Mary, Erzählung - Bjørnson Bjørnstjerne 3 стр.


Er konnte sie nicht dazu bewegen, mit Kindern umzugehen; das langweilte sie. Sie gingen nicht schnell genug auf ihre Ideen ein, die freilich recht eigentümlich waren. Die Felder hier waren doch ein Zirkus; der Vater hatte ihr von Buffalo Bill erzählt. Indianer sprengten durch die Arena, sie selbst an der Spitze auf einem weißen Pferde. Die Hügel waren die Logen, die voll Menschen waren. Das konnten die anderen Kinder nicht sehen. Auch das Reisenspielen auf dem Tisch, das ihr Vater sie gelehrt hatte, verstanden sie nicht.

Als Siebenjährige nötigte sie ihren Vater, ihr ein Rad zu kaufen und sie fahren zu lehren; er selbst fuhr ausgezeichnet. Das war aber doch der Tropfen, der den Becher zum Überlaufen brachte und ihn bestimmte, sich nach Unterstützung umzusehen.

Er hatte in Paris eine entfernte Verwandte kennen gelernt, eine Frau Dawes; sie war in England verheiratet gewesen; als aber ihr einziges Kind starb, hatte sie sich scheiden lassen und lebte in Paris als Pensionsinhaberin. In dieser Pension hatte er sie täglich bewundert. Er war kaum je einem klügeren Menschen begegnet. Er fragte bei ihr an, ob sie zu ihm kommen, seinem Hause vorstehen und sein Kind erziehen wolle. Sie sagte ohne Zögern telegraphisch zu, und in weniger als einem Monat hatte sie alles verkauft, war abgereist und hatte sich in ihren neuen Wirkungskreis begeben. Ein Hüftleiden, das sie schon lange plagte, hatte sich verschlimmert, so daß ihr das Gehen schwer fiel. Aber von ihrem Rollstuhl aus, den sie mitgebracht hatte, und den ihre behäbige Person vollständig ausfüllte, leitete sie das ganze Haus, ihn selbst inbegriffen. Er war ganz erschrocken über ihre Tüchtigkeit. Sie kam selten aus ihrem Stuhl heraus, aber trotzdem wußte sie alles, was geschah. Wände hemmten ihren Blick nicht, eine Entfernung gab es nicht für sie. Größtenteils ließ sich das aus der Schärfe ihrer Sinne erklären, aus ihrer Fähigkeit, Worte und Zeichen zu deuten, in Mienen und Augen zu lesen, zu riechen und zu hören, Schlüsse zu ziehen aus dem, was sie wußte,—und siebentens und letztens daraus, daß sie zu fragen verstand. Aber einiges war auch nicht zu erklären. Drohte einem, den sie lieb hatte, eine Gefahr, so fühlte sie das, wo sie auch war. Sie schrie auf—in solchen Augenblicken sprach sie immer englisch—und war auf den Beinen und Feuer und Flamme. So zum Beispiel an dem denkwürdigen Tage, da Marit mit ihrem Rad in den Fluß gefallen war und durch Männer vom Dampfer aus aufgefischt wurde; denn unten an der Landungsbrücke, wohin sie gewollt hatte, war das Unglück geschehen. Da stießen sie und Frau Dawes aufeinander, die eine triefend von Nässe und heulend, die andere triefend von Schweiß und auch heulend.

Frau Dawes machte täglich ihre Runde durch das Haus und, wenn es nötig war, auch um das Haus herum. Weiter kam sie selten. Auf diesem Rundgang sah sie alles, auch das, was erst später geschah, versicherten die Mägde.

Sie hatte etwas Schwimmendes an sich. Sie schwamm beständig in Papier. Ihre Korrespondenz, die, wie Anders Krog behauptete, alle Personen umfaßte, die sie einmal in Pension gehabt hatte, setzte sie ununterbrochen fort. In allen Sprachen und über alle Dinge; denn ihre zweite Hauptbeschäftigung war: das, was sie las—und sie las bis tief in die Nacht hinein—in ihre Korrespondenz hineinzubringen. Sie drehte sich nach dem Tisch mit dem Schreibpult um, sie wandte sich fort vom Tisch, um zu lesen. An der Stuhllehne war eine Lesepultmechanik angebracht, worauf das Buch lag; in der Hand hielt sie es selten. Sie zog Memoiren jeder andern Lektüre vor, und davon plauderte sie nachher in ihren Briefen. In zweiter Reihe kamen Kunstzeitschriften und Reiseliteratur. Sie hatte ein kleines Vermögen und kaufte sich alles, was ihr gefiel.

Das Kind unterrichtete sie nebenbei. In der Wohnstube an dem großen Tisch saßen sie, "Tante Eva" in ihrem Thronsessel, die Kleine ihr gegenüber. Immer aber, wenn es nötig war, mußte Marit an Tante Evas Pult kommen. Der Unterricht ging so leicht vonstatten, daß die Kleine oft vergaß, daß es Schule war. Ja, selbst der Vater, der seine Bibliothek dicht daneben hatte, vergaß es oft, wenn er hereinkam und das Gespräch oder die Erzählung mit anhörte.

