Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig - Franz Werfel 2 стр.


»Du bist heute dreizehn Jahre« begann er plötzlich »und die Jugend geht rasch vorbei! Gerade an meinem dreizehnten Geburtstag, erinnere ich mich, hatte mir mein Vater, der Oberstleutnant, ein besonderes Vergnügen zum Geschenke zugedacht. Ich will dir das gleiche Geschenk machen, und du magst ebenso an deinem Sohne handeln. Du wirst es einmal verstehn, daß die Tradition den Wert einer Familie bedeutet. Halte dich heute nach Tisch bereit und jetzt geh!«

Nach dem Essen, das besser war als sonst, gebot mir der Vater noch einmal, mich anständig zurechtzumachen. Er selbst aber stand auf und ging in sein Zimmer. Nach einer halben Stunde kam er zurück. Aber was war geschehen? Er hat Zivilkleidung angelegt und so wenig ich damals davon verstehen konnte, so sehr fühlte ich doch die Verwandlung ins Armselige, die mit diesem sonst so steifen und klirrenden Menschen vor sich gegangen war. Das war nicht mehr die erdrückende Erscheinung von vorhin, so sahen die vornehmen Herren auf der Straße nicht aus, dieser Vater glich jetzt den mageren Gestalten hinter den Postschaltern.

Unter den allzu kurzen Ärmeln traten viel zu weit die angeknöpften Manschetten vor, der Kragen schien eng und von einer veraltet unerfreulichen Fasson zu sein. Die genähte Krawatte ließ den gelben Kragenknopf sehn. Die Hosen, überaus gebügelt, spiegelten hinten, was dadurch besonders sichtbar wurde, daß der Rock ebenso kurz wie alles andere war.

Tadellos allein wirkten Frisur, Stock, Hut und Handschuhe, die der Vater, als wäre er das sehr gewohnt, leichthin in der Hand trug.

Wie wach ist doch ein Kinderherz!

Ich verstand so viel!

Der Mann, der mein Vater war, jetzt hatte er sich enthüllt.

Armut, Engbrüstigkeit und Schäbigkeit; nun traten sie als Wahrheit hervor, nachdem Glanz und Planz im Kasten hingen! Und doch!

Eine ungeheure Welle von Wärme und Mitleid für ihn stieg in mir auf.

Wir gingen über die Straße, beide mit dem dummen und kniewerfenden Schritt der Soldaten.

»Wohin gehen wir?« wagte ich zu fragen.

»Das wirst du schon sehen.«

Als wir mitten auf der großen Brücke standen, wußte ich plötzlich, und das Blut stockte mir vor wunderbarem Entsetzen: »Es geht auf die Hetzinsel.« Die Hetzinsel war gleichsam der Wurstelprater unserer Stadt.

Meine Kameraden, die sie hatten besuchen dürfen, berichteten das Tollste. Panoptikum, Grotten und Bergbahn, verzaubertes Schloß, Fotograf, Schießstätten, rasende Karusselle, elektrische Theater, daß diese Entzückungen nicht fehlen durften, war ja selbstverständlich. Daß aber ein wirkliches bodenständiges Stück Wüste da wäre, mitten auf dieser Flußinsel, ein Stück wahrer Sahara, auf dem echte Beduinen ab halb vier Uhr alltäglich ihre »Fantasia« ritten, das hatte mir ein besonders glücklicher und gewiegter Besucher versichert.

Mein Vater und ich stiegen die breite Treppe, welche die große Brücke seitlich unterbrach, hinab, traten durch ein hochgebautes Torgerüste, von dem hundert brennende Fahnen niederwallten, und standen schon im Wunder.

Im ersten Augenblick verging mir der Atem vor dem gigantischen Lärm, der auf mein Ohr eindrang, das angstvoll nur an das Schrillen der Exerzierpfeife und die Bosheit des Lehrerworts gewöhnt war. Selbst die Furcht vor meinem Vater schwand für eine Sekunde. Ich wollte die Hand ausstrecken, um die seine anzufassen, aber durchblitzt fuhr ich noch im letzten Augenblick zurück.

Unzählige Menschen in unzähligen Gruppen wogten durch-, mit-, gegeneinander und bildeten doch eine gleichgerichtete gemeinschaftliche Strömung, gerade so wie die vielen durcheinandertanzenden Wirbel des Wassers einen Strom. Die irrsinnige Musik, der Triumph der Menge schloß mich ein wie etwas ungeahnt Gütiges, mein kleiner zertretener Mut begann zu wachsen, ich sah diesen Vater neben mir fast klar beobachtend an und fühlte: »Was ist denn der Mächtige da heut im grauen, nicht mehr neuen Röckchen anderes, als einer unter vielen!? Wem kann er heute was kommandieren, wer würde ihm gehorchen!? Keiner schert sich um ihn, keiner grüßt ihn, kein Soldat salutiert, ja sie schauen ihn ruhig frech an und scheuen sich gar nicht, ihn zu puffen.

