Wachtmeister Studer / Вахтмистр Штудер. Книга для чтения на немецком языке - Фридрих Глаузер 3 стр.


»Der Angreifer hätte den Witschi zwingen können, die Brieftasche auszuliefern «

»Nicht sehr wahrscheinlich Was sagt das Sektionsprotokoll, wann der Tod mutmaßlich eingetreten ist?«

Der Untersuchungsrichter blätterte in den Akten, eifrig, wie ein Schüler, der gerne vom Lehrer eine gute Note bekommen möchte. Merkwürdig, wie schnell die Rollen sich vertauscht hatten. Studer hockte immer noch auf dem unbequemen Stuhl, der sicherlich sonst für die vorgeführten Häftlinge bestimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die ganze Angelegenheit in die Hand genommen hätte

»Das Sektionsprotokoll«, sagte der Untersuchungsrichter jetzt, räusperte sich trocken, rückte an seiner Brille und las: »Zertrümmerung des Occipitalknochens Mesencephalum steckengeblieben in der Gegend des linken Aber das wollen Sie ja alles nicht wissen Hier Tod approximativ zehn Stunden vor Auffindung der Leiche eingetreten Das wollten Sie wissen, Wachtmeister? Aufgefunden ist die Leiche zwischen halb acht und viertel vor acht Uhr morgens von Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger Der Mord wäre also ungefähr um zehn Uhr abends verübt worden.«

»Zehn Uhr? Gut. Wie stellen Sie sich die Szene vor? Der alte Witschi kommt von einer Tour zurück, er fährt mit seinem Zehnder ruhig nach Hause. Plötzlich wird er angehalten Schon da ist vieles nicht klar. Warum steigt er ab? Hat er Angst? Nehmen wir an, er sei angehalten worden. Gut, er wird gezwungen, seinen Karren an einen Baum zu lehnen, man treibt ihn in den Wald Warum nimmt ihm der Angreifer nicht auf der Straße die Brieftasche fort und drückt sich? Nein! Er zwingt den Witschi, mit ihm hundert Meter es waren doch hundert Meter? in den Wald zu gehen. Schießt ihn von hinten nieder. Der Mann fällt auf den Bauch Wollen Sie mir sagen, Herr Untersuchungsrichter, wann ihm die Brieftasche mit den verschwundenen dreihundert Franken aus der Tasche genommen worden ist?«

»Brieftasche? Dreihundert Franken? Warten Sie, Wachtmeister. Ich muß mich zuerst orientieren«

Stille. Eine Fliege summte dröhnend. Studer hatte sich kaum bewegt, sein Kopf blieb gesenkt.

»Sie haben recht Frau Witschi gibt an, ihr Mann habe am Morgen zu ihr gesagt, er werde wahrscheinlich am Abend hundertfünfzig Franken mitbringen. Es seien Rechnungen fällig. Hundertfünfzig Franken habe er noch besessen Telephonische Erkundigungen haben ergeben, daß wirklich zwei Kunden des Witschi ihre Rechnungen bezahlt haben. Die eine Rechnung betrug hundert Franken, die andere fünfzig«

»Die eine hundert und die andere fünfzig? Merkwürdig«

»Warum merkwürdig?«

»Weil der Schlumpf drei Hunderternoten in seinem Besitz gehabt hat. Eine, die er im Bären gewechselt hat, und zwei, die ich ihm abgenommen habe. Wo ist die Brieftasche hingekommen?«

»Sie haben recht, Wachtmeister. Der Fall hat einige dunkle Punkte«

»Dunkle Punkte!« Studer zuckte die Achseln. Ein ungemütlicher Mann, dachte der Untersuchungsrichter. Er war nervös wie seinerzeit beim Staatsexamen.

Vielleicht war dieser Wachtmeister für Schmeichelei empfänglich Darum sagte er:

»Ich sehe, Wachtmeister, daß Ihre praktische kriminologische Schulung der meinigen überlegen ist«

Studer brummte irgend etwas.

»Was wollten Sie sagen?« Der Untersuchungsrichter legte die Hand ans Ohr, als wolle er kein Wort seines Gegenübers verlieren.

Aber Studer schien auf einmal vergessen zu haben, wo er sich befand. Denn er zündete umständlich eine Brissago an.

»Rauchen Sie nicht lieber eine Zigarette?« wagte der Untersuchungsrichter schüchtern zu fragen, denn er haßte den Brissagorauch. Er reichte dem Wachtmeister ein geöffnetes Etui über den Tisch. Studer schüttelte ablehnend den Kopf. Ihm, dem Wachtmeister Studer, Zigaretten mit Goldmundstück!

