Robert Kraft
Der König der Zauberer oder Im Lande des lebenden Todes Heft 6
Auszug aus der erklärenden Einleitung zum ersten Bändchen
Richard ist bis zum zwölften Jahre ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.
Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:
In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammerthür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Thür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Thür überschritten, dann ist an dem Laufe der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen.
Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traume einen Ersatz für sein unglückliches Leben.
Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingiebt.
Im Rettungsboot
Alle Rechte vorbehalten.
Zwischen den Inseln des polynesischen Archipels trieb auf ruhigem Wasser ein Boot, mit zwei Männern besetzt, von denen der eine die Ruder, der andere das Steuer handhabte.
Es waren die letzten der Besatzung eines deutschen Segelschiffes, das in einem Typhon seinen Untergang gefunden hatte. Nur Richard Brandt, der zweite Steuermann, und ein Matrose waren dem Tode entgangen, indem sie sich an einem durch dem Wirbelsturm zufällig losgelösten Boote angeklammert hatten, denn zum Aussetzen der Boote war keine Zeit gewesen. Es gelang ihnen, sich festzuhalten, bis der alles verheerende Typhon vorübergebraust war und ein gewaltiger Regenguß schnell das aufgewühlte Meer beruhigte. Nun richteten sie das gekenterte Boot wieder auf und schwangen sich hinein, und da Ruder und Steuer glücklicherweise festgebunden gewesen waren, konnten sie sich, als nach der furchtbaren Nacht die Sonne wieder aufging, wenigstens vorläufig als gerettet bezeichnen, denn ihre Lage war immer noch eine ganz verzweifelte.
Sie befanden sich im polynesischen Inselarchipel. Das wußten sie. Schlägt man im Schulatlas die Karte des Stillen Oceans auf, so sieht man es darin von kleinen Inselchen wimmeln, die so dicht nebeneinander liegen, daß man sich einbildet, von einer Insel zur anderen schwimmen zu können.
In Wirklichkeit aber ist das ganz anders. Ungefähr dreißig Seemeilen weit reicht auf offenem Meere das Auge, aber die beiden Schiffbrüchigen sahen nichts als Himmel und Wasser, und sie konnten vielleicht wochenlang hin- und herfahren, ohne eine Insel in Sicht zu bekommen.
Hier nützte auch alle Erfahrung des nautisch gebildeten Steuermannes nichts. Ohne Kompaß, Sextant und Seekarte befand er sich in der Lage eines unwissenden Kindes, und außerdem besaßen sie keinen Proviant und keinen Tropfen Trinkwasser.
Dennoch ließen sie den Mut nicht sinken. Ihre einzige Hoffnung auf vollständige Rettung konnte nur darin bestehen, eine Insel zu erreichen oder einem Schiffe zu begegnen. Dazu mußten sie zunächst aus einer Gegend kommen, in der nichts zu sehen war, und so führten sie denn, sich gegenseitig ablösend, wacker die Ruder, indem sie durch Beobachten der Sonne einen möglichst geraden Kurs steuerten und nach dem Horizont und den Vögeln spähten, die allein jetzt Land verraten konnten.
Immer höher stieg die tropische Sonne und brannte mit versengender Glut auf die unbedeckten Häupter der Schiffbrüchigen herab. Schon machte sich der Wassermangel in unangenehmer Weise fühlbar, und bereits sahen sich zwei stiere Augenpaare an, wenn die vor Hitze aufgesprungenen Lippen auch noch von Mut und Hoffnung sprachen.
Das ausgestorbene Schiff
Ein Schiff! Gelobt sei Gott, das ist ein Schiff! jauchzte plötzlich Gustav, der Matrose, als er den Kopf einmal nach einer anderen Richtung wandte, mit heiserer Stimme auf.
Sie hatten beide längere Zeit nach Osten geblickt, wohin ein Schwarm Vögel strebte, und miteinander beraten, ob das wohl Landvögel seien. Nun sahen sie mit einem Male in der anderen Richtung ein Schiff, und zwar nicht nur als dunklen Punkt, nein, sie konnten sogar deutlich die Segel desselben unterscheiden.
Sie hatten wohlweislich dem leichten Winde entgegengerudert, und dieser brachte das Schiff, während sie darauf zuruderten, ihnen schnell näher. Nach einer halben Stunde konnten sie es deutlich erkennen. Es war ein kleiner Schoner, der nur wenige Segel gesetzt hatte und daher langsamer segelte, als es bei dem Winde möglich gewesen wäre. Nach einer weiteren halben Stunde riefen sie es an jetzt waren sie gerettet! Als sie sich jedoch dem Schiffe näherten, sagte Richard betroffen: Merkwürdig, ich sehe wohl das Steuerrad, aber es steht kein Mann daran.
Es war überhaupt kein Mensch auf dem niedrigen Deck zu sehen. Doch so verödet liegt das Deck von Schiffen zuweilen da, es befindet sich oftmals, wenn die Takelage in Ordnung und der Wind konstant ist, kein Mensch darauf. Aber stets muß am Steuerrade ein Matrose stehen, und daß der hier fehlte, war wirklich ein Rätsel.