Mein Vater schien ähnliche Gedanken zu hegen.

Wenn ihn jemand berührte oder gar auf den Fuß trat, knirschte er mit den Zähnen und stampfte auf. Das Gesicht war verzerrt und verfallen. In seinen vor der übermäßigen Sonne zusammengekniffenen Augen blitzte Haß. Sein heute unvorteilhaft zur Schau getragener Körper kämpfte um die Möglichkeit, plötzlich luftleeren Raum um sich zu haben, aus dem Bann der Menge zu fallen, eng und goldverschnürt mitten in einer tausendfältigen Stille dazustehen.

Oh, wie sollten kurz und scharf aus seiner Kehle die Kommandoworte fahren: »an!« und »Feuer!«

Wir aber wurden im unbesiegbaren Strom von Leibern, Gelächtern, Gekreischen vorwärts gestoßen, und je mehr ich fühlte, daß mein Vater darunter litt, um so mehr genoß ich die süße Rache, ihn zu dieser Ohnmacht verurteilt zu sehen. Seltsam! Ich erlebte den ersten Sieg gegen diesen Vater in der Stunde, da er mir die erste Güte entgegenbrachte.

Indessen waren wir der schmalen Gasse zwischen schreienden Buden, dem Schweißgeruch der in einer Flußenge zusammengezwängten Menge, der Unzahl von Kindertrompeten und bunten Luftballons entkommen und standen im Strudel eines großen Platzes.

Viele gewaltige Orchestrions und elektrische Orgeln donnerten.

Dreizehn Jahre alt!

Es war das mächtigste Erlebnis, das ich bisher empfangen hatte, und dieses Erlebnis wurde vielleicht nur von einem noch übertroffen, als ich von Bord des »Großen Kurfürsten« die vielen Begrüßungsorchester durcheinandertoben hörte, die uns mit einer nie geschriebenen Dämonsmusik im Lande der Hoffnungen empfingen, wo ich jetzt diese Geschichte aus meinem Leben aufzeichne.

Die elektrischen Orgeln brüllten, die langgezogenen Schrecknisse ihrer Opernmelodien zu einem fabelhaften Chaos verschlingend.

Ich stand erschöpft in diesem Platzregen von harmonischen Felsen. Mein Körper war eingeschlafen, ich konnte mich kaum rühren.

Der Vater zog mich in ein Ringelspiel. Ich mußte mich auf ein Pferd mit übertrieben geschnitztem Hals setzen und die Zügel in die Hand nehmen. O welch ein eigentümlicher Geruch von Holz, Leder und warmen Roßhaaren! Die Farben- und Gestaltenfülle waren zu groß, als daß ich hätte noch unterscheiden können. Hohl setzte die Orgel ein: »Müllerin du Kleine!« Das Spiel begann sich langsam zu drehen. Ein Mann in kurzen Hosen und schwarzem Trikot avancierte und retirierte schneidig auf der rotierenden Scheibe. Oben wehten rote Vorhänge über Kinderjuchzern. Die Bewegung wurde schneller, immer schneller, die Drehscheibe, auf der die Pferde, Wagen, Drachen, Königstiger, Löwen, Traumtiere liefen, schien einen Trichter bilden zu wollen ich lehnte mich mit glühenden Wangen zurück, um mich dem Rausch der Schnelligkeit hinzugeben. Da aber sah ich meinen Vater, groß, wie über alle anderen gewachsen, dastehen, scharfen Blicks, vorgestellt den rechten Fuß, und den Stock, wie eine Longierpeitsche in der Hand. Er rief mir im Ton des Reitlehrers zu:

»Gerade sitzen! Oberkörper zurück!«

Doch schon war ich vorbei und nahte voll Angst in der neuen Tour. Unbeweglich stand er da. Ich hörte seine Stimme:

»Sattel auswetzen!«

Vorüber! Während der nächsten Tour hatte ich schon den bitteren Geschmack im Munde. Des Vaters Stellung war um keinen Zoll verändert.

Und wieder die Stimme.

»Schenkel an den Sattel, Fußspitzen auswärts.«

Als ich von meinem Holzpferd stieg, war ich traurig und zerschlagen wie nach einer Prüfung.

»Schenkel an den Sattel, Fußspitzen auswärts.«

Als ich von meinem Holzpferd stieg, war ich traurig und zerschlagen wie nach einer Prüfung.

