»Du siehst genauso aus wie sie, so wunderschön.« Er hielt inne, bevor seine Hand ihre Wange erreichte und zog sie zurück. »Genauso wie sie.«
Rachel kniete sich vor ihm hin. »Was ist deiner Tochter zugestoßen?«
»Sie haben mich verfolgt, als ich mit Lepra geschlagen wurde. Die Soldaten befahlen mir, zu verschwinden und ich war bereit zu gehen. Ich habe mein Leben gelebt. Aber Rachel sie wollte mich nicht gehen lassen. Sie flehte die Soldaten an, mich zu verschonen und als sie es nicht taten, hielt sie einen der Soldaten fest und er er hat sie mit seinem Schwert erschlagen.«
Raphael hörte, wie sie ein leises Schluchzen ausstieß. Er beobachtete sie, als sie ihre Hand dem alten Mann entgegenstreckte. Sie hielt inne und warf Raphael einen Blick zu.
Er nickte ermutigend. »Nur zu«, flüsterte er.
Sie schluckte und legte ihre makellose Hand auf seine faltige.
Raphael lächelte angesichts ihres Gesichtsausdrucks und wusste, dass sie es fühlte die bedingungslose Liebe zu Seinem herrlichsten Geschöpf. Wie konnte man es nicht spüren? Er wusste, wenn die anderen Engel nur erst Kontakt mit Menschen hätten, wären sie in der Lage zu spüren, was er gefühlt hatte. Vielleicht war es das, was Luzifer brauchte. Wenn er unter ihnen wandelte und sie kennenlernte, wäre er sicher in der Lage, Liebe zu ihnen zu entwickeln. Vielleicht würde er nach seiner Rückkehr mit Michael darüber sprechen.
»Du erinnerst mich an sie«, fuhr der alte Mann fort. »Ragu was hast du gesagt, wie war dein Name?«
»Du kannst mich Rachel nennen. Es wäre mir eine Ehre, den Namen einer so furchtlosen Frau zu tragen, wie deine Tochter es war.« Sie warf Raphael einen Blick zu. »Von jetzt an bin ich Rachel.«
Er nickte ihr zu. Es überraschte ihn nicht, dass Raguel Rachel dazu bereit war, so etwas zu tun. Sie liebte innig. Sie war ein junger Engel und in vielerlei Hinsicht unerfahren, wenn es darum ging wie Himmel und Erde funktionierten. Sie war das Gegenteil von Uriel, der nur an sich selbst dachte. Wenn Uriel wüsste, wie sehr er ihr am Herzen lag, könnte ihr das gefährlich werden. Raphael hoffte um Rachels willen, dass Uriel nie von ihren Gefühlen für ihn erfuhr.
»Also, Ethan. Wie sieht es aus mit der Geschichte?« Er wollte gerade beginnen, als er in einiger Entfernung den Lärm wütender Stimmen vernahm. Er sah in die Richtung, in der Ai lag und sah eine Schar von Leuten in der Nähe des Stadttors, die in ihre Richtung marschierten.
Raphael erhob sich und nahm Ethan auf den Arm. Der Mob, der sich ihnen näherte, schien aus Männern der Stadt zu bestehen. Die meisten von ihnen trugen bunte Umhänge über ihren Gewändern etwas, das sich nur die Reichen leisten konnten. Er nutzte seine Gabe des verbesserten Sehvermögens und konnte die Angst hinter der Wut in ihren Blicken erkennen. Es war verständlich, dass sie Angst hatten, dass sich die Krankheit in der Stadt ausbreiten könnte. Genau diese Angst war es, die auch den gottesfürchtigsten aller Männer gegen seinen Bruder wenden konnte.
Raphael sah zu den Menschen der Zeltgemeinschaft. Sie waren schon einmal aus ihrem Zuhause vertrieben worden. Wohin sonst sollten sie sich wenden?
Wenn man ihre Ängste zerstreuen konnte, war er sich sicher, dass die Menschen in Ai ihre Mitbürger wieder bei sich willkommen heißen würden. Alles, was er tun musste, war, sie zu beruhigen. Er traute sich zu, dass er das schaffen konnte. Er musste nur mit ihnen sprechen.
Dann fiel ihm mitten im Mob ein Schimmern auf dann ein weiteres, und noch eines.
Die Menge teilte sich und machte den Soldaten Platz, deren Schwerter im Licht der Sonne glänzten. Raphael sank der Mut. Er wusste, dass die Soldaten der Vernunft kein Gehör schenken würden.