Ein starkes Tau hing außenbords herab. An ihm kletterten die beiden Schiffbrüchigen nun hinauf, indem sie das Boot sich selbst überließen. Gustav war zuerst oben, und der nachfolgende Steuermann hörte ihn einen Schrei des Schreckens ausstoßen. Dann stand auch er starr vor Entsetzen da.
In dem tief liegenden Boote hatte sich ihnen vorhin der Anblick entzogen, der sich ihnen jetzt hier oben bot: auf Deck lagen gegen zwanzig Männer, alle lang ausgestreckt, ohne ein Zeichen des Lebens von sich zu geben, also tot und doch nicht tot. Denn wenn man nicht annehmen wollte, daß sie erst vor wenigen Minuten alle samt und sonders gleichzeitig von einer plötzlichen Todesstarre befallen worden waren, so hätten die Leichen ganz anders aussehen müssen. Aber keine Spur von Todesqual war in den Zügen, kein Zeichen von Verwesung. Es war, als seien sie eben erst mitten in der Arbeit vom Schlage getroffen worden. Ja, es mußte in der That so sein; noch vor einer Minute konnte der Matrose, der jetzt kalt und starr neben dem Steuerrade lag, dieses fest in der Hand gehalten haben, denn das Schiff war ja bisher vor den Wind gesteuert worden und wurde erst in dem Augenblicke, als die beiden Unglücksgefährten es betraten, plötzlich steuerlos und kam aus dem Wind, sodaß die Segel klatschend gegen die Rahen schlugen. Doch nicht dieser Umstand allein versetzte die Seeleute in Schrecken, auch der Anzug, den die Männer trugen, übte eine unheimliche Wirkung auf sie aus. Lebte man denn im Mittelalter? War dieses Schiff etwa nicht ein moderner Schoner, erbaut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts? Wie kam es, daß alle diese Männer die Kleidung eines viel früheren Jahrhunderts trugen, lange Schoßröcke mit Gürteln und blanken Knöpfen, kurze Kniehosen aus Samt, Wadenstrümpfe und Schnallenschuhe? Weshalb hatten sie das lange Haar in der Mitte gescheitelt und die Bärte wegrasiert?
Das ist der fliegende Holländer, flüsterte endlich Gustav, fast mit geisterhafter Stimme, am Tage sind die Männer hier tot, erst bei Nacht werden sie wieder lebendig.
Obgleich Richard selbst von jenem Grausen befallen worden war, das ein so schauerliches Rätsel auf jeden ausüben mußte, sprang er doch, sich ermannend, sofort an das sich planlos drehende Steuerrad, brachte den Schoner wieder vor den Wind und band die Speichen fest.
Dann wandte er sich an den ihm zunächst liegenden Matrosen, der das Steuerrad geführt hatte vorausgesetzt, daß dieser auch wirklich ein Matrose gewesen war, denn er glich in seinem sauberen Kostüm aus einem sehr feinen, Richard ganz unbekannten Stoffe und mit den seidenen Strümpfen eher einem reichen Mynheer aus dem zehnten Jahrhundert und nun begann er, seine Furcht bezwingend, ihn näher zu untersuchen. Der Mann war thatsächlich tot, kalt und noch ganz steif, als wäre er vor fünf Minuten erst plötzlich gestorben. Oder hatte Gustav recht, und hielt die Totenstarre nur während des Tages an, um bei Nacht wieder dem Leben zu weichen?
Aber das moderne Schiff! Ein solches besaß der fliegende Holländer in der Fabel doch nicht!
Der starke Gustav war jetzt zu allem unfähig, er stierte nur immer mit entsetzten Augen auf die altertümlich gekleideten Leichen. So begab sich Richard allein unter Deck. Das Schiff war wohl verproviantiert, sogar mit Brot, das noch ganz frisch war, auch mit geräucherten Fleischwaren, als hätte es eben erst einen nördlichen Hafen verlassen. Richard löschte seinen Durst und aß etwas, rief dann nach Gustav und inspizierte, da dieser seinen Durst vor Schreck ganz vergessen zu haben schien, die Innenräume allein weiter. Schiffspapiere, die er hauptsächlich suchte, fand er nicht; nicht ein einziges war vorhanden. In der Kajüte stieß er jedoch noch auf zwei Leichen, darunter befand sich die einer jungen, schönen Dame, die in eine Art von weißem Nachtgewand gekleidet war.
Ein ganz modernes Schiff, mit allem ausgerüstet, was die Neuzeit den Seefahrern an Proviant, nautischen Instrumenten, Karten und anderem bietet, besetzt mit der Mannschaft einer alten, ausgestorbenen Generation, wie mit den Puppen aus einem Wachsfigurenkabinett! Menschen aus Fleisch und Blut, tot und dennoch keine ausgetrockneten Mumien da konnten sich die Haare vor Entsetzen sträuben!
Die Galeere
Steuermann, kommt herauf, ein neues Wunder! erklang da soeben auf Deck Gustavs ängstliche Stimme.
