Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке - Густав Майринк 5 стр.


Und dann hier so mitten im Dreck murmelte sie halblaut vor sich hin vielleicht kann ich doch einmal vergessen. Sie fing an, wie geistesabwesend mit sich selbst zu sprechen. Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär der Leibarzt horchte auf, als der Name fiel, und erinnerte sich, dass er doch eigentlich des Schauspielers wegen hergekommen sei; Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär! Ich glaub, er ist an allem schuld.  Ich muss ihn fortschicken.  Wenn ich nur wenn ich nur die Kraft dazu hätt.

Der Herr kaiserliche Leibarzt räusperte sich laut, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken.  Sag mal, Liesel, was ist das eigentlich mit dem Zrcadlo? Er wohnt doch bei dir? fragte er endlich direkt heraus.

Sie fuhr sich über die Stirn: Der Zrcadlo? Wieso kommst du auf ihn?

Nun. Halt so. Nach dem, was gestern beim Elsenwanger passiert ist.  Mich interessiert der Mensch.  Nur so. Halt als Arzt.

Die böhmische Liesel kam langsam zu sich, dann trat plötzlich ein Ausdruck des Schreckens in ihre Augen. Sie packte den kaiserlichen Leibarzt heftig am Arm:

Weißt du, manchmal, da glaub ich er ist der Teufel. Jesus Maria, Thaddäus, denk nicht an ihn!  Aber nein sie lachte hysterisch auf das is alles dummes Zeug.  Es gibt doch gar keinen Teufel.  Er ist natürlich nur verrückt.  Oder oder ein Schauspieler. Oder alles beides zusammen. Sie wollte wieder lachen, aber ihre Lippen verzerrten sich nur.

Der kaiserliche Leibarzt sah, dass ein kalter Schauer sie überlief und ihre zahnlosen Kiefer schlotterten.

Selbstverständlich ist er krank, sagte er ruhig, aber manchmal muss er doch bei sich sein und da hätt ich gern einmal mit ihm gesprochen.

Er ist nie bei sich, murmelte die böhmische Liesel.

Du hast aber doch gestern Nacht gesagt, er geht in den Beiseln herum und spielt den Leuten etwas vor?

Ja.  Ja, das tut er.

No, dazu muss er doch bei sich sein?

Nein. Das ist er nicht.

So.  Hm der kaiserliche Leibarzt grübelte nach.  Aber er war doch gestern geschminkt! Tut er das vielleicht auch ohne Bewusstsein?  Wer schminkt ihn denn?

Ich.

Du? Wieso?

Damit er für einen Schauspieler gehalten wird. Und etwas verdienen kann.  Und damit mer ihn net einsperrt.

Der Pinguin blickte die Alte lang und misstrauisch an.

Es kann doch gar nicht sein, dass er ihr Zuhälter ist, überlegte er.  Sein Mitleid war verflogen, und der Ekel fasste ihn wieder an.  Wahrscheinlich lebt sie mit von seinen Einnahmen. Jaja, natürlich, so wirds wohl sein.

Auch die böhmische Liesel war mit einem Mal ganz verändert.  Sie hatte ein Stück Brot aus der Tasche gezogen und kaute mürrisch daran.

Der Herr kaiserliche Leibarzt trat verlegen von einem Bein aufs andere. Er fing an, sich innerlich heftig zu ärgern, dass er überhaupt hiehergekommen war.

Wenn d gehen willst ich halt dich nicht, brummte die Alte nach einer peinlichen Pause längeren beiderseitigen Stillschweigens.

Der Herr kaiserliche Leibarzt griff rasch nach seinem Hut und sagte, wie von einem Druck befreit: Ja, freilich, Liesel, du hast recht, es ist schon spät.  Hm, ja.  No, und so gelegentlich komm ich wieder nach dir schauen, Liesel. Er tastete mechanisch nach seinem Portemonnaie.

Ich hab dir schon einmal gsagt, ich brauch kein Geld nicht, fauchte die Alte los.

Der Herr kaiserliche Leibarzt zuckte mit der Hand zurück und wandte sich zum Gehen:

Alsdann, grüß dich Gott, Liesel.

Servus, Thadd , Servus, Pinguin.

