Kraft
Robert Kraft: RPh02 Die Totenstadt
Auszug aus der erklärenden Einleitung zum ersten Bändchen
Richard ist bis zum zwölften Jahre ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.
Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:
In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammerthür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Thür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Thür überschritten, dann ist an dem Laufe der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen.
Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traume einen Ersatz für sein unglückliches Leben.
Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingiebt.
IIDie TotenstadtAuf dem Kirchturme
Alle Rechte vorbehalten.Als Richard die Kammerthür öffnete, kam ihm eine schneidende Kälte entgegen, und wie er die Schwelle überschritt, sah er sich auf dem Söller des Kirchturmes seiner Vaterstadt.
Er stand nicht zum ersten Male hier oben und kannte schon das Panorama, das sich tief unter ihm ausbreitete.
Es war ein kalter, klarer Januartag eines schneereichen Winters. Der Schnee lag zu beiden Seiten der Straßen hoch aufgehäuft und hing festgefroren über die Dächer hinab.
Reizend war das lebende Bild, von hier oben aus gesehen. Wie die kleinen Menschlein in den Straßen trippelten, wie sie in den Durchgängen verschwanden und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kamen, wie die Pferdchen vor den winzigen Wagen trabten und die Droschkenkutscher unten am Halteplatze neben der Kirche die Arme um den Leib schlugen! Dort war der Schwanenteich; Schlittschuhläufer tummelten sich darauf, und weiter über die Stadt hinaus sah Richard die Umgegend unter dem weißen Leichentuche des Winters liegen, und nur dunkle Punkte bezeichneten die Lage der eingeschneiten Dörfer.
Plötzlich geschah dort unten etwas Besonderes. Zuerst sah Richard eine Dame hinfallen, die ausgeglitten sein mochte, und die nicht wieder aufstand, da ihr niemand behilflich sein mochte, dann stürzten zwei andere Menschen, dann ein Pferd und noch eins, und nun sanken die soeben auf der Promenade mit klingendem Spiel marschierenden Soldaten eines Regimentes in Reihen zu Boden, gerade so, als wenn man aufgestellte Bleisoldaten der Reihe nach umwirft. Und überall, wohin Richard auch blicken mochte, wiederholte sich dieses sonderbare Schauspiel.
Von hier oben beobachtet, wirkte es allerdings nur possierlich, dort unten aber schien eine Panik entstanden zu sein. Die ganze Stadt glich einem aufgestocherten Ameisenhaufen, die Straßenpassanten gingen nicht mehr nur in schnellem Geschäftsschritt, nein, jetzt rannten sie wirklich aufgeregt hin und her um dann früher oder später ebenfalls nieder zu stürzen und sich nicht wieder zu erheben.
Gleichzeitig merkte Richard noch etwas anderes. Bis vor einem Augenblick hatte er noch die schneidende Kälte verspürt; jetzt plötzlich wurde es ihm siedend heiß. Und das war keine Einbildung. Die Wärme lag wirklich in der Luft, denn plötzlich begann es von den Dächern zu tropfen. Es floß, es goß, und schon polterte der Schnee donnernd auf die Straßen hinab!
Richard verließ den Söller, um sich hinunter zu begeben.
Was sich Richard gewünscht hatte
Tag und Nacht entstehen durch die Drehung der Erde um sich selbst, der Wechsel der Jahreszeiten aber wird durch die Drehung der Erde um die Sonne verursacht. Dabei bleibt sich die Erdachse auf der elliptischen Laufbahn um die Sonne immer parallel. Diese Achse der Erde geht durch den Nordpol und durch den Südpol.
Nun hatte Richard gewünscht, daß sich die Achse der Rotation um neunzig Grad verschöbe, daß also die neuen Pole auf den bisherigen Aequator zu liegen kämen.
Die Insel Singapore wird von dem Aequator durchschnitten. Denkt man sich von ihr aus eine Linie durch das Centrum der Erde gezogen, so stößt man gerade auf die Stadt Quito in dem südamerikanischen Staate Ecuador. Diese beiden Punkte hatte Richard als die neuen Pole der Erdachse bestimmt.