Mein Vater hatte sich für den kurzen Augenblick meines Sieges von vorhin bitter gerächt. Doch gab er sich damit zufrieden, tadelte mich nicht weiter und löste Karten für die Grottenbahn, deren Geheimnisse ein Zwerg im Kostüm der Hofnarren und eine Riesendame mit der Pauke ausriefen. Diesmal nahm der Vater teil, doch zeigte sein Gesicht keine Regung. Die Orgel, die hier spielte, war mächtiger als die der anderen Unternehmungen. Es ging von ihren Tonungeheuern ein Luftzug aus, der mir wie Zauberei erschien. Wir fuhren knarrend in den schwarzen Schacht ein. Da es ganz finster war, hatte Gott den Vater von mir genommen. Ich sah ihn nicht. Die Beklommenheit fiel und ich überließ mich dem Traum. Aber es waren viele Träume:

Hexen ritten, während der Winterwind die Tannen entwurzelte, dürr, nackt und mit flatternden Strähnen auf wippenden Ästen. Schweigend, grün, unendlich tat sich der Meerboden auf. Algen sanken wie Schleier nieder, langsam schwebten Riesenquallen, namenlose Fische zogen in Scharen durch eine warme Strömung, ein Tier, das bläuliche Strahlen warf und wie eine Lampenkugel mit Schwanz und Flossen aussah, stieg majestätisch empor. Auf dem Grunde, der ein Gebirge, gebaut aus Muscheln, Korallen, Riesenkrebsen, rostigen Ankern und verstreuten Edelsteinen war, faulte die von Fischen angefressene Leiche eines Steuermannes, und ganz in der Ferne, wo der Schein der Tiefe glasig wie unnatürlicher Schlaf erschien, schwankte das Wrack einer Fregatte mit hohem Kiel, gekipptem Mast und quadratischen Kabinenluken im langsamen Rhythmus des unsichtbaren Wogengangs. Vom Bugspriet schimmerte eine winzige Laterne seit Jahrhunderten unerloschen mitten im Leib des Wassers. Doch nicht genug damit. Auch die Wolfsschlucht erlebte ich. Der Wind stürzt die Brücke ein, die über den Wasserfall führt, Eulen schweben, das Wildschwein ist zu hören, zwei Töne grunzt es ununterbrochen wie ein Fagott, Kaspar gießt im Flammengeprassel die Freikugeln, Samiel fährt im roten Feuermantel aus einer Höhle.

Ich kannte diese Geschichte sehr gut. Ein Kamerad, der einzige, mit dem ich mich verstand, hatte sie mir oft erzählt.

»Samiel hilf!« schallte es durch den Wind. Wir rasselten weiter ins Dunkel. Ich vernahm die Stimme des Vaters.

»Was war das?« fragte er, nicht wie einer, der prüft, sondern wie einer, der selbst nichts weiß. Da wir uns ja nicht sahen, durfte er sich etwas vergeben.

»Das war Freischütz«, gab ich zur Antwort.

»Was ist das, Freischütz?« hörte ich seine Stimme, diesmal aber ohne Nachdruck.

»Freischütz ist eine Oper«, dozierte ich, Wort für Wort setzend wie ein Lehrer.

»Eine Oper so?«

Der Vater meinte das verdrießlich und gleichgültig, aber es war nicht zu vertuschen, es gab eine Welt, wohin er mir nicht folgen konnte; ich hatte ihn überwunden. Stolz straffte mich. Jetzt hätte ich reiten können!!

Das Größte aber, was es gab, war das Erdbeben von Lissabon. Trotzdem einer der Mitschüler mir vorgeschwärmt hatte, in der Grottenbahn wäre der ganze Weltuntergang zu sehn, war ich nicht enttäuscht.

Wie die Häuser der Stadt dastanden grell und weiß in dem blauesten aller Tage, wie das Meer voll roter und gelber Segel den Horizont hinanstieg, wie jetzt nach und nach das wilde Gezwitscher der Vögel verstummt, und die Sonne steht hoch am Himmel es langsam immer dunkler und toter wird! Wie man fühlt, daß die Menschen vor der grauenhaften Erscheinung dieser Dunkelheit mitten am Tag sich in die Häuser flüchten und in den Kellern verstecken! Da ist es auf einmal ganz finster und plötzlicher Sturm wirbelt eine ungeheure Staubhose in die Schwärze, der das Tosen von Millionen Donnern, Kanonenschlägen, Hagelwettern und Explosionen folgt. Unsichtbar das Meer mit einer Riesensturzflut überschwemmt die Nacht und tritt sogleich zurück. Und diese Finsternis? Dauert sie tagelang, jahrelang oder nur die halbe Minute, die sie wirklich dauert? Jetzt hellt sie sich ein wenig auf. Feuerschein immer mehr, und der Riesenbrand der Stadt leckt mit Millionen Flammen und Schatten den Himmel aus, während heiser und schwach denn wie ferne in Zeit und Raum geht dies alles vor sich Zischen, Sud und Geprassel das Züngeln begleitet.