Im nächsten Augenblick stand der Herr kaiserliche Leibarzt, geblendet von der grellen Sonne, auf der Gasse und strebte gallig seiner Droschke zu, um so rasch wie möglich aus der Neuen Welt heim zum Mittagessen zu fahren.

Hungerturm

In dem mauerumfriedeten stillen Hof der Daliborka[9] des grauen Hungerturms auf dem Hradschin warfen die alten Linden bereits schräge Schatten, und das kleine Wärterhäuschen, darin der Veteran Vondrejc mit seiner gichtbrüchigen Gattin und seinem Adoptivsohn Ottokar, einem neunzehnjährigen Konservatoristen, wohnte, lag wohl schon eine Stunde in kühlem Nachmittagsdunkel.

Der Alte saß auf einer Bank und zählte und sortierte einen Haufen Kupfer- und Nickelmünzen neben sich hin auf das morsche Brett, die ihm der Tag als Trinkgeld von den Besuchern des Turms eingebracht hatte. Jedes Mal, wenn er die Zahl zehn erreichte, machte er mit seinem Stelzbein einen Strich in den Sand.

Zwei Gulden siebenundachtzig Kreizer, brummte er, als er fertig war, unzufrieden zu seinem Adoptivsohn hin, der, an einen Baum gelehnt, emsig damit beschäftigt war, die spiegelnden Flecken an den Knien seines schwarzen Anzuges rauhzubürsten, und rief es dann mit lautem, militärischem Meldeton durchs offene Fenster in die Stube hinein, damit es seine bettlägerige Frau hören könne.

Gleich darauf sank er, den bis in den Nacken haarlosen Kopf mit der hechtgrauen Feldwebelmütze bedeckt, in starrer, totenähnlicher Ruhe zusammen wie ein Hampelmann, in dem der Lebensfaden plötzlich gerissen ist, und hielt seine halbblinden Augen unbeweglich auf den mit libellenförmigen Baumblüten übersäten Boden geheftet.

Er achtete nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf, dass sein Adoptivsohn den Geigenkasten von der Bank nahm, sich seine Samtkappe aufsetzte und dem schwarz-gelb gestreiften, kasernenmäßigen Ausgangstor zuschritt. Er antwortete nicht auf den Abschiedsgruß. Der Konservatorist schlug den Weg nach abwärts ein, der Thunschen Gasse zu, in der die Gräfin Zahradka ein schmales, finsteres Palais bewohnte, blieb aber nach wenigen Schritten, wie von einem Gedanken erfasst, stehen, warf einen Blick auf seine abgeschabte Taschenuhr, kehrte hastig um und eilte, die Wiesenstege des Hirschgrabens abkürzend, wo immer es ging, zur Neuen Welt empor, wo er, ohne anzuklopfen, das Zimmer der böhmischen Liesel betrat.

Die Alte war so tief versponnen in ihre Jugenderinnerungen, dass sie lange nicht begriff, was er von ihr wollte.

Zukunft? Was ist das: Zukunft? murmelte sie geistesabwesend, immer nur die letzten Worte seiner Sätze verstehend, Zukunft?  Es gibt doch gar keine Zukunft! sie musterte ihn langsam von oben bis unten der verschnürte Studentenrock des jungen Mannes verwirrte sie offenbar.  Warum nicht goldene Tressen heute?  Er ist doch Oberst-Hofmarschall! fragte sie halblaut in die leere Luft hinein.  Aha, Pan Vondrejc mladsi ah, der junge Herr Vondrejc will die Zukunft wissen! Ah so. Jetzt erst erfasste sie, wen sie vor sich hatte.

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, ging sie zur Kommode, bückte sich, fischte unter den Möbeln ein mit rötlichem Modellierton überzogenes Brett hervor, stellte es auf den Tisch, reichte dem Konservatoristen einen hölzernen Griffel und sagte: Da! Tupfen S, Pane Vondrejc! Von rechts nach links.  Aber ohne zu zählen!  Nur an das denken, was Sie wissen wollen!  Und sechzehn Reihen untereinander.

Der Student nahm den Stift, zog die Augenbrauen zusammen und zögerte eine Weile, dann wurde er plötzlich leichenblass vor innerer Erregung und stach in fliegender Hast und mit zitternder Hand eine Anzahl Löcher in die weiche Masse.

