben weiße Rosen mit dunkelroten Deckblättern . . . Sie hätte einfach nicht spielen können ohne die sieben weißen Rosen. Heute nacht erst war ihr die Idee gekommen, wie stimmungsvoll sieben weiße Rosen mit purpurnen Deckblättern zu der Dämmerung des dritten Aktes, zu ihrem malvenfarbenen Gewand und ihren schwermütigen Liebesworten wirken müßten. Solche Ideen kamen ganz plötzlich, ganz intuitiv über sie und mußten dann ausgeführt werden, gleichviel um welchen Preis. Es war dann, als ob die Gestalt, die sie darstellen sollte, mit solch einer Intuition verwachsen sei und nur mehr Schemen bliebe, wenn man sie davon losreißen wollte. So hätte sie heute abend eben einfach absagen, Bachmanns »Rodogune« nicht spielen können, wenn Therese nicht die sieben weißen Rosen mit purpurnen Deckblättern herschaffte. Meta Martens seufzte. Ach ja, man war eben immer und überall ein Sklave des Ruhmes. Sie ließ sich wieder in ihren Sessel fallen und bestellte bei dem Kellner das Mittagsmahl. Nicht viel, sie hatte wenig Appetit und hielt sich knapp, wenn sie abends spielte. Nur ein wenig Hühnerbrühe, eine Forelle, ein kleines Vol-au-vent und einen Löffel Eiscrême.
»Befehlen gnädige Frau sogleich zu speisen?«
»Nein, in einer halben Stunde,« sagte sie leise und begann wieder mit den schwarzen Schwänzchen des Hermelins zu spielen. Gerade aber, als der Kellner unhörbar davonhuschen wollte, rief sie ihn zurück: »Bitte, sagen Sie auch dem Herrn Direktor, daß ich auf der nächsten Rechnung keinen Irrtum zu finden wünsche. Vorgestern war wieder eine Eierspeise notiert, die ich nicht gehabt habe und auch die Zimmer sind mit fünfunddreißig Mark berechnet, trotzdem ich ausdrücklich gesagt habe, daß ich nicht über dreiunddreißig gehe. Wenn man fortfährt, mich in dieser Weise zu übervorteilen, steige ich das nächste Mal nicht mehr hier ab!«
Ihre weiche Stimme war immer härter und lauter geworden. Der Kellner verbeugte sich, versprach, dem Herrn Direktor die Wünsche und Beschwerden der gnädigen Frau zu übermitteln und verschwand.
Meta Martens machte sich daran, den Posteinlauf durchzusehen und allerlei, was sonst noch für sie abgegeben worden war. Ein ganzer Stoß Zeitungen lag da. Sie durchblätterte sie rasch, überschlug alles und las nur die Theaternachrichten, vor allem die Notizen, die sich mit ihr beschäftigten und dachte bei sich: »Seltsam! In einem halben Jahr wird dich das alles nicht mehr interessieren, wird dein Name hier nicht mehr stehen!«
Sie las eifrig, lächelte zufrieden, als sie sah, wie laut und einstimmig ihr Scheiden beklagt wurde. Die Briefe interessierten sie weniger, machten ihr Mißtrauen rege. Es waren immer zuviel Bettelbriefe dabei, zuviel Menschen, die Geld, Fürsprache oder Interesse von ihr verlangten. Meistens mußte Therese, die ein gebildetes Mädchen war, die Korrespondenz zuerst durchsehen, die Bettelbriefe in den Papierkorb werfen und nur die uneigennützigen Bewunderungsschreiben der Herrin übermitteln. Ja, Therese war ein Juwel! Ein Mädchen aus guter Bürgersfamilie, das sein Lehrerinnenexamen gemacht, hatte sie sich nur aus Begeisterung für die Kunst der Martens zum Zofendienst bei ihr gemeldet, ließ sich wie ein Dienstbote behandeln und ins Gesindezimmer schieben, nur um bei der vergötterten Künstlerin bleiben, ihr dienen zu können.
Die Martens ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, sah hin und wieder nervös nach der Uhr. Wie lange Therese doch ausblieb. Seit drei Stunden war sie nun unterwegs, Zeit genug, um ein ganzes Treibhaus zu plündern! . . . Und sollte doch nichts heimbringen als eine Handvoll weißer Rosen.