Der Untersuchungsrichter fragte in die Stille:

»Wo haben Sie sich Ihre praktischen Kenntnisse angeeignet, Herr Studer?« Aber nicht einmal der Wechsel in der Anredeform Herr Studer statt Wachtmeister vermochte den schweigenden Mann aus seinem Grübeln zu wecken.

»Wie kommt es, daß Sie es mit Ihren Kenntnissen nicht wenigstens zum Polizeileutnant gebracht haben?«

Studer fuhr auf:

»Was? Wie meinen Sie? Haben Sie einen Aschenbecher?«

Der Untersuchungsrichter lächelte und schob eine Messingschale über den Tisch.

»Ich hab seinerzeit beim Professor Groß in Graz gearbeitet. Und warum ich es nicht weiter gebracht habe? Wissen Sie, ich hab' mir einmal die Finger verbrannt an einer Bankaffäre. Damals war ich Kommissär bei der Stadtpolizei ja, und während des Krieges Nach der Bankaffäre bin ich in Ungnade gefallen und hab' wieder von unten anfangen müssen Das gibt es Aber was ich sagen wollte: wie gedenken Sie die Angelegenheit zu behandeln? Was für Schritte werden Sie unternehmen?«

Zuerst wollte der Untersuchungsrichter den Mann an seinen Platz verweisen, ihm klarmachen, hier habe er zu befehlen, ertrage schließlich die Verantwortung für die Untersuchung Aber dann verwarf er diese Aufwallung. Der Blick Studers hatte etwas so Erwartungsvoll-Ängstliches Darum sagte er ziemlich versöhnlich:

»Nun, wie gewohnt, denk ich. Die Familie Witschi vorladen, den Meister des des Angeklagten«

»Schlumpf Erwin«, unterbrach Studer, »vorbestraft wegen Einbruch, Diebstahl und anderer kleinerer Delikte«

»Ganz richtig. Im Grunde also eine Persönlichkeit, der man das Verbrechen gut zutrauen könnte, nicht wahr?«

»Schon möglich« Pause. »Aber auch ein Vorbestrafter kann nicht zaubern Und der Schlumpf wird nicht das Maul auftun Sie werden lange fragen können. Der läßt sich lebenslänglich nach Thorberg schicken und wenn er einmal dort ist, hängt er sich wieder auf. Im Grund ist es schad' um den Burschen ja, es ist schad' um ihn«

»Ihre Menschlichkeit in Ehren, Herr Studer, aber Wir haben eine Untersuchung zu führen, oder?«

»Ja, ja übrigens ist die Leiche noch in Gerzenstein?«

Wieder blätterte der Untersuchungsrichter in den Akten.

»Sie ist am Mittwochabend ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden. Der Regierungsstatthalter von Roggwil hat das angeordnet«

Studer zählte an den Fingern ab:

»Am Mittwoch, dem dritten Mai um halb acht Uhr morgens wird die Leiche gefunden. Gegen Mittag die erste Obduktion von Doktor Doktor Wie heißt er schon?«

»Dr. Neuenschwander«

»Neuenschwander. Gut. Mittwochabend wechselt Schlumpf die Hunderternote im Bären. Donnerstag Flucht. Heute, Freitag, verhafte ich ihn bei seiner Mutter. Wann ist die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht worden?«

»Mittwochabend«

»Wann glauben Sie, können wir den Rapport vom Institut haben?«

»Ich habe gedacht, wir könnten den Angeklagten mit der Leiche konfrontieren. Was meinen Sie dazu?« Die Frage war höflich, aber der Untersuchungsrichter dachte dabei: Wenn der Kerl nur bald abschieben würde, die Brissago stinkt, er ist aufdringlich, ich werde mich bei der Behörde beschweren, aber was nützt mir das? Deswegen werd' ich ihn doch nicht so bald los. Also seien wir freundlich

»Konfrontieren?« wiederholte Studer. »Damit er wieder einen Fluchtversuch macht?«

»Was? Er hat Ihnen durchbrennen wollen? Und Sie haben mir nichts davon gesagt?«

Studer sah den Untersuchungsrichter mit seinen ruhigen Augen an. Er zuckte die Achseln. Was sollte man auf solche Fragen antworten?