Die böhmische Liesel zählte sie zusammen, schrieb sie in Kolonnen neben- und untereinander auf eine Tafel, während er ihr gespannt zusah, zeichnete die Resultate in geometrische Formen geordnet in ein mehrfach geteiltes Viereck und schwätzte dabei mechanisch vor sich hin:

Das sind die Mütter, die Töchter, die Neffen, die Zeugen, der Rote, der Weiße und der Richter, Drachenschwanz und Drachenkopf.  Alles genau, wies die alte böhmische Punktierkunst verlangt.  So haben wirs gelernt von den Sarazenen, eh sie vernichtet wurden in den Kämpfen am weißen Berg, der ist getränkt von Menschenblut.  Böhmen ist der Herd aller Kriege.  Auch jetzt wieder wars der Herd und wirds immer bleiben.  Jan Zizka[10], unser Führer Zizka, der Blinde!

Was ist s mit Zizka? fuhr der Student aufgeregt dazwischen, steht da etwas von Zizka?

Sie achtete nicht auf die Frage.  Wenn die Moldau nicht so rasch flösse, heut noch wäre sie rot von Blut. Dann änderte sie mit einem Mal den Ton wie in grimmiger Lustigkeit: Weißt du, Buberl, warum so viel Blutegel in der Moldau sind? Vom Ursprung bis zur Elbe wo du am Ufer einen Stein aufhebst, immer sind kleine Blutegel darunter. Das kommt, weil früher der Fluss ganz aus Blut bestand. Und sie warten, weil sie wissen, dass sie eines Tags wieder neues Futter kriegen Was ist das? sie ließ erstaunt die Kreide aus der Hand fallen und starrte abwechselnd den jungen Mann und die Figuren auf der Tafel an was ist das!  Willst du vielleicht gar Kaiser der Welt werden?

 Sie sah ihm forschend in die dunklen, flackernden Augen.

Er gab keine Antwort, aber sie bemerkte, dass er sich am Tische krampfhaft festhielt, um nicht zu taumeln. Am End wegen der da? sie deutete auf eine der geometrischen Figuren. Und ich hab immer geglaubt, du hättst ein Gspusi mit der Bosena vom Baron Elsenwanger?

Ottokar Vondrejc schüttelte heftig den Kopf.

So? Es ist also schon wieder aus, Buberl?  Na, was ein ächtes böhmisches Madel is, trägt nichts nach. Auch nicht, wenns ein Kind kriegt.  Aber vor der da sie zeigte wieder auf die Figur nimm dich in acht.  Die saugt Blut.  Sie is auch eine Tschechin, aber von der alten gefährlichen Rass.

Das ist nicht wahr, sagte der Student heiser.

So? Glaubst du?  Sie ist aus dem Stamme Boriwoj, sag ich dir. Und du sie blickte den jungen Mann lang und nachdenklich in das schmale, braune Gesicht und du du bist auch aus der Rasse Boriwoj. So zwei ziehts zueinander wie Eisen und Magnet.  Was braucht man da lang in den Zeichen zu lesen sie wischte mit dem Ärmel über die Tafel, ehe sie der Student daran hindern konnte. Gib nur acht, dass du nicht das Eisen wirst und sie der Magnet, sonst bist du verloren, Buberl.  Im Stamme Boriwoj war Gattenmord, Blutschande und Brudermord an der Tagesordnung.  Denk an Wenzel, den Heiligen[11]!

Der Konservatorist versuchte zu lächeln.  Wenzel der Heilige war ebensowenig aus dem Stamme Boriwoj, wie ich es bin. Ich heiß doch bloß Vondrejc, Frau Frau Lisinka.

Sagen Sie mir nicht immer Frau Lisinka! wütend schlug die Alte mit der Faust auf den Tisch; Ich bin keine Frau!  Ich bin eine Hur.  Ich bin ein Fräulein!

Ich hätt nur noch gern gewusst Lisinka , was haben Sie da vorhin gemeint mit dem Kaiser werden und mit Jan Zizka? fragte der Student eingeschüchtert.

Ein Knarren von der Wand her ließ ihn innehalten.

