Nachdem man sie wieder durchließ, konnten die Leute die unterirdische Station schließlich verlassen. Franck konnte Svetlana in dieser Flut von Menschen immer noch nicht entdecken. Er verfolgte weiterhin die chaotischen Aktionen des Pärchens. Dann drehte er sich um, um ein paar Kindern zuzusehen, die bei einem Karussell Freudenschreie ausstießen. Direkt daneben führte ein Clown eine Jonglier-Nummer vor. Er wurde von Touristen umringt. Rechts davon gab ein Mann den Rhythmus vor, indem er die Kurbel einer Drehorgel drehte. Was für eine anachronistische Atmosphäre! Der Charme war zu spüren. Trotz einer trostlosen Wettervorhersage entfaltete sich vor aller Augen der Zauber des Montmartre.
Als Franck wieder zur Metro-Station sah, kam eine Frau auf ihn zugelaufen. Es war Svetlana, Franck hatte sie nicht sofort erkannt. Sie trug die Haare, die an heute etwas gelockt waren, offen.
Svetlana hatte einen Trick, um ihren Haarschopf zu frisieren. Sie duschte und flocht sich danach Zöpfe, die sie später einen nach dem anderen wieder aufmachte. Dieser Vorgang erforderte sehr viel Zeit, aber die Frisur hielt fast drei ganze Tage. Svetlana hatte sich am Vorabend ihre langen Haare extra gewaschen, damit Franck auch ja die Löckchen bemerken konnte. Ihre Haare waren am Ansatz aschblond und an den Spitzen heller. Auf den ersten Blick wirkten sie eher hellbraun. Franck schien diese Frisur, die gerade mal über die Schultern reichte und diese besondere, natürliche Farbe zu gefallen.
Ihr unerwartetes Verhalten hatte Sanftmut erahnen lassen und Franck hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. War er ein Opfer der Liebe auf den ersten Blick geworden, wie man es für gewöhnlich bezeichnete? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall hatte ihn diese Erscheinung hypnotisiert, verführt und betört. Die echte Spontanität verbunden mit dem angeborenen und nicht zu leugnenden Charme, hatten ihn auf der Stelle überwältigt. Das eine ohne das andere hätte eine andere Wirkung gehabt.
Er hatte bereits Frauen von sehr großer Schönheit kennengelernt, die durch ihr hochmütiges und unfreundliches Verhalten, das sogar ein etwas zu großes materielles Interesse durchblicken ließ, alle ihre Reize zunichtemachte. Svetlanas Auftreten entpuppte sich als fröhlich, warmherzig und um eine Anmut bemüht, die sie von der Masse abhob.
Sie hatten sich mit einem Kuss auf jeder Wange begrüßt, beide gleichermaßen verlegen wie erfreut sich zu sehen. Sie hatte sich für ihre Verspätung entschuldigt. Franck war ihr deswegen nicht böse gewesen. Er hatte ihr bereits verziehen. Allein schon ihre Ausstrahlung hätte jedem depressiven Mann ein Lächeln auf das Gesicht zaubern können. Svetlana erschien ihm wie ein schöner Stern, der dem Polarlicht gleich den Himmel und die Erde in eine besondere, magische, einzigartige und grandiose Atmosphäre tauchte. Sie war wie eine Hymne auf das Leben.