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer plötzlich, und seine Stimme klang merkwürdig dumpf und erregt. »Wir haben lange genug herumgeredet. Sie denken bei sich: Dieser alte, abgesägte Fahnder, der knapp vor der Pensionierung steht, will sich wichtig machen. Er drängt sich auf. Ich werd ihm aber schon aufs Dach geben lassen. Heut am Abend noch, sobald er fort ist, telephoniere ich an die Polizeidirektion und beschwere mich«

Schweigen. Der Untersuchungsrichter hatte einen Bleistift in der Hand und zeichnete Kreise aufs Löschblatt. Studer stand auf, packte die Lehne des Stuhles, schwang den Stuhl herum, bis er vor ihm stand, stützte sich auf die Lehne und die Brissago qualmte, die zwischen zwei Fingern stak und dann sagte er:

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Untersuchungsrichter. Ich reiche gern meine Demission ein, wenn der Fall nicht so untersucht wird, wie ich es wünsche. Aber wenn ich dann demissioniert habe, dann kann ich machen, was ich will. Es wird lustig werden. Ich hab' dem Schlumpf versprochen, seine Sache in die Hand zu nehmen«

»Sind Sie Fürsprech geworden, Wachtmeister?« warf der Untersuchungsrichter spöttisch ein.

»Nein. Aber ich kann ja einen nehmen. Einen, der die ganze Anklage über den Haufen wirft während der Schwurgerichtsverhandlung. Wenn Sie das lieber wollen? Aber Sie müssen sich das recht lebhaft vorstellen! Sie werden als Zeuge von der Verteidigung vorgeladen werden, und dann wird man Ihnen alle Fehler der Voruntersuchung vorhalten Wird Ihnen das gefallen?«

Der Kerl ist ja ganz verrückt! dachte der Untersuchungsrichter. Der richtige Querulant! Warum hat man gerade diesen Studer zur Verhaftung abkommandiert! Ein Gerechtigkeitsfanatiker! Daß es so etwas noch gibt! Ich habe die ganze Zeit eingelenkt Kann der Mann denn Gedanken lesen? Dumme Geschichte! Und wenn dieser Schlumpf unschuldig ist, dann gibt es womöglich einen Skandal, Leute geraten in Verdacht. Es wird doch besser sein, ich arbeite mit dem Kerl Laut sagte er:

»Das hat ja alles keinen Sinn, Wachtmeister. Ich weiß nur wenig von der Sache. Und drohen? Warum fahren Sie gleich so schweres Geschütz auf? Hab' ich mich geweigert, Sie anzuhören? Sie sind ungeduldig, Herr Studer. Wir können doch ganz ruhig die Sache besprechen. Sie sind sehr empfindlich, Wachtmeister, scheint mir, aber Sie müssen denken, daß andere Leute manchmal auch Nerven haben«

Der Untersuchungsrichter wartete, und während des Wartens starrte er auf die qualmende Brissago in Studers Hand

»Ach so!« sagte Studer plötzlich. »Das also« Er ging zum Fenster, stieß die Läden auf und warf die Brissago hinaus. »Ich hätt' daran denken sollen. Leute wie Sie War das der Grund? Ich hab's gespürt, daß Sie etwas gegen mich haben, und gedacht, es sei wegen dem Schlumpf Und dann war's nur die Brissago?« Studer lachte.

Komischer Mensch! dachte der Untersuchungsrichter. Versteht doch allerhand! Der Brissagorauch! Kann so etwas eine feindliche Stimmung auslösen? In diese Gedanken hinein sagte Studer:

»Merkwürdig. Manchmal ist es nur eine unbedeutende Angewohnheit, die uns bei einem Menschen auf die Nerven fällt: das Rauchen einer schlechten Zigarre zum Beispiel. Bei mir sind's die teuren Zigaretten mit Goldmundstück« Und setzte sich wieder:

»So, so«, sagte der Untersuchungsrichter nur. Aber innerlich fühlte er allerhand Hochachtung für den Gedankenleser Studer. Und dann meinte er:

»Ich möchte jetzt den Schlumpf, Ihren Schützling, vorführen lassen. Wollen Sie dabei sein?«

»Doch. Gern. Aber vielleicht sind Sie so gut«

»Ja, ja«, der Untersuchungsrichter lächelte, »ich werd' ihn schon so behandeln, daß er sich nicht wieder aufhängt, wenigstens vorläufig Ich kann nämlich auch anders Und ich will mit dem Staatsanwalt reden. Wenn eine weitere Untersuchung nötig sein sollte, fordern wir Sie an«

Billard und Alkoholismus chronicus

Studer stieß zu. Die weiße Kugel rollte über das grüne Tuch, klickte an die rote, traf die Bande und sauste haarscharf an der zweiten weißen Kugel vorbei.

Studer stellte die Queue auf den Boden, blinzelte und sagte ärgerlich:

»Bitzli z'wenig Effet.«

Und gerade in diesem Augenblicke hörte er zum ersten Male die dröhnende Stimme, die er noch oft hören sollte.