Er setzte Ethan ab. »Lauf in dein Zelt, Kleiner«, trug er ihm auf. »Bleib drinnen. Deine Mutter wird gleich zu dir kommen.« Dann, als Ethan im Zelt verschwunden war, rief er: »Miriam, komm schnell!«
»Was ist los?« Miriam wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
»Geh zu Ethan. Kommt nicht heraus, bis ich euch sage, dass es sicher ist.«
»Warum? Was ist «
Miriams Hand flog an ihren Hals und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, keuchte sie.
Raphael berührte sie am Arm. »Miriam?«
»Die anderen! Wir müssen die anderen warnen.« Sie riss sich von Raphael los. Ihr Gewand bauschte sich hinter ihr, als sie zu den anderen Zelten stürzte. »Rahab, Bithia! Sie kommen! Die Soldaten kommen!«
Raphael wollte ihr nacheilen, als dutzende von Menschen durch die Zeltgemeinschaft zu stürzten und ihre Habseligkeiten an sich zu reißen begannen. Er sah zurück zum Zelt, in dem Ethan wartete. Er konnte ihn nicht allein lassen.
Voller Trauer sah er die Angst in den Gesichtern der Menschen. Viele von denen, die dazu in der Lage waren, liefen auf das Tal zu und verschwanden in den Hügeln. Die anderen, zumeist Frauen mit ihren Kindern und die, die alt oder sehr krank waren, blieben hilflos sitzen. Er hörte ihre flehenden Stimmen.
»Wir haben nichts getan.«
»Wohin sollen wir denn gehen?«
»Wir sind von Gott verlassen. Gott hat uns alle verlassen!«
Miriam bahnte sich ihren Weg durch die Menge und eilte auf den alten Mann zu. »Obadiah, komm mit mir.«
»Was ist los?«, fragte Rachel.
»Die Soldaten. Sie sind auf dem Weg hierher. Du und Raphael, ihr müsst verschwinden.«
Rachel sah Raphael mit einer Frage im Blick an, auf die er nicht antworten wollte. Wenn die Männer hier waren, um die Zeltgemeinschaft zu zerschlagen und mit ihr die Menschen, die in ihr lebten, gab es nichts, was sie tun konnten. Genauer gesagt, sie hatten nicht die Erlaubnis irgendetwas zu tun, was über das hinausging, das ihnen aufgetragen worden war. Sie konnten nicht eingreifen. Rachel wollte das Unvorstellbare verhindern.
Als er den Kopf schüttelte, schoss ihr Blick zu dem Zelt, in dem sich Ethan versteckte, und dann zu Obadiah. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht.
»Nein«, formten ihre Lippen.
Ein lautes Ächzen erklang und eine verwitterte Hand streckte sich Rachel entgegen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Rachel, gib mir meinen Stab«, bat Obadiah.
»Was hast du vor?« Sie keuchte auf, als er sein Gewicht verlagerte und Anstalten machte, sich zu erheben. Sie eilte zur Zeltöffnung und ergriff einen langen, dunklen Stab. Dann eilte sie wieder zu ihm und reichte ihn ihm.
An seinen knochigen Armen traten die Muskeln hervor, als er sich hochzog. Als er stand, zitterten ihm die Beine. »Ich werde den Soldaten entgegengehen. Bring Ethan und die anderen von hier weg.«
Rachel blieb der Mund offen stehen, als sie zusah, wie Obadiah von ihr fortschlurfte.
»Nein, bitte tu das nicht«, bat sie und ging ihm nach.
Obadiah ging weiter. Seine Füße wirbelten Staub auf, als er durch den Sand schlurfte. »Beeil dich, Frau. Ich kann sie nur für kurze Zeit aufhalten.«
»Ich werde mit dir gehen«, beharrte Rachel.
Obadiah hielt an. Er sah zurück zu Raphael, dann wandte er sich ihr zu. Seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um sie an der Wange zu berühren. »Ich habe viele Jahre gelebt. Ich habe dem Allmächtigen treu gedient, selbst als ich aus meinem eigenen Haus verstoßen wurde selbst, als meine Tochter erschlagen wurde. Jetzt, am letzten Tag meines Lebens, hat Er dich und deinen Begleiter geschickt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich bei meinem letzten Atemzug einen Engel berühren würde, eine Tochter des Allerhöchsten.«
Rachel schnappte nach Luft und blinzelte. »Ich ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Obadiah schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Geh und hilf den anderen, Rachel. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder.«
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»Rachel!«, rief Raphael ihr zu. »Hilf mir, Miriam zu finden!«
Obadiah schenkte ihr ein wissendes Lächeln. »Geh und hilf den anderen, Rachel. Vielleicht begegnen wir uns eines Tages wieder.«
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»Rachel!«, rief Raphael ihr zu. »Hilf mir, Miriam zu finden!«
Rachel blickte von Raphael zu Obadiah, der auf die Soldaten zuschlurfte. Verwirrung malte sich auf ihren feinen Gesichtszügen ab. Sollte sie bei Obadiah bleiben, der entschlossen schien, den Soldaten geradewegs entgegenzugehen oder sollte sie seinen Befehlen gehorchen?