Franck hatte sich gefragt, auf welchem Weg sie wohl am besten bis zum Sacré-Cœur laufen sollten. Sie hatten sich für die erstbeste Straße vor ihnen entschieden, wohlwissend, dass sie sich früher oder später eh an die ansteigende Straßen heranwagen mussten. Franck war schon zu zahlreichen Gelegenheiten hier gewesen, ohne jedoch jemals die gleiche Strecke zweimal gegangen zu sein. Es gab eine Vielzahl möglicher Wege. Er mochte dieses Viertel sehr. Er fand es wunderbar geeignet für einen romantischen Spaziergang, vor allem wenn die Sonnen den Tag mit ihrer Anwesenheit beehrte. Das wenig einladende Wetter, hatte sie nicht daran gehindert, sich zu treffen, weil der Wunsch sich kennenzulernen stärker war. Sie hatten ein bisschen über dieses und jenes gesprochen, so wie es oft der Fall war, wenn sich zwei Menschen verabredeten, um sich bei einem ersten Treffen näherzukommen. Jeder fragte den anderen aus, um ihn besser einschätzen zu können, um zu sehen, ob er richtig reagierte, ob er die Unterhaltung auf neue Themen lenkte. Svetlana hatte ihm eine Menge Banalitäten erzählt. Unter anderem gelang es ihr nicht, die Mailbox ihres Handys abzuhören. Die Anleitung, die bei der SIM-Karte dabei gewesen war, enthielt zu wenig nützliche Informationen. Da sie den gleichen Anbieter hatten, hatte Svetlana ihm das Telefon überlassen, damit er ihr erklärte, was sie machen musste. Aber das Menü war auf Russisch! Franck hatte es nicht geschafft, es zu bedienen. Es handelte sich um ein altes farbiges Nokia Handy, das schon viel mitgemacht hatte. Sobald der Sommer um wäre und sie etwas Geld zur Seite gelegt hätte, wollte sie sich ein Smartphone kaufen. Dann würde sie wieder mitmachen beim Run auf neue Technologien und vor allem wäre sie wieder ein Teil der Konsumgesellschaft Wer außer einem Steinzeitmenschen konnte sich dem entziehen? Dieser Evolutionsprozess gehörte zum Alltag. Niemand war gezwungen, die neueste Version eines Gerätes zu erwerben, nur wegen einer einfachen Designänderung und einer läppische Funktion, die als revolutionär dargestellt wurde; revolutionär vor allem für unser Portemonnaie. Franck hatte sein Samsung herausgeholt, ebenfalls ein sehr altes Model. Nachdem er das Menü durchsucht hatte, hatte er ihr die Zahlenkombination genannt, die man benötigte, um Zugriff auf die Mailbox zu bekommen.
Während sie ihre Sprachnachrichten abhörte, war Svetlana in Gelächter ausgebrochen. Nur drei Personen hatten ihre französische Nummer, denn sie kannte nur sehr wenige Leute in Paris und ihre Freunde kontaktierten sie über Internet. Die erste, die die Nummer bekommen hatte, war ihre ukrainische Kollegin, bei der zweiten handelte es sich um eine russische Freundin, die nach Frankreich gekommen war, um an der Westküste direkt am Meer in der Gastronomie zu arbeiten. Svetlana fände es schrecklich, so einen Job zu machen. Sie zog ihren vor, selbst wenn es ihrer Meinung nach noch nicht das war, was zu ihr passte. Der, der ihr zwei Nachrichten hinterlassen hatte, war niemand anderes als Franck der sich übrigens fragte, warum sie sich so sehr amüsierte. Er hatte ihr mitgeteilt, dass er sich am Treffpunkt befand und dass er hoffte, es ginge ihr gut. Franck betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick, Svetlanas sonniges und spontanes Naturell gefielen ihm sehr.
Sie waren in so manche Gasse eingebogen, bevor sie erschöpft von den unzähligen Anstiegen, die sie hatten bewältigen müssen, an der Basilika angekommen waren. Der Platz war überfüllt. Während des ganzen Wochenendes fand eine Veranstaltung statt, bei der Kunststücke auf dem Skateboard vorgeführt wurden. Eine Menge Bereitschaftspolizisten sorgte durch ihre Anwesenheit für Sicherheit. Zwischen zwei Reihen von Absperrungen hindurch hatten sie den einzigen möglichen schmalen Weg genommen, der während der Veranstaltung den Zugang zu den Stufen des Bauwerks ermöglichte. Um bis zur Eingangshalle zu gelangen, hatten sie um die zögernden Touristen Slalom laufen müssen.
Im Inneren drängte sich die Menschenmenge. Sie waren gezwungen im Schritttempo zu gehen. Dieses langsame Vorankommen half ihnen dabei, sich von dem anstrengenden Hindernislauf zu erholen, den sie gerade absolviert hatten.
Obwohl sie nicht gläubig war, wenn es darum ging an die Göttlichkeit Jesus Christus zu glauben einem Mann, der zum Sohn Gottes erhoben worden war, damit die damalige Obrigkeit den Pöbel besser hatte kontrollieren können lehnte sie jedoch die Botschaft der Hoffnung, die voller edler Worte und Ideale für die Menschheit als Ganzen und jeden einzelnen Menschen war, nicht ab. Svetlana hinterfragte sich und suchte sich selbst. Sie fragte sich nach dem Wert des Lebens, nach dem Menschsein an sich, nach dem, was für sie am wichtigsten war. Trotzdem gefiel ihr das grandiose Schauspiel, das ihr das Innere bot. Sie hatten gerade die heiligen Hallen eines der letzten Meisterwerke betreten, das vom katholischen Frankreich erbaut worden war und hatten ihren Spaziergang dem Rundgang folgend fortgesetzt. Danach waren sie ins Kellergewölbe gegangen, um die Krypta zu besichtigen. Anschließend waren sie bis zur obersten Spitze hinaufgeklettert.