Carry Brachvogel
Komödianten
I
»Wir können es immer noch nicht glauben, gnädige Frau! Wir hoffen immer, daß Sie Ihren Entschluß doch noch ändern werden, daß dies nicht Ihre letzte Tournee ist . . .«
»Nein, mein lieber Doktor, täuschen Sie sich nicht! Ich ziehe mich von der Bühne zurück unwiderruflich zurück! Unwiderruflich! Ich könnte dies Leben nicht länger ertragen, diese Strapazen, diese Aufregungen, diese . . . diese . . . Ich kann es nicht sagen, Sie verstehen mich schon!« Sie machte ein paar nervöse, zupfende Bewegungen mit den Fingern. »O, wenn man mit dem Herzen spielt, mit der Seele . . . Wenn man jeden Abend alles wieder aufs neue erlebt . . . Das reißt an einem, das vernichtet. . . . Denken Sie doch, daß ich voriges Jahr in Südamerika innerhalb zwei Monaten sechzigmal gespielt habe! Abends gespielt, nachts gefahren, und am nächsten Morgen Probe . . .«
»Ihre Spannkraft ist bewundernswert, gnädige Frau!« Sie fuhr sich mit der Hand breit über die Stirn, als wollte sie etwas wegwischen, genau so, wie sie sich als »Magda« über die Stirne zu fahren pflegte vor der großen Szene mit dem Regierungsrat Keller.
»Meine Spannkraft ist zu Ende . . . ich selber bin zu Ende, und alles muß jetzt ein Ende haben, alles . . . O, wenn Sie wüßten, was mein Leben ist! Was für ein Elend, ja, ja, Elend . . . Elend . . .«
Sie preßte den Kopf ein wenig hintenüber in das Kissen des hochlehnigen Sessels, in dem sie mehr lag als saß. Sie schloß die Augen, glich mit den breiten Lidern, dem verkürzten Kinn auffallend den herben Heiligenbildern, die sie so gern von sich fertigen ließ.
Der Reporter ihr gegenüber stenographierte eifrig in sein Notizbüchlein. Er war ein ehrgeiziger, junger Mann und wollte seinem Blatt ein Stimmungsfeuilleton über die gefeierte Tragödin liefern. Darum notierte er, was sie sagte und weil sie nach dem letzten »Elend« immer noch schweigend mit geschlossenen Augen verharrte, ließ er seine Blicke ein wenig in dem Hotelsalon umhergehen. Es war ein großes, hohes Gemach, mit weißen Rokokomöbeln und blassen, kirschfarbenen Seidenbezügen. Auch die Wände waren mit Seide bespannt, von dem üppigen Stuckplafond schwebte eine irisierende Venezianerkrone herab. Ein dicker kirschfarbener Smyrna deckte das Parkett, die Luft war weich, sehr warm und leicht parfümiert. Überall, auf Tischen, Konsolen und Taburetts standen Blumen umher, Blumen, mit denen jeden Morgen die Verehrer- und Verehrerinnenschar Meta Martens begrüßte. Draußen auf den Dächern lag noch Schnee, hier aber blühte der Frühling, der Sommer aller Länder. Lichter Krokus, rote Anemonen und porzellanweiße Narzissen redeten vom Süden, blasser Flieder, rosenfarbene Zentifolien träumten von einem deutschen Lenz, kraus und bizarr drängten sich braune und weiße Chrysanthemen in einer hohen Japanvase und neben ihnen standen rätselvoll mit unheimlichen Flammenzungen englische Orchideen, die tagsüber den Atem anhalten und ihn erst verhauchen, wenn die Nacht kommt. . . . Über einen Fauteuil war nachlässig ein weiter, ärmelloser Mantel aus dunkelgrünem Samt hingeworfen. Er war mit einer köstlichen, alten Stickerei geziert und mit Hermelin gefüttert. Meta Martens hatte ihn immer neben sich, weil sie leicht fror und im Hause nie etwas anderes trug, als fallende Gewänder aus weißem Crêpe de Chine.
Der junge Reporter buchte eifrig, was er um sich her sah. Da er nur ein Amt und keine Meinung zu vertreten hatte, fiel ihm der Gegensatz nicht auf, der zwischen »elend . . . elend . . .« und der Fülle dieses Gemachs lag. Als die Füllfeder genug aufgezeichnet hatte, schlug Meta Martens wie aus tiefem Traum erwachend die Lider auf und senkte ihren Kopf ein wenig gegen die Brust; sie sah jetzt nicht mehr wie ein herbes Heiligenbild aus, sondern ganz menschlich und ziemlich verblüht. Ihre Oberlippe zuckte nervös genau so, wie sie zuckte, wenn »Nora« ihrem Mann vorhält, daß sie ihm immer nur ein Spielzeug gewesen sei . . .