Macht man sich dies auf einem Globus klar, so wird man finden, daß der dadurch entstandene neue Aequator durch Deutschland geht, und zwar genau über Leipzig. Dies hatte Richard gewollt. An einem eiskalten Januartage sollte seine Vaterstadt durch einen Rutsch der Erdachse plötzlich direkt auf dem Aequator liegen.
Die plötzliche Wärme und das Schmelzen des Schnees konnte er sich also wohl erklären, nicht aber das Umfallen von allem Lebendigen.
In der Totenstadt
Er hatte den Fuß der Turmtreppe noch nicht erreicht, als er schon auf eine Leiche stieß. Es war diejenige des Türmers, eines alten Mannes, der allein hier oben gehaust hatte.
Als Richard aus der Thür auf die Strafe trat, kam ihm vollens die Ueberzeugung, daß alles Lebende vernichtet worden war. Menschen, Pferde, Hunde, Tauben, Sperlinge alles lag tot da; sie konnten nicht gelitten haben, die Gesichter der Menschen zeigten wohl Angst, aber keine Leiden.
Doch nein, nicht alles war tot. Von einem Dache flatterte eine Schar Tauben herab und ließ sich zwischen den Leichen nieder. Wie waren diese dem Tode entronnen?
Daß eine Erdrevolution stattgefunden hatte, wie er es sich früher manchmal in Gedanken gewünscht, daß er sich nun plötzlich auf dem Aequator befand, dessen war Richard sich sofort bewußt gewesen, ohne sich darüber näher Rechenschaft geben zu können. Jetzt überlegte er nur, wie er selbst und diese Tauben noch zu leben vermochten, während alle anderen Menschen und Tiere doch verendet waren. Endlich fand er eine Erklärung. Die veränderte Erdumdrehung mochte doch nicht so ganz ohne alle Folgen geblieben sein. Vielleicht waren irgendwo anders vulkanische Ausbrüche erfolgt und der Erde giftige Gase entströmt, die, schwerer als die Luft, dicht über den Boden hinstrichen und in einem Augenblick alles darauf Lebende vergifteten, so daß nur noch die hoch über ihrem Bereiche befindlichen Wesen, wie zum Beispiel einzelne Vögel und er selbst, von dem Untergange verschont geblieben waren.
Die Aequatorregion machte sich immer mehr bemerkbar. Die mächtigen Schneehaufen schmolzen zusehends zusammen, die Schleusen konnten das Wasser nicht mehr schlucken, Bäche ergossen sich durch die Straßen, den Flüssen und tief gelegenen Teichen zu, deren Eis schon handhoch mit Wasser bedeckt war.
Richard warf Mantel und Jacke weg und hielt weitere Umschau in seiner Vaterstadt. Alles war tot, alles gehörte ihm! In den Geschäften lagen die Verkäufer tot hinter den Ladentischen, in den Restaurationen Wirt und Kellner tot neben den Gästen.
Er gelangte auf den Bahnhof. Auch dort war alles gestorben. Die Uhr ging noch, der Fahrplan sagte ihm, daß gleich ein Zug einlaufen müßte; aber es kam kein Zug, und niemals mehr konnte man auf die Ankunft eines solchen rechnen.
Dann fiel ihm ein, sich einmal in einem Hause umzusehen. Er betrat also das höchste in dieser Stadt gelegene fünfstöckige Gebäude, auf dessen Dache sich außerdem noch eine Mansarde befand. In der zweiten Etage lag ein Dienstmädchen; es hatte die Treppe gekehrt und die Vorsaalthür offen gelassen. Richard sah, daß die ganze Familie und auch die Katze den giftigen Gasen erlegen waren.
Er stieg noch höher, bis in die Mansarde hinauf. Auch hier war die Vorsaalthür geöffnet. In dem Wohnzimmer saßen ein Mann und eine Frau, die den Kopf auf den Tisch gelegt hatten.