Franck hatte beschlossen, sie einzuladen. Wie die meisten Denkmäler, blieb auch dieses Heiligtum nicht davon verschont: um nach oben zu gelangen, musste man seine EC-Karte zücken. Diese kapitalistische Geste ermöglichte es, die Gebäude instand zu halten, die Anzahl der Neugierigen zu begrenzen und, Gipfel des Göttlichen, ein paar Arbeitsplätze zu schaffen. Im Großen und Ganzen war es für einen guten Zweck. Franck hatte also für den guten Zweck zwei Eintrittskarten gekauft. Und vor allem hatte er sie für seine eigenen Zwecke gekauft
Eine ausgeklügelte High-Tech-Anlage thronte vor der Kundschaft. Ohne überhaupt mit einem Kassierer sprechen zu müssen, konnte jeder die Zahlung durchführen, um die Eintrittskarten zu erhalten. Eine Modernität, die im Kontrast zu der Jahrhunderte alten Kathedrale stand.
Svetlana hielt einen Fotoapparat in der Hand. Sie benutzte ihn nicht, was Franck irritierte. Er hatte sie gefragt, ob sie wollte, dass er Fotos von ihr machte. Sie hatte bejaht und ihm die Kamera hingehalten. Sie war sehr fotogen, was den Fotos alle Ehre machte. Franck war sich jedoch bewusst, dass sie sie ihm nicht aushändigen würde. Jeder Fotograf, egal ob professionell oder privat, wollte einen Abzug seiner Arbeit aufbewahren, sei es auch nur in digitaler Form. Auch wenn die Aufnahmen nicht unter professionellen Bedingungen entstanden und mit einer Hobby-Ausrüstung gemacht wurden, war es die Natürlichkeit, die Svetlana auf den Bildern ausstrahlte, die ihm gefiel. Anschließend hatte er sein altes Handy hervorgeholt, dessen Auflösung zu wünschen übrigließ und hatte sein Modell noch einmal in verschiedenen Posen verewigt. Trotz der schlechteren Bildqualität dieses Gerätes, hatte er sich gesagt, dass er wenigstens ein paar Erinnerungen an diesen Tag haben würde, sollte es ihm nicht gelingen, diese junge Frau, die er immer wundervoller fand, wiederzusehen.
Als sie am Pinakel angekommen waren, hatte Franck wieder viel Zeit damit verbracht, mit Svetlana beim Fotografieren zu spielen. Er betrachtete sie, bewunderte sie und zog die Posen in die Länge. Er betätigte den Auslöser mehrere Male hintereinander. Die Touristen beobachteten sie und mussten darauf warten, dass sie vorbeigehen konnten. Franck bemerkte den Stau nicht einmal, den er verursachte. Er hatte sich in ein geschlossenes Universum zurückgezogen, war hypnotisiert und verzaubert von seinem Motiv. Er leitete sie an, lenkte ihre Gesten und ihr Verhalten. Svetlana fügte sich wie ein braves und gehorsames Modell. Die Anziehungskraft dieses Mädchens wirkte auf Franck wie ein Zauber, der die Kontrolle über seine Gefühle übernommen hatte. Sie hatte ihn ihrerseits durchschaut. Entzückt hatte sie sich von seiner ungewöhnlichen Fantasie mitreißen lassen. Wegen seines Benehmens fand sie ihn galant, freundlich, anrührend und vor allem begehrenswert. Sie war ihm erlegen.
Soll er sich doch amüsieren und schauen wir mal, was dabei Gutes herauskommt, hatte sie gedacht.
Als Franck zu seinem normalen Verhalten zurückgefunden hatte, bemerkte er auf den ersten Blick den Aufruhr, der entstanden war. Niemand hatte sich getraut, den Mann zu stören, der durch eine künstlerische Trance wie verwandelt war. Die Besucher hatten geduldig gewartet, als hätten sie einem Straßentheater zugeschaut. Franck hatte peinlich berührt gelächelt. Mit einer Handbewegung hatte er ihnen zu verstehen gegeben, dass sie nun weitergehen konnten.
Während Svetlana auf ihn zuging, hatte sie ihm gesagt, dass er sich wie ein ungezogener Junge benommen hätte, weil er all diese Leute aufgehalten hatte. Von jetzt an, müsste sie sich vor ihm in Acht nehmen.