Traurige braune Augen erwiderten Raphaels Blick, als sie schließlich zu ihm kam. »Gib es nichts, was wir tun können?«
Er sah ihr tief in die Augen. Wie konnte er ihr erklären, dass, selbst, wenn sie es versuchten, es keine Garantie gab, dass die Soldaten der Vernunft Gehör schenken würden? Obwohl sie die Macht der Gedankenmanipulation hatten und sie gegen die Soldaten einsetzen konnten, gab ihnen das nicht das Recht, den freien Willen der Menschen zu beeinflussen. Dieser Überzeugung hingen alle Erzengel an. Zugegeben, es war schwer, sich daran zu halten, besonders in Zeiten wie diesen. Die Macht zu haben, die Leben anderer zu retten und nicht die Erlaubnis zu haben, es zu tun. Er musste ihnen nur den Vorschlag unterbreiten und die Menschen würden seiner Führung folgen. Rachel wusste um seine Gabe, aber ihre Seele war so rein, dass ihr nicht einmal der Gedanke kam, dass diese Möglichkeit bestehen könnte.
»Das Beste, was wir tun können, ist, den anderen zu helfen zu fliehen«, sagte er.
Rachels Lippen zitterten, als sie Obadiah weiter voranschreiten sah.
Mit jedem unsicheren Schritt, den Obadiah tat, wuchs Raphaels Bewunderung für den alten Mann. Obadiah, obwohl körperlich schwach, war geistig so stark, dass sein einziger Gedanke sich darum drehte, die anderen zu schützen nicht darum, wie er der Gefahr aus dem Weg gehen konnte, in die er sich selbst begab, indem er sich den Soldaten näherte. Er musste wissen, dass sein Ende kurz bevor stand, und dennoch ging er weiter. Diese Art von Mut war es, die Raphael die Menschen nur umso mehr lieben ließ. Wenn nur Luzifer sehen könnte, was er sah.
Raphael legte Rachel eine Hand auf die Schulter. »Komm. Ich werde Ethan holen und du kannst losgehen und «
Eine liebliche Stimme klang durch die Luft und erhob sich über das Stimmengewirr des wütenden Mobs und das Marschieren der Soldaten. Sie war so leise, dass Raphael sich fragte, ob er sie sich nur eingebildet hatte.
Er spähte zu der näher kommenden Menge. Die Soldaten hatten kurz vor Obadiah angehalten und lachten.
Ihr Anführer stand unbeweglich, sein Gesicht halb bedeckt von einem Bronzehelm und einem dichten schwarzen Bart. Über die Schultern hing ihm eine rote Toga, die von einer runden goldenen Brosche an seinem Hals zusammengehalten wurde. Die Toga wallte im Wind und strich sanft um seine muskulösen Oberschenkel.
Als der Anführer sein Schwert aus der Scheide zog, schoss eine kleine Gestalt durch die Horde der Soldaten. Einen Moment lang dachte Raphael, es handele sich um einen kleinen Jungen. Vielleicht war es der Sohn eines der Kranken, die in der Zeltgemeinschaft lebten. Dann nahm er die wallende hellblaue Robe wahr, die über den Boden schleifte und eine Staubwolke hinter der Gestalt aufwirbelte.
»Haltet ein, ich flehe euch an!«, rief die Frau. »Bitte haltet ein.«
Ihre zierliche Hand legte sich auf den massigen Bizeps des Soldaten. Gegen den gestählten Arm wirkte sie zerbrechlich.
»Aus dem Weg, Frau«, knurrte der Soldat und schob sie von sich.
Die Frau stolperte einige Schritte nach vorn und fiel vor Obadiahs Füßen zu Boden. Dunkles Haar bedeckte ihr Gesicht wie ein seidener Vorhang. Aus der Entfernung vernahm Raphael ihr Schluchzen. Ein Geräusch, das ein merkwürdiges Gefühl in ihm wachrief. Es war, als sei ein Seil an seine Brust gebunden, das ihn zu ihr hinzog. Erschrocken angesichts der Heftigkeit des ungewohnten Gefühls stemmte er die Füße gegen den Boden. Er wollte zu der beherzten Frau gehen und sie trösten, nachdem sie es gewagt hatte, sich allein einem Heer von Soldaten entgegenzustellen.