Es mußte ein Schuhmacher sein, der hier zu Hause arbeitete; das Ehepaar hatte sich eben zum Frühstück hingesetzt; Brot, Butter, Käse und eine Schnapsflasche standen noch auf dem Tisch, als sie der Tod überraschte.
Schon wollte Richard wieder gehen, als er ein Röcheln vernahm. Die Frau bewegte sich! Er holte Wasser und rieb ihre Schläfe; sie kam zu sich, und dann auch der Mann. Das giftige Gas hatte hier oben nur noch eine schwache Wirkung gehabt.
Verstört vernahmen sie Richards Bericht. Sie vermochten ihm nicht eher zu glauben, als bis sie aus dem Fenster geblickt hatten. Dann gingen sie mit ihm auf die Straße hinab.
Die Herren der Erde
Es war ein noch junges Ehepaar ohne Kinder, der Mann war Schuster.
Schließlich begriffen sie, daß sie allein am Leben geblieben.
Herrjeh, Marie, rief der Mann, wenn niemand mehr lebt, dann gehört doch alles uns!
Vorsichtig nahm er einen schönen Spazierstock auf, dabei ängstlich nach einem toten Schutzmann blickend, dann warf er ihn wieder weg und untersuchte die Taschen eines elegant gekleideten Herrn, ließ auch wieder davon ab und betrat endlich den ersten Laden in seiner Nähe, ein Juweliergeschäft, um bald jubelnd, die Hände gefüllt mit Ringen und Uhren, wieder heraus zu kommen.
Auch die junge Frau fand sich rasch in ihre Lage, sie nahm einer vornehmen Dame Pelz und Hut ab und schmückte sich damit, obgleich die Sonne schon furchtbar heiß vom Himmel herabbrannte.
Vergebens bat Richard die beiden, sich doch mit ihm zu überlegen, was nun zu thun sei; hier in dieser Totenstadt könnten sie doch nicht bleiben, auch müßten sie an ihren Lebensunterhalt denken, da sie schon in kurzer Zeit keine Nahrungsmittel mehr haben würden.
Was, wir hätten bald nichts mehr zu essen? lachte der Schuster. Die Fleischerläden, die Handlungen mit Delikatessen alles steht uns ja frei. Jetzt gehe ich aber erst in eine Weinstube. Hei, nun soll ein Schlaraffenleben beginnen!
Damit stürzte er davon, in die nächste Weinhandlung, während die Frau neugierig in ein Modewarengeschäft trat. Als Richard ihr nachging, fand er sie vor einem Spiegel stehen, wie sie eine Reihe von Hüten ausprobierte. Die besten Gesellschafter hatte Richard gerade nicht gefunden, beide waren durch die ungewohnte Situation fast närrisch geworden.
Er sagte der Frau, daß er einem Ausflug in die Umgegend machen wolle, um sich zu überzeugen, wie es draußen aussehe, und da sie sich in der verödeten Stadt nicht leicht wiederfinden könnten, sollte sie nicht vergessen, auf den Altar der Kirche einen Zettel zu legen, wenn sie sich eine andere Wohnung wählten. Er würde es auch so thun, dann wüßten sie doch immer, wo sie einander zu suchen hätten. Die Frau bejahte zerstreut und sagte, sie wolle daran denken.
Dann ging Richard in ein Fahrradgeschäft, das auch Waffen führte, wählte sich das beste, für ihn passende Rad aus, ebenso das schönste Gewehr und einen Revolver, versorgte sich mit Munition und bestieg das Rad, um in die Umgegend zu fahren.
Dies alles zeigte, daß er selbst der Verlockung erlag, unbeschränkter Herr und Besitzer der Stadt zu sein, auch er griff nach dem, wonach sein Sinn stand. Er fuhr erst lange Zeit auf der aufgeweichten Straße, ehe es ihm einfiel, daß ihm ja niemand mehr verbieten könne, das Trottoir zu benutzen.
