»Das hat er auch!«
»Und die Erbschaft erhalten?«
»Ja, erhalten bis auf den letzten Penny.«
»Doch die Familie Vogel aus San Francisco?«
»Vogel? Habe mit keiner Art von Vogel aus San Francisco zu thun gehabt.«
»Nicht? Wer ist denn da der Mann, der die Erbschaft ausgezahlt bekommen hat?«
»Small Hunter.«
»Alle Wetter! So komme ich doch schon zu spät! Aber ich habe Euch doch vor Small Hunter gewarnt!«
»Wie! Was? Vor dem wollt Ihr mich gewarnt haben? Sir, Euer Wort in allen Ehren; Ihr seid ein berühmter und ein sehr tüchtiger Westmann; aber außerhalb der Prairie scheint Ihr unbegreiflich zu werden oder es zu lieben, Rätsel aufzugeben. Ihr wollt mich vor Small Hunter gewarnt haben? Ich muß Euch sagen, daß der junge Gentleman mein Freund ist.«
»Das weiß ich, nämlich, daß er es gewesen ist. Kann ein Toter noch jetzt, noch heut Euer Freund sein?«
»Ein Toter? Was sprecht Ihr da! Small Hunter lebt nicht nur noch, sondern ist frisch und gesund.«
»Darf ich fragen, wo?«
»Auf Reisen im Orient. Ich habe ihn selbst auf das Schiff gebracht, mit welchem er zunächst hinüber nach England gefahren ist.«
»Nach England! Hm! Reiste er allein?«
»Ganz allein, ohne Diener, wie es sich für so einen tüchtigen Weltbummler schickt. Er hat die Barbestände einkassiert, alles andre schnell verkauft und ist dann wieder fort, nach Indien, wie ich glaube.«
»Und sein Vermögen hat er mitgenommen?«
»Ja.«
»Ist Euch das nicht aufgefallen? Pflegt ein Tourist sein ganzes, mehrere Millionen betragendes Vermögen mit sich herumzutragen?«
»Nein; aber Small Hunter ist kein Tourist zu nennen. Er hat die Absicht, sich in Ägypten, Indien oder sonstwo anzukaufen. Nur das ist der Grund, daß er sein ganzes Eigentum flüssig gemacht hat.«
»Ich werde Euch beweisen, daß der Grund ein ganz anderer ist. Bitte, sagt mir vorher, ob sein Körper eine auffällige Eigenschaft, irgend eine Abnormität besitzt!«
»Abnormität? Wieso? Wozu wollt Ihr das wissen?«
»Das werdet Ihr erfahren. Antwortet zunächst.«
»Wenn Ihr es wünscht, meinetwegen! Es gab allerdings so eine Abnormität, welche aber äußerlich nicht zu bemerken war. Er hatte nämlich an jedem Fuße sechs Zehen.«
»Das wisset Ihr genau?«
»So genau, daß ich es beschwören kann.«
»Hatte der Mann, dem Ihr die Millionen verabfolgt habt, auch zwölf Zehen?«
»Wie kommt Ihr zu dieser sonderbaren Frage? Schreibt das Gesetz vor, daß man, wenn man jemandem eine Erbschaft auszahlt, die Zehen des Mannes zu zählen hat?«
»Nein. Aber der Mann, dem Ihr dieses große Vermögen ausgeantwortet habt, hat nur zehn Zehen in seinen Stiefeln.«
»Unsinn! würde ich rufen, wenn ihr nicht Old Shatterhand wärt.«
»Ruft es immerhin; ich nehme es Euch nicht übel. Ruft es dann noch einmal, wenn ich Euch sage, daß der echte, wirkliche Small Hunter mit seinen zwölf Zehen im Gebiete der tunesischen Beduinen vom Stamme der Ülad Ayar begraben liegt!«
»Begra «
Er sprach das Wort nicht aus, trat zwei Schritte zurück und starrte mich mit großen Augen an.