Er sah, wie Obadiah ihr die Hand entgegenstreckte. Die Sekunden verstrichen und Raphael fragte sich, was sie da tat, weil sie weiter zu Boden starrte. Einen Augenblick später richtete die Frau sich auf und ergriff Obadiahs Hand.
Und dann sah Raphael ihr Gesicht.
Tränenspuren zogen sich über ihre geröteten Wangen und ihre makellose Haut war von Schmutz bedeckt. Und dennoch war sie das schönste Wesen, Mensch oder Engel, das seine Augen je erblickt hatten.
Jede Bewegung, die sie machte, zog ihn in den Bann: die Art, wie sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, so dass es ihr auf die zierlichen Schultern fiel; die Art, in der sich ihre roten Lippen bewegten, als sie Obadiah dankte; die Art, in der sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten, als sie ihn anlächelte, bevor sich Sorge in ihnen spiegelte, als sie in die Richtung der Zelte sah.
Als sie sich zur Gruppe der Soldaten umwandte, glättete die Frau ihre Gesichtszüge. In ihren haselnussbraunen Augen funkelte es entschlossen. Raphael taumelte nach hinten. Bei ihrem Anblick blieb ihm der Atem stehen. Es war nur ein kurzer Blick gewesen. Aber mehr brauchte es nicht, um sein Herz in Flammen zu setzen. Mit aller Macht kehrte das ungewohnte Gefühl zurück und schoss durch seine Adern. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Es war etwas, von dem er gehört hatte, dass Menschen es erlebten. Selten hatte er Engel von solchen Gefühlen erzählen hören.
Er warf einen kurzen Seitenblick auf Rachel und fragte sich, ob das die Gefühle waren, die sie vergeblich zu verbergen suchte, wenn sie Uriel sah. Er empfand neuen Respekt, weil sie es schaffte, sie für sich zu behalten und dann Trauer, weil sie das bereits seit einiger Zeit tat.
Er blickte zurück zu der Frau und fragte sich, was über ihn gekommen war, weil er solche Gefühle für sie hegte. Und einen Moment lang schämte er sich. Erlag er gerade der Versuchung? Begehrte er sie wegen ihrer körperlichen Schönheit?
Er war Schönheit schon zuvor begegnet. Gabrielle war wunderschön, wie es viele der Engel waren. Und dennoch hatte diese Frau etwas an sich, das ihn auf eine Weise faszinierte, wie es kein Engel je vermocht hatte.
Er schluckte und schüttelte den Kopf. Nein, das war keine Wollust. Es war mehr da war noch mehr.
»Du wirst das hier beenden, Baka«, wandte sich die Frau an den Anführer. »Du wirst deinen Männern befehlen, in die Stadt zurückzukehren.«
Baka nahm seinen Helm ab und starrte die Frau an. Sein braunes Gesicht blieb unbewegt. In diesem Moment wünschte Raphael, er könnte Bakas Gedanken lesen. Das war eine Fähigkeit, die kein Engel besaß, egal wie hoch er im Rang stand.
Bakas dunkle, durchdringende Augen sahen von der Frau zu Obadiah. Langsam verzogen sich seine schmalen Lippen zu einem Lächeln und er warf lachend den Kopf in den Nacken.
»Rebecca, nach all diesen Jahren schlägt dein Herz noch immer für die Schwachen«, sagte er. »Wann begreifst du endlich, dass es die Starken sind, die deine Aufmerksamkeit verdienen?«
Mit drei Schritten trat Baka vor sie und kniff sie in die Wange. Seine Hand war so groß, dass sie fast ihr ganzes Gesicht bedeckte. »Du wirst lernen, wo dein angemessener Platz ist, Frau. Und ich werde derjenige sein, der es dir zeigt.«
Zorn loderte in Raphaela auf, als er sah, wie Bakas Finger ihren Griff verstärkten, als sie versuchte, sich von ihm loszuwinden. Sie wirkte wie eine zarte Wüstenblume, die jederzeit zertreten werden konnte, wenn es den Soldaten gefiel.
Ohne nachzudenken, machte Raphael einen Schritt nach vorn. Das Einzige, das ihn davon abhielt, den Soldaten körperlichen Schaden zuzufügen und damit die Menschen der Zeltgemeinschaft vermutlich noch mehr in Gefahr zu bringen, war der Klang von Rachels Stimme.