Gleich als wir ins Freie traten, wurde es mir in der Seele warm und gut. Daß ich gewußt hatte, daß es »Freischütz« und überhaupt ein Ding gab, das sich Oper nannte, und daß ich meinen Vater hatte belehren können, richtete mich auf. Einst würde ich Rapport halten, und sein Mund, der nur den harten Akzent des Dienstes kennt, wird stocken müssen.

»Nun wollen wir uns restaurieren«, sagte der Vater. Wir kehrten in einen Kaffeegarten ein. Ach, wie gütig war doch heute der Gestrenge. Er fragte mich sogar: »Was wünschest du zu nehmen, Karl?«

Ich brachte kein Wort heraus. Er aber kaufte dem Kuchenpikkolo drei Leckereien ab, legte zwei davon zu der Tasse Schokolade, die er mir bestellt hatte, und behielt selbst nur eine. Mein Herz schämte sich.

Das war der Papa, der vor mir saß. Der Große, Bewunderte, Alleswissende, Alleskönnende! Wen hatte ich denn sonst noch auf der Welt als ihn? Ich liebte ihn ja! Ich sehnte mich in bitteren Nächten nach seiner Liebe, und der Schmerz aller Erniedrigungen war nichts gegen die Qual jenes oft geträumten Traums, da ich ihn in Pulverdampf gehüllt, seinem Bataillon voraussprengend in die Luft greifen und fallen sah!

Wohin sollte meine kleine Seele mit den hin und her gerissenen Gefühlen? Der Vater winkte einen Kellner heran! »Wo ist hier die Schießstätte?« Der Mann gab Auskunft.

Das väterliche Auge sah mich scharf an. »Wir werden jetzt etwas Nützliches tun! Ich will sehen, ob du zum Plänkler taugst.« Ich war aus dem Himmel meiner Zärtlichkeit geworfen, und sogleich kehrte der bittere Geschmack zurück.

Auf dem Wege zur Schießstätte aber erlebte ich das Furchtbare, das meine ohnehin schon zerstörte Kindheit noch mehr zerstören sollte.

Vor einer großen Bude drängte sich eine Menge von Leuten. Eine gemütliche, etwas fette Stimme war zu hören: »Fürchten Sie sich nicht, meine Herrschaften! Nur immer heran! Was kann man Besseres an seinen Feinden tun, als ihnen den Hut vom Kopf werfen! Man muß nur geschickt sein. Man muß nur gut zielen können! Immer nur heran, meine Herrschaften! Lernen Sie, ihren Feinden den Hut vom Kopf werfen! Das ist gut für alle Parteien: gut für Klerikale, Agrarier und Sozialisten!«

Wir traten näher. Auf dem Ladenbrett der Bude waren große Körbe mit roten, blauen und weißen Filzbällen zu sehen. Hinter dem Brett stand der Budenbesitzer, ein Mann von schlau-gutmütigem Aussehn, der eine Militärkappe und einen roten Kaiserbart trug. Er zwinkerte vielsagend mit den Augen, wenn er die Bälle ausgab und die Münzen einstrich; dann sagte er wohl: »Nur gut zielen, mein Herr, Sie werden schon den richtigen treffen!« Und die Leute zielten und warfen, daß die Bälle sich nur so in der Luft kreuzten. Das Gelächter wollte gar nicht aufhören.

Wohin aber zielten und warfen sie? Mein Entsetzen war grenzenlos! Auf lebendige Menschen! Lebendige Menschen wurden von ihnen gesteinigt. Nein, das war ja nur eine Täuschung. Gott sei Dank, es sind ja nur Puppen, nur Figuren, denn solche Menschen hätte die Erde niemals tragen können.

Und welche Bewegung? Auf und nieder! Auf und nieder!

Mir schwindelte.

Der tiefe Hintergrund der Bude war dreifach geteilt. Rechts und links sah man hintereinander erhöht je zwei Bänke; aus jeder dieser Bank tauchten in hypnotischer Regelmäßigkeit auf und nieder, auf und nieder je drei Gestalten! Zwölf durch alle Höllen gehetzte Grimassen stiegen in magnetischem Rhythmus aus den Bänken auf und versanken wieder. Stiegen auf versanken.

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