Franck hatte ihr die Kamera zurückgegeben. Er hatte ihr geantwortet, dass sie ein sehr schönes Andenke an diesen Ort haben würde und dass es gefährlich werden konnte, ihm diese Art von Ausrüstung in die Hände zugeben, vor allem, wenn sich das Modell der Aufgabe so aufmerksam widmete. Franck hatte ihr bestätigt, dass sie sich auf den Bildern sehr gut machte. Das Posieren vor dem Objektiv machte ihr Spaß. Es könnte interessant für sie sein in Markenkleidung für Modezeitschriften zu posieren, wenn ein professionellerer Fotoapparat benutzt wurde, der qualitativ hochwertige Bilder machte.
An so etwas hatte Svetlana noch nie gedacht. Sie hatte ihm geantwortete, dass sie darüber nachdenken würde.
In der Zwischenzeit räume ich die Kamera in meine Tasche, hatte sie hinzugefügt.
Nachdem sie die Besichtigung beendet hatten, hatten sie zwei Touristen vor dem Gebäude angesprochen. Sie hatten auf Englisch gefragt, auf welche Weise sie das Eintrittsgeld zahlen konnten, um die Türme von Sacré-Cœur besichtigen zu können. Bar oder mit Karte?
Franck hatte nichts von ihrer Frage verstanden. Als guter Franzose, der etwas auf sich hielt, sprach er nur die offizielle Landessprache. Svetlana hatte ihn mit ihren großen blauen Augen gemustert und zärtlich gelächelt, als Franck geantwortet hatte: Sorry, I dont speak english. Er war bereits weitergegangen, während Svetlana stehen geblieben war. Sie hatte Franck die Frage übersetzt, so dass er sie verstehen konnte. Er hatte sich umgedreht und war erstaunt, als er sah, dass sie immer noch neben den beiden Touristen stand. Er war wieder zu ihnen zurückgegangen, um zu berichten, was er vorher gesehen hatte: es gab einen Automaten, um mit EC-Karte zu zahlen und einen Schalter mit Kassierer, an dem Bargeld angenommen wurde. Svetlana hatte den Satz direkt im Anschluss übersetzt, wobei Franck sie gebannt betrachtet und festgestellt hatte, dass sie Englisch noch besser sprach als Französisch. Die Entdeckung, dass diese junge Frau mit gerade mal 20 Jahren drei Sprachen sprach, faszinierte ihn. Er hatte ihr deshalb mitgeteilt, dass es in ihrer Begleitung unmöglich wäre, sich im Ausland zu verirren, denn sie sprach Russisch, Englisch und Französisch. Sie hatte ihm scherzend geantwortet, sie wisse, dass sie die perfekte Frau sei. In dem Fall sollten sie eine gemeinsame Reise planen. Franck hatte nachgedacht, überrascht von dieser Reaktion. Dieser Vorschlag konnte auf keinen Fall ernst gemeint sein. Deshalb hatte er das nicht weiterverfolgt.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Franck noch nicht, dass Svetlana bereits Tickets gekauft hatte, um in den nächsten Tagen nach Belgien und in die Niederlande zu fahren. Ein Kurzurlaub, der aber für Svetlana, die Europa entdecken wollte, wichtig war. Sie dachte, dass sich keine weitere Möglichkeit bieten würde, um hierher zu kommen. Irgendwie hatte sie gehofft, Franck würde ihr vorschlagen, sie zu begleiten, mehr aus Angst davor, alleine auf Entdeckungsreise zu gehen, als wegen irgendwelcher Hintergedanken. Franck äußerte nichts in diese Richtung, als er im Laufe ihres Spaziergangs davon erfuhr. In seinem Innersten hätte er sie gerne begleitet, die Idee war ihm sogar durch den Kopf gegangen. Nur, dass er es sich finanziell nicht wirklich leisten konnte. Außerdem hatte ihn ein weiterer Zwang daran gehindert, diesmal ein beruflicher. Die Planung erwies sich als unvereinbar. Es war unnötig, länger darüber nachzudenken.
Franck hatte ihr vorgeschlagen, ihren Ausflug in Richtung des Buttes Chaumont Parks fortzusetzen, was sie gerne angenommen hatte.
Die Strecke hatte sie eine gute Stunde gekostete. Franck hatte die Zeit unterschätzt, die sie brauchen würden, um von der Basilika dorthin zu gelangen. Auf dem Weg hatten sie weiterhin Bruchstücke aus ihren Leben ausgetauscht. Franck hatte ihr von seinen Fotoarbeiten erzählt. Svetlana hatte sehr viel Interesse daran gezeigt. Für sie war die Fotografie eine wunderbare Form des künstlerischen Ausdrucks. Sie hatte auf die Tatsache hingewiesen, dass er keinen Fotoapparat mitgebracht hatte, um ihr Treffen zu verewigen. Sie zog ihn damit auf