Nur eine halbe Stunde war mit seiner Ausrüstung vergangen, aber als er wieder durch jene Gegend kam, wo er die beiden Gefährten verlassen hatte, sah er bereits den Schuster, eine Champagnerflasche in der Hand, so betrunken durch die Straßen taumeln, daß auch er voraussichtlich bald wie eine Leiche am Boden liegen mußte, seine Frau aber stolzierte neben ihm als vornehme Dame einher, von oben bis unten mit blitzendem Schmuck behangen.
Richards Annahme
Die Landstraße war von der hochstehenden Sonne schon getrocknet. Von den Feldern war der Schnee weggeschmolzen, die frischen, grünen Spitzen der Wintersaat zeigten sich bereits und bildeten mit den unbestellten Aeckern und den blätterlosen Bäumen einen merkwürdigen Gegensatz. Auch ein auf der Landstraße stehender Schlitten nahm sich seltsam aus, der Kutscher war tot vom Bock gefallen, davor lag das Pferd. Ferner sah Richard viele tote Mäuse, Hasen und Vögel, alles hatte die Giftwelle vernichtet, doch wurde die Luft noch immer von Vögeln belebt. Aber ein vierfüßiges Tier schien nicht mehr zu leben.
Während des Fahrens überlegte sich Richard, daß der Schuster schließlich doch recht hatte, wenn auch anders, als er meinte. Eine Hungersnot konnte für sie nicht eintreten. Es mußte ja ungeheure Vorräte an Mehl und Hülsenfrüchten geben, die nicht so leicht verdarben, und bis dies geschah, war das Getreide und das Obst reif, das in dem neuen, heißen Klima herrlich gedeihen würde. An Fleisch konnte es ebenso wenig fehlen, dafür sorgten zunächst die Konserven, und dann gaben die Vögel, schon allein die Tauben, die sich stark vermehren würden, wenn man sie in Ruhe ließ, genug jagdbares Wild ab.
Wie mochte aber später, vielleicht in zehn Jahren, diese Gegend aussehen? Sie würde jedenfalls ein sehr glückliches Land werden. Getreide, Kartoffeln und Obst wuchsen dann gewiß in Ueberfluß und trugen hundertfältige Frucht, der Mensch brauchte ja nur etwas Fleiß auf das Land zu verwenden, das ihn ernähren sollte. An Fleisch mangelte es auch nicht. Die Plagen der südlichen Länder Schlangen, Skorpione, Mosquitos und so weiter fehlten ganz. Denn in dieser Gegend war nie eine Kreuzotter gefangen worden, und schließlich konnte man sich dieser kleinen Schlangen leicht erwehren, ihre furchtbare Gefährlichkeit spukte mehr in den Köpfen ängstlicher Menschen, als sie in Wirklichkeit vorhanden war. Ebenso wenig gab es Raubtiere.
Den bunten Charakter einer tropischen Region würde die Landschaft allerdings nicht annehmen. Sie blieb auch unter der Aequatorsonne die deutsche voller Eichen und Buchen, die sich allerdings zu Urwäldern vermehren würden, auch aus den Raupen in den Puppen, wenn diese nicht getötet wurden, konnten sich nur die bekannten deutschen Schmetterlinge entwickeln kurz, es blieb alles beim alten, die neue Lage auf dem Aequator änderte daran nichts. Nie würde ein Tiger den Wald, eine riesige Giftschlange das Feld, ein Krokodil das Wasser unsicher machen.
Alles das, was der Mensch zu seiner Bequemlichkeit bedarf, war noch für viele Jahre aufgespeichert, und ehe alles vom Witterungseinfluß zerstört worden war, hatte man sicher gelernt, sich zu behelfen. Mußte man sich dann zum Beispiel mit einem aus Pflanzenfasern selbstgewebtem Hemd begnügen, das Feuer mit dem Zündstahl anschlagen, die Tauben mit Pfeil und Bogen erlegen, so schadete dies alles nichts, schließlich würde man auch das wieder erfinden, was man verlernte.