»Ja, begraben,« fuhr ich fort. »Small Hunter ist ermordet worden, und Ihr habt sein Erbe einem Betrüger verabfolgt.«
»Einem Betrüger? Seid Ihr bei Sinnen, Sir? Ihr habt gehört, daß ich vorhin sagte, Small Hunter sei mein bester Freund, und doch sollte ich einen Betrüger mit ihm verwechselt haben?«
»Allerdings.«
»Ihr irrt; Ihr müßt irren, unbedingt irren. Ich bin mit Small Hunter so befreundet, war mit ihm so intim, und wir kannten und kennen uns gegenseitig so genau, daß ein Betrüger selbst bei der größten Ähnlichkeit schon in der ersten Stunde unsers Verkehrs Gefahr laufen würde, von mir durchschaut zu werden.«
»Gefahr laufen? ja, das gebe ich zu; aber die Gefahr ist für ihn sehr glücklich vorübergegangen.«
»Bedenkt, was Ihr sagt! Ihr seid Old Shatterhand. Ich muß annehmen, daß Ihr gekommen seid, mir nicht nur eine so unbegreifliche Mitteilung zu machen, sondern auch nach derselben zu handeln.«
»Das ist allerdings meine Absicht. Übrigens habe ich bereits gehandelt, auch in Bezug auf Euch, indem ich Euch von Southampton aus die beiden Briefe schrieb.«
»Ich weiß von keinem Briefe!«
»Dann gestattet mir, Euch Eure beiden Antworten vorzulegen.«
Ich nahm die Briefe aus meiner Tasche und legte sie ihm auf den Tisch. Er ergriff und las den einen und dann den andern. Ich beobachtete ihn dabei. Welch eine Veränderung ging da in seinen Zügen vor! Als er den zweiten gelesen hatte, langte er wieder nach dem ersten, dann abermals nach dem zweiten; er las jeden dreimal, viermal, ohne ein Wort zu sagen. Die Röte wich aus seinem Gesichte; er wurde leichenblaß und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, auf welcher sich Tropfen bildeten.
»Nun?« fragte ich, als er dann immer noch schwieg und lautlos in die Papiere starrte. »Kennt Ihr die Briefe nicht?«
»Nein,« antwortete er mit einem tiefen, tiefen Atemzuge, indem er sich mir wieder zuwendete.
Seine sonst bleichen Wangen röteten sich unter den Augen stark. Das war der Schreck, die Aufregung.
»Aber seht die Couverts! Die Briefe sind aus Eurer Office, wie Euer Stempel beweist.«
»Ja.«
»Und von Euch unterschrieben!«
»Nein!«
»Nicht? Wir haben da zweierlei Handschrift. Der Brief ist von einem Eurer Leute geschrieben und dann von Euch unterzeichnet worden.«
»Das erstere ist richtig, das letztere aber nicht.«
»Also ein Schreiber von Euch hat ihn doch verfaßt?«
»Ja; es ist Hudsons Hand. Es ist mehr als gewiß, daß er ihn geschrieben hat.«
»Und Eure Unterschrift ?«
»Ist gefälscht, so genau nachgeahmt, daß nur ich selbst im stande bin, zu sehen, daß es Fälschung ist. Mein Gott! Ich habe Eure Fragen und Reden für inhaltslos gehalten; hier aber sehe ich eine Fälschung meiner Unterschrift vor Augen; es muß also etwas vorliegen, was Euch die Berechtigung giebt, so unbegreifliche Dinge vorzubringen!«
»Es ist allerdings so. Der kurze Inhalt alles dessen, was ich Euch zu sagen habe, ist in den Worten ausgedrückt, welche Ihr schon vorhin gehört habt: Der echte Small Hunter ist ermordet worden, und Ihr habt sein Vermögen nicht nur einem Betrüger, sondern sogar seinem Mörder übergeben.«
»Seinem Mörder ?« wiederholte er wie abwesend.
»Ja, wenn dieses Wort auch nicht so ganz genau wörtlich zu nehmen ist. Er selbst hat ihn nicht ermordet, ist aber mit im Komplott gewesen und hat moralisch die gleiche Schuld, als wenn er die tödliche Waffe geführt hätte.«
»Sir, ich befinde mich wie im Traume! Aber es ist ein böser, ein schrecklicher Traum. Was werde ich hören müssen!«
»Habt Ihr Zeit, eine ziemlich lange Geschichte anzuhören?«
»Zeit Zeit! Was fragt Ihr da erst! Hier habe ich die Fälschung in den Händen; sie sagt mir, daß meine Office zu einem Betruge benutzt worden ist. Da muß ich Zeit haben, selbst wenn Eure Erzählung Wochen in Anspruch nehmen sollte. Setzt Euch, und gestattet mir einen Augenblick, meinen Leuten zu sagen, daß ich jetzt für keinen Menschen mehr zu sprechen bin!«
Wir hatten in der Erregung beide unsere Plätze verlassen; nun setzte ich mich wieder nieder. Ja, auch ich war erregt. Ich hatte die Überzeugung gehegt, daß meine Briefe an die richtige Adresse gekommen seien, und mußte nun das Gegenteil davon hören. Die Halunken hatten ihren Plan ausgeführt. Vielleicht war alle unsere Mühe, waren alle die Wagnisse, welche wir unternommen hatten, vergeblich gewesen!