Er drehte sich um und sah, dass im Rahmen der langsam sich öffnenden Tür ein Mann stand, eine große, schwarze Brille im Gesicht, den übermäßig langen Gehrock zwischen den Schultern ungeschickt ausgestopft, wie um einen Buckel vorzutäuschen die Nasenlöcher weit aufgebläht von Wattepfropfen, die darin staken , eine fuchsrote Perücke auf dem Schädel und einen ebensolchen Backenbart, dem man auf hundert Schritt ansehen konnte, dass er angeklebt war.

Prosim! Milostpane! Gnädigste! wandte sich der Fremde mit deutlich verstellter Stimme an die böhmische Liesel. Bittschän, Pardon, wann ich stäare, bittschän, war sich nicht vorhin der Herr kaiserliche Leibharz von Flugbeil hier?

Die Alte verzog ihren Mund zu einem lautlosen Grinsen.

Bittschän, man hat mir, här ich, nämlich gesagt, dass er sich hier gewesen is.

Die Alte grinste weiter wie eine Leiche.

Der sonderbare Kerl wurde sichtlich betreten.

Ich soll nämlich dem Herrn kaiserlichen Leibharz

Ich kenn keinen kaiserlichen Leibarzt! schrie die böhmische Liesel jäh los Schauen Sie, dass Sie hinauskommen, Sie Rindvieh!

Blitzartig schloss sich die Türe und der nasse Schwamm, den die Alte von der Schiefertafel abgerissen und nach dem Besuch geschleudert hatte, fiel klatschend zu Boden.


Es war nur der Stefan Brabetz, kam sie der Frage des Konservatoristen zuvor. Er ist ein Privatspitzel. Er verkleidet sich jedesmal anders und glaubt, dann kennt man ihn nicht.  Wenn irgendwo etwas los ist, dann schnüffelt ers heraus. Er möcht dann immer was erpressen, aber er weiß nie, wie ers machen soll.  Er ist von unten. Aus Prag.  Da sind sie alle so ähnlich.  Ich glaub, das kommt von der geheimnisvollen Luft, die aus dem Boden steigt.  Alle werden sie im Lauf der Zeit so wie er. Einer früher, einer später, außer sie sterben vorher.  Wenn einer dem anderen begegnet, grinst er hämisch, bloß damit der andere glaubt, man weiß was über ihn.  Hast d es noch nie bemerkt, Buberl sie wurde seltsam unruhig und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu wandern dass in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit?  Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß nicht!  Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is eine andere Art Wahnsinn.  Ganz anders als unten.  So so mehr ein versteinerter Wahnsinn.  Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist.  Aber wenns einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen hab ich ihre Stimme sank zu leisem Gemurmel herab hab ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen.  Ja, na ja, und der Stefan Brabetz, der riechts wahrscheinlich, dass hier auf dem Hradschin irgendwas in der Luft is. Irgendwas los.

Der Student verfärbte sich und blickte unwillkürlich scheu nach der Tür. Wieso? Was soll los sein?

Die böhmische Liesel redete an ihm vorbei: Ja, glaub mir, Buberl, du bist jetzt schon verrückt.  Vielleicht willst du wirklich Kaiser der Welt werden. Sie machte eine Pause. Freilich, warum solls nicht möglich sein?  Wenns in Böhmen nicht so viele Wahnsinnige gäb, wie hätTs sonst immer der Herd der Krieg sein können!  Ja, sei nur verrückt, Buberl! Dem Verrückten gehört am Schluss doch die Welt.  Ich bin ja auch die Geliebte vom König Milan Obrenowitsch gewesen, bloß weil ich geglaubt hab, dass ichs werden kann.  Und wieviel hat gefehlt, wär ich Königin von Serbien geworden! Es war, als erwache sie plötzlich Warum bist du eigentlich nicht im Krieg, Buberl?  So? Einen Herzfehler?  Noja.  Hm. Und warum meinst du, bist du kein Boriwoj? Sie ließ es nicht zur Antwort kommen Und wohin gehst du jetzt, Buberl, da mit der Geige?

Zur Frau Gräfin Zahradka. Ich soll ihr vorspielen.

Die Alte sah überrascht auf, studierte wieder lang und aufmerksam den Gesichtsausschnitt des jungen Mannes und nickte dann, wie jemand, der seiner Sache gewiss ist. Ja. Hm. Boriwoj.  No, und hat sie dich gern, die Zahradka?

 Sie ist meine Patin.

Die böhmische Liesel lachte laut auf: Patin, hähä, Patin!

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