»Nein, ich bin es müde, diese Unrast weiter zu schleppen. Was ist denn unsereins eigentlich?! Ein Sklave. Ein Sklave des Impresario, ein Sklave der Kritik, ein Sklave des Publikums . . .«
Die Füllfeder beeilte sich, dies hochoriginelle Aperçu festzuhalten. Während er schrieb, sagte der junge Reporter mit einem süßen Lächeln und einer diskreten Verbeugung: »Ich glaube, gnädige Frau, eine Sklaverei, wie Sie sie ertrugen, ist nicht hart. Sie sind doch auf Händen getragen worden, von der Kritik wie vom Publikum «
Meta Martens meinte eine leise, eine ganz leise Mißstimmung in seinen Worten zu hören. Sie lenkte ein. Sie stützte den Kopf in die Hand, sah mit schwimmenden Augen und durchleuchtetem Gesicht in die Ferne, genau so, wie sie als Rebekka West schaute, wenn sie Rosmer enthüllt, daß er das Adelige in ihr erweckt habe. »Ach ja, die Stunden, da man die Zuhörer in seinem Bann hält, da man sie zwingt, mitzugehen, wohin man will, vom Gefühl zur Ekstase, von der Ekstase zur Verzweiflung, zur Raserei, ja, diese Stunden lohnen uns wohl all die Qual, die unser Leben sonst bedeutet. Und das Publikum in Deutschland ist wie kein andres, es gibt kein Publikum der Welt, das auch nur annähernd so verständnisvoll, so intelligent, so begeisterungsfähig wäre.« Sie machte wie zufällig eine kleine Pause, damit der Reporter ihre Liebeserklärung an das deutsche Publikum ganz genau aufschreiben konnte. »Und die Kritik, Herr Doktor, ich kann wohl sagen, daß die deutsche Kritik mich immer verwöhnt hat, sehr, sehr verwöhnt. Ich war mitunter wirklich beschämt, wenn ich die Zeitungen las. Man weiß ja doch selbst, wie weit auch die beste Leistung, die man gibt, hinter dem zurückbleibt, was man geben wollte. Auch darin ist Deutschland vorbildlich « Sie hielt inne, denn sie wußte im Augenblick nicht genau, ob der Reporter ein kerndeutsches Blatt vertrat oder ein kosmopolitisch gefärbtes. Man hatte ihr einmal gesagt, daß die letzteren nicht für allzu scharfe Betonung heimischer Art schwärmten, darum wollte sie vorsichtig sein. »Aber diese wenigen Stunden, in denen wir fühlen und erfahren, daß wir Herzen gewonnen haben, sind ja auch die einzigen, die lebenswert sind; der Rest «Sie brach ab und schwieg. Schwieg jenes beharrliche, halb eigensinnige, halb trostlose Schweigen, mit dem sie als Marguerite Gautier zweihundertmal im Jahr ihr Publikum schluchzen machte.
»Und was gedenken gnädige Frau denn zu tun, wenn Sie der Bühne endgültig Valet gesagt haben?«
»Ich werde heimgehen zu meinen Rosen, meinen Büchern und meinen Bildern. Mir ist bis jetzt so wenig Zeit geblieben, um meinen Neigungen zu leben. Alles hat das Theater aufgefressen, alles! Immerfort habe ich nur für die andern gelebt, nun kann ich endlich für mich leben!«
»Gnädige Frau werden also den größten Teil des Jahres auf Ihrem Schloß verbringen?«
Sie lachte hell auf: »Mein Schloß?! Das ist köstlich! Mein Schloß ist ein Bauernhaus oder nein, ein klein wenig mehr, als ein Bauernhaus. Ein schöner Garten ist dabei, ein Stück Wald und weite Wiesen. Da werde ich wie eine Bäuerin leben, ich werde endlich in der freien Natur leben, die ich über alles liebe. An Regentagen werde ich in meinem behaglichen Zimmer sitzen und lesen, o, keine Dramen, gar nichts, was mich an das Theater erinnert, sondern die großen Werke aus früheren Zeiten, Philosophie und Astronomie. Für Astronomie interessiere ich mich besonders.«
Der junge Reporter versuchte geistreich zu sein und meinte, daß Sterne selbstverständlich Interesse für einander haben müßten. Sie neigte ein wenig das Haupt, legte ihre Hand, an deren Mittelfinger ein großer Rubin funkelte, leicht auf seinen Arm. »Bitte nicht, Herr Doktor! Sie sollen mir keine Komplimente machen. Ich verliere alle Fassung, wenn man mir Schmeicheleien sagt! Ich gebe mich so gerne, wie ich bin, bitte, nehmen Sie mich auch so! Es gibt für mich nichts Peinlicheres, als Schauspielerinnen, die immer Schauspielerinnen sind, die sich immer zur Schau stellen, im Leben wie auf der Bühne. Ich finde das schamlos. Das Letzte, Höchste darf man nicht preisgeben. Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor?«