Als der Anwalt den beabsichtigten Befehl gegeben hatte, setzte er sich mir gegenüber nieder und winkte mir mit der Hand, zu beginnen. Sein Gesicht war noch immer blaß wie vorher; ich sah, daß seine Lippen zitterten; es gelang ihm nur schwer, äußerlich ruhig zu erscheinen. Der Mann, dessen Ehre auf dem Spiele stand, that mir leid. Seine persönliche Ehre, des war ich überzeugt, konnte nicht angegriffen werden; aber in seiner Office war eine Fälschung vorgekommen; er hatte sich von einem raffinierten Schwindler betrügen lassen; es handelte sich dabei um ein großes Vermögen wenn die Thatsachen an die Öffentlichkeit gelangten, so war er vernichtet.
Ich war überzeugt, daß Thomas und Jonathan Melton nicht allein gehandelt, sondern auch Harry Meltons Hilfe in Anspruch genommen hatten. Darum mußte sich mein Bericht auch auf letzteren erstrecken. Ich erzählte also alles, was ich von den drei Personen wußte, was ich mit ihnen und gegen sie erlebt hatte. Die Erzählung dauerte natürlich sehr lange, und doch unterbrach der Anwalt sie mit keinem Ausruf. Selbst als ich geendet hatte, saß er noch eine Zeitlang schweigend da, indem er den Blick starr in die Ecke gerichtet hielt. Dann stand er von seinem Stuhle auf, ging einigemal im Zimmer hin und her, blieb schließlich vor mir stehen und fragte:
»Sir, alles, was ich jetzt gehört habe, ist wahr, ist die reine Wahrheit?«
»Ja.«
»Verzeiht die Frage! Ich sehe ein, ja ich muß einsehen, daß sie überflüssig ist; aber es klingt das alles so unmöglich, und für mich handelt es sich dabei um mehr, als Ihr vielleicht denkt.«
»Um was es sich für Euch handelt, kann ich mir denken -um Euern Ruf, Eure Zukunft, vielleicht auch Euer Vermögen.«
»Natürlich auch um das letztere. Wenn es sich herausstellt, daß Ihr Euch nicht irrt, werde ich, selbst wenn mich niemand dazu zwingen könnte, mit allem, was ich besitze, für den Verlust eintreten, welchen die richtigen Erben dadurch, daß ich mich habe täuschen lassen, erleiden. Und leider bin ich der Überzeugung, daß alles, was ich dem Betrüger übergeben habe, verloren ist.«
»Ich möchte das jetzt noch nicht als Thatsache hinstellen. Man kann ihn noch erwischen.«
»Schwerlich! Er ist über die See und wird sich gewiß an einem Orte verstecken, von dem er weiß, daß er ihm Sicherheit gewährt.«
»Hatte sich nicht auch sein Vater versteckt? Und haben wir diesen nicht in Tunis gefunden? Ich denke, daß der Sohn keinen Vorzug vor dem Vater haben wird. Die eigentliche Schwierigkeit liegt darin, daß die drei Halunken die Beute teilen werden. Selbst wenn wir den einen erwischen, gehen die beiden andern Teile verloren.«
»So meint Ihr also, daß Harry Melton auch jetzt die Hand im Spiele gehabt hat?«
»Ich bin überzeugt davon.«
»In welcher Weise sollte er geholfen haben?«
»Hm! Wie hieß der Schreiber, welcher mir die beiden Antworten geschrieben und Eure Unterschriften gefälscht hat?«
»Hudson.«
»Wie lange ist er schon bei Euch?«
»Ein und ein halbes Jahr.«
»Ich vermute, daß er sich nicht mehr in Eurer Office befindet.«
»Ich erwarte seine Heimkehr übermorgen. Er wurde telegraphisch von dem Tode seines Bruders benachrichtigt und erbat sich zwei Wochen Urlaub, um beim Begräbnisse desselben zu sein und dann die Kinder des Verstorbenen unterbringen zu können.«
»Wo soll der Bruder gelebt haben und gestorben sein?«
»Droben in St. Louis.«
»So können wir getrost bis auf weiteres annehmen, daß er diese Richtung nicht eingeschlagen hat. Wie seid Ihr mit ihm bekannt geworden?«