Die Stimme sagte:

»Und glaub mir, in der Affäre Witschi ist auch nicht alles Bock; glaub mir nur, da stimmt etwas nicht und das weißt du ja auch. Daß sie den Schlumpf geschnappt haben« Mehr konnte Studer nicht verstehen. Die Stille, die einen Augenblick über dem Raum geschwebt hatte, zersprang, der Lärm der Gespräche setzte wieder ein. Studer drehte sich um und sah sich an dem Mann mit der merkwürdig dröhnenden Stimme fest.

Der war hochgewachsen, mit einem mageren, zerfurchten Gesicht. Er saß in einer Ecke des Cafés an einem Tischchen zusammen mit einem kleinen Dicken. Der Dicke nickte, nickte ununterbrochen, während der magere Alte den Ellbogen aufgestützt hatte und mit aufgerecktem Zeigefinger weitersprach. Die Lippen waren fast unsichtbar dem Mann mußten alle Zähne fehlen. Jetzt senkte der Alte die Hand, hob das Glas zerstreut zum Mund, merkte plötzlich, daß es leer war: da zerbrach ein sehr sanftes Lächeln den harten Mund, so, wie einer lächelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.

»Rösi«, sagte er zur Kellnerin, die gerade vorbeikam, »Rösi, noch zwei Becher.«

»Ja, Herr Ellenberger.« Die rothaarige Kellnerin ließ sich die Hand tätscheln. Sie sah aus wie eine Katze, die gerne schnurren möchte, aber auf der Suche nach einem ruhigen Platz ist, wo sie dies ungestört tun kann.

»Du kommst«, sagte Studers Spielpartner, der Notar Münch, der einen hohen steifen Kragen um seinen dicken Hals trug. Und während Studer mit verkniffenen Augen die Stellung der Kugeln prüfte, dachte er immerfort: Ellenberger? Ellenberger? Und redet von der Affäre Witschi? Und während er weiter dachte, ob es wohl dieser Ellenberger sei, Baumschulenbesitzer in Gerzenstein, Meister des Schlumpf, verfehlte er natürlich seinen Stoß. Er hatte nicht richtig eingekreidet, die Spitze der Queue sprang mit einem unangenehm hohen Gix von der Kugel ab.

Das Billardtuch, mit der sehr hellen, nach unten abgeblendeten Lampe darüber, warf einen grünen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der leise durch die Luft wogte, eine kuriose Farbe. Ein Lachen, das wie ein Krächzen klang, kam vom Tisch des alten Ellenberger, aber nicht der Alte hatte gelacht, sondern sein Begleiter, der kleine Dicke. Und in die Stille, die dem Lachen folgte, hörte Studer den alten Ellenberger sagen:

»Ja, der Witschi, der war nicht dumm. Aber der Aeschbacher. Ein zweitägiges Kalb ist minder«

»Was ist los, Studer?« fragte der Notar Münch. Keine Antwort.

Die Affäre Witschi schien wirklich verhext zu sein.

Jetzt hatte Studer gemeint, sie diesen Abend wenigstens vergessen zu können.

Aber natürlich: da kam man ins Café zum Billardspielen und ausgerechnet mußte dieser Ellenberger auch hier hocken und laut über die Affäre Witschi reden. Dann war es natürlich mit der Ruhe vorbei

Der Rücken des Ermordeten auf der Photographie Der Rücken, auf dem keine Tannennadeln hafteten Die Wunde im Hinterkopf Die kuriosen Vornamen der Familienmitglieder Wendelin hieß der Vater, die Tochter Sonja, der Sohn Armin. Vielleicht hieß die Mutter Anastasia? Warum nicht?

Witschi der Name klang wie Spatzengetschilp. Der Wendelin Witschi, der auf einem Zehnder den Commisvoyageur machte und in einem Wald erschossen aufgefunden wurde Die Frau Witschi, die im Bahnhofkiosk hockte und Romane las

Und während Studer auf seine Billardqueue gestützt, dem Spiele des Notars zusah, der heute abend in Form zu sein schien, hörte er wieder die angenehm dröhnende Stimme sagen:

»Was macht wohl unser Schlumpf? Was meinst, Cottereau? Haben sie ihn wohl geschnappt, die Tschucker?«

Das Wort »Tschucker« gab Studer einen Ruck. Er war abgebrüht gegen den Spott, dem man als Fahnder ausgesetzt war. Einzig dieses verfluchte Wort mit dem unangenehmen »U« machte ihn wild. Es klinge so vollgefressen, hatte er einmal zu seiner Frau geäußert. Und als er es jetzt aus des alten Ellenbergers Munde hörte, riß es ihn herum, und er starrte auf den Mann.

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