Richard sprang nach oben. Dort schoß ein Schiff heran ziemlich groß, von ganz alter Bauart, mit übermäßig hoher Back und hohem Hinterteil, ohne Masten nur von langen Rudern getrieben, die an jeder Seite in doppelter Reihe hervorsahen eine alte Galeere im neunzehnten Jahrhundert! An eine französische Strafgaleere mußte wenigstens im ersten Augenblicke wohl jeder denken. Der klassisch gebildete Seemann dagegen erkannte sofort, daß er der Bauart nach ein römisches Ruderschiff aus dem Altertum vor sich hatte!
Das Rätsel wurde immer geheimnisvoller. Oder vielmehr jetzt fand es seine Lösung.
Das Ruderschiff fuhr nämlich auf den ausgestorbenen Schoner zu, und als jetzt Richard, dem Beispiel des Matrosen folgend, ebenfalls hinter die Leinewand sprang, die lose vor der Back hing, und durch deren Löcher man alles beobachten konnte, sodaß man im Falle der Not sich auch von hier aus ins Innere des Schiffes zurückziehen konnte, erkannte er deutlich den Mann, der das hochstehende Steuerrad drehte, während sonst kein Mensch bei der Höhe der Brüstung auf der Galeere zu sehen war. Seltsam, der Steuernde auf dem Ruderschiffe aus dem klassischen Altertume trug ebenfalls das holländische Kostüm mit Schoßrock und Wadenstrümpfen!
Mit einem Schlage wurden jetzt alle Ruder, jedes wohl acht Meter lang und die oberen noch länger, auf der einen Seite eingezogen, dann legte das Schiff an, fielen Enterhaken, öffnete sich die hohe Bordwand an einer Stelle, schob sich eine Brücke nach unten hervor, und ein Zug von Menschen schritt darüber und betrat das Deck des Schoners.
Voran ging ein ältlicher Mann, im holländischen Kostüm eine Art von goldenem Heroldsstab in der Hand, hinter ihm schritten zwei andere Holländer in Kniestrümpfen und Schnallenschuhen, dann aber kamen drei Männer von ganz anderem Aussehen.
Der erste von diesen, jedenfalls die Hauptperson, war ein Greis mit schneeweißem Bart und Haupthaar. Er war gekleidet in eine wallende Toga aus einem leichten, himmelblauen Stoffe, das Gewand, das die alten Römer trugen, auf dem Haupte hatte er eine Krone aus Elfenbein, über und über besetzt mit den prachtvollsten Diamanten, die in der Sonne ein sinnverwirrendes Farbenfeuer ausstrahlten, und in der Hand hielt er ein Scepter, das ebenfalls aus Elfenbein und Diamanten zusammengesetzt war. Sein Gesicht war alt und runzlig, aber von einer gesunden, bräunlichen Farbe; kalt und klug blickten darin die großen, blauen Augen. Wohl mochte er eine ehrwürdige Greisenerscheinung sein, doch wegen der an Krone und Scepter gezeigten Pracht konnte man kein Zutrauen zu ihm gewinnen, man bewunderte nicht, sondern fürchtete sich nur, denn auch ein maßloser Stolz, gepaart mit Eitelkeit, welche Eigenschaften durchaus nicht zu einem Greise paßten, prägten sich in den Zügen wie im ganzen Wesen des Alten aus.
Die beiden Männer hinter ihm, noch Jünglinge, waren in ebensolche faltige Gewänder gehüllt, die bis an die mit Sandalen bekleideten Füße reichten und aus einem schneeweißen Stoffe bestanden. Der eine trug an einer seidenen Schnur eine große, goldene Flasche, der andere einen kleinen goldenen Becher.
Als diese das Deck des Schoners betreten hatten, fluteten ihnen noch eine Menge von Männern über die Brücke nach, die wieder wie Holländer aus vergessenen Zeiten, doch in gröbere Stoffe gekleidet waren und mehr den Eindruck von wirklichen Schiffern oder Arbeitern machten.
Zunächst stellten sie sich alle in militärischer Ordnung an der Bordwand des Schoners auf, als wenn sie weitere Befehle erwarteten.
Vor dem König der Zauberer
Der vorausgehende Herold blieb jetzt stehen, stieß den Stab dröhnend aufs Deck nieder und wandte sich mit einer ruckmäßigen Bewegung gegen den Blaugekleideten um. Dann sagte er mit schallender Stimme auf holländisch, welche Sprache sowohl Richard als Gustav verstanden:
Unser Gebieter hat befohlen, und sein Wort ist schon die Ausführung. Diese Flüchtlinge hier auf dem Schiffe sind des ersten Todes gestorben, als sie die Todesgrenze unserer Insel überschritten.
Er stampfte darauf nochmals mit dem Stabe auf, machte eine scharfe, halbe Wendung und trat einen Schritt zurück, um nun, steif wie ein Soldat, stehen zu bleiben.
Dies alles war offenbar eine Ceremonie, die man dem Greise schuldete, und die etwas Militärisches an sich hatte. Welch ein buntes Durcheinander!
Römer und ein Ruderschiff aus dem klassischen Altertume, ein moderner Schoner, alte Holländer und preußische Disciplin!