»Durch die schriftlichen Empfehlungen, welche er besaß. Ich stellte ihn zunächst als gewöhnlichen Schreiber an, obgleich er bedeutend älter war als Leute, denen man sonst einen solchen Posten anweist, doch schon nach kurzer Zeit erwies er sich so brauchbar, daß ich ihm immer mehr und mehr anvertraute. Er lebte außerordentlich zurückgezogen, war sehr fleißig und pünktlich und schien in seinen Mußestunden zu studieren, denn ich bemerkte gar wohl, daß seine Kenntnisse sich vermehrten. Es gab Fächer, in denen ich meine Klienten getrost an ihn weisen konnte; ich war überzeugt, daß sie von ihm ebensogut bedient wurden, wie von mir selbst.«
»Wie stand er sich mit Euern andern Arbeitern?«
»Er lebte mit keinem von ihnen auf vertrautem Fuße; er hatte in seinem Verhalten gegen sie etwas, was ihn unnahbar machte, obgleich ich ihn keineswegs als abstoßend bezeichnen kann. Dann, als seine Stellung sich immer mehr besserte, bis er es endlich zum Vorstande der Office brachte, verstand es sich von selbst, daß er sich noch mehr absonderte.«
»Wer hatte die Briefe und übrigen Eingänge zu empfangen?«
»Er. Was ohne mich erledigt werden konnte, erledigte er; das übrige hatte er mir vorzulegen.«
»So hat er meine beiden Briefe empfangen, geöffnet, gelesen und beantwortet, ohne Euch ein Wort davon zu sagen. Wie alt war er ungefähr?«
»Er schien am Ende der fünfziger Jahre zu stehen.«
»Welche Gestalt?«
»Schmächtig, starkknochig, schwarz von Haar.«
»Zähne?«
»Vollständiges Gebiß.«
»Sein Gesicht?«
»Das war ein ganz eigentümliches. Hudson war ein sehr schöner Mann; ich habe noch nie das Gesicht eines Mannes gesehen, welches so schön war wie das seinige. Aber wenn man dasselbe länger betrachtete, so bekam man das Gefühl, als ob die Schönheit auch ihre Mängel habe. Ich bin kein Maler, kein Kunstverständiger und verstehe nicht, mich richtig auszudrücken. Sein Gesicht war schön; es gefiel mir, aber dann nicht mehr, wenn ich es länger als nur vorübergehend betrachtete.«
»Gut, Sir; ich weiß jetzt, woran ich bin. Harry Melton ist der Vorstand Eurer Office gewesen.«
»Alle Wetter! Meint Ihr das wirklich?«
»Unbedingt. Er durfte sich nicht sehen lassen; er mußte zurückgezogen und verborgen leben. Sucht die Polizei einen schweren Verbrecher in der Office eines berühmten Advokaten?«
»Das ist wahr. Sollte er schon bei seinem Eintritte bei mir von dem Plane unterrichtet gewesen sein, welcher jetzt ausgeführt worden ist?«
»Möglich.«
»Aber kein Mensch konnte damals wissen, daß man mich zum Erbschaftsverweser ernennen würde!«
»War auch nicht nötig. Der alte Hunter war so alt, daß man seinen Tod bald erwarten konnte. Der junge Melton war dem Erben ähnlich. Ihr waret mit dem letzteren auf das innigste befreundet, woraus folgte, daß Hunter sich beim Tode seines Vaters in juristischen Fragen an Euch wenden würde da habt Ihr alles!«
»Und dennoch wird es mir schwer, zu glauben, daß ich das Opfer eines schon so lange vorbereiteten Planes gewesen sein soll. Aber Ihr überzeugt mich. Ich nehme an, daß Ihr recht habt.«
»Und ich bin sogar überzeugt, daß dieser famose Vorstand Eurer Office nicht nur mit seinem Bruder in Tunis korrespondiert, sondern auch von seinem Neffen von Zeit zu Zeit Briefe bekommen hat, um auf dem Laufenden erhalten zu werden.«
»Welch ein Abgrund von Bosheit und Schlechtigkeit ist es, in welchen man da blickt! Und welch ein Glück, daß Ihr mir die verlangten Dokumente nicht geschickt habt! Sie wären vernichtet worden, sodaß man später keinen Beweis gegen diese Menschen hätte erbringen können.«
»Was das betrifft, so wären, allerdings nur unter großem Zeitverluste, recht wohl neue Beweisschriften aus Tunis zu beschaffen gewesen; besser aber ist es allerdings, daß ich sie mir nicht habe ablocken lassen. Was gedenkt Ihr nun in der Angelegenheit zu thun, Sir?«
»Vor allen Dingen meine nächste Pflicht. Ich habe der Behörde unverzüglich Meldung zu machen. Dazu bedarf es Eurer Dokumente. Werdet Ihr sie mir anvertrauen?«