War der Unterricht leicht, so waren andre Dinge sehr schwierig und führten zu Kämpfen. Das ganze Verhalten des Kindes wollte sie ändern, und da war ihr der Vater im Wege. Aber er wurde natürlich geschlagen, und noch ehe er ahnte, was Frau Dawes beabsichtigte. Marit sollte gehorchen lernen, sie sollte einen Begriff von bestimmter Zeiteinteilung, von Ordnung, von Höflichkeit, von Takt bekommen. Sie sollte jeden Tag Klavier üben, sie sollte bei Tisch hübsch gerade sitzen und sich die Hände unzählige Male am Tage waschen; sie sollte immer sagen, wohin sie gehe. Und nichts von all dem wollte sie. Eigentlich auch der Vater nicht.

Frau Dawes hatte einen einzigen festen Punkt, von dem sie ausgehen konnte. Das war der unerschütterliche Glaube des Kindes an die Vollkommenheit seiner Mutter. Frau Dawes wußte sie davon zu überzeugen, daß die Mutter nie später als um acht Uhr schlafen gegangen sei. Sie habe immer vorher ihre Kleider ordentlich auf einen Stuhl gelegt und ihre Schuhe vor die Tür gestellt.

Von dem, was die Mutter getan und bis zur Vollkommenheit getan hatte, ging sie zu dem über, was die Mutter getan hätte, wenn sie an Marits Stelle gewesen wäre; und vor allem, was sie nicht getan hätte, wenn sie Marit wäre. Das war schwieriger. So als Frau Dawes versicherte, die Mutter sei immer nur so weit geradelt, wie man sie sehen konnte. "Woher weißt Du das?" fragte Marit.—"Ich weiß es daher, daß Dein Vater und Deine Mutter nie voneinander getrennt waren."—"Das ist wahr, Marit", fiel der Vater ein, froh, daß er auch einmal zu dem ja sagen konnte, was Frau Dawes einfiel; denn das meiste war doch durchaus nicht wahr.

Je weiter der Unterricht fortschritt, desto mehr Freude machte es Frau Dawes selbst, und desto größeren Einfluß gewann sie auf das Kind. Sie machte es sich zur Aufgabe, das Traumleben Marits auszuroden, das ein Erbteil der Mutter war und in üppiger Blüte stand, solange der Vater zuhörte und seinen Spaß daran hatte.

Einmal im Frühjahr kam Marit schnell herein und erzählte ihrem Vater, in dem alten Baum zwischen den Gräbern der Mutter und der Großmutter sei ein kleines Nest und in dem Nest seien ganz, ganz kleine Eier. "Das ist ein Gruß von Mutter, nicht?" Er nickte und ging mit ihr, um es zu besehen. Als sie aber näher kamen, flog der Vogel auf und piepte jämmerlich. "Mutter sagt, wir sollen nicht näher heran?" fragte sie ihren Vater.—Er bejahte es. "Dann würden wir Mutter stören?" fragte sie weiter. Er nickte.–Sie gingen seelenvergnügt wieder nach Hause und sprachen den ganzen Weg von Mutter. Als Marit Frau Dawes hiervon erzählte, sagte sie: "Das sagt Dein Vater nur, um Dich nicht zu betrüben, Kind. Könnte Deine Mutter Dir eine Botschaft senden, so käme sie selbst."—Die Revolution, die diese wenigen grausamen Worte anrichteten, war nicht abzusehen. Sie veränderten auch das Verhältnis zum Vater.–

Die Schule ging ihren regelrechten Gang, die Erziehung auch, bis Marit nahezu dreizehn Jahr alt war, lang und dünn und großäugig mit üppigem, rotem Haar und weißer, zarter Haut ohne Sommersprossen, was Frau Dawes' besonderer Stolz war.

Da kam der Vater eines Tages aus der Bibliothek herein und unterbrach den Unterricht. Das war in den ganzen Jahren nicht ein einzigesmal geschehen. Marit bekam frei; Frau Dawes ging mit dem Vater in die Bibliothek. "Bitte lesen Sie diesen Brief!"—

Sie las und erfuhr,—wovon sie nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte,—daß der Mann, der vor ihr stand und ihr Gesicht während des Lesens beobachtete, ein Millionär war, kein Kronen-, nein, ein Dollarmillionär. Er hatte seit dem Tode des Onkels nach der ersten vorläufigen Ausbezahlung der Bankguthaben und Aktien als Kompagnon des Bruders nichts wieder abgehoben,—und dies war das Resultat.

"Ich gratuliere Ihnen", sagte Frau Dawes und faßte seine rechte Hand mit ihren beiden. Ihr standen die Tränen in den Augen. "Ich verstehe Sie, lieber Krog; Sie wünschen, daß wir jetzt auf Reisen gehen?" Er sah sie mit seinen leuchtenden Augen lachend an. "Haben Sie etwas dagegen, Frau Dawes?"—"Durchaus nicht, wenn wir die nötige Bedienung mitnehmen; ich bin ja einmal so schlecht zu Fuß."—"Das sollen Sie haben, und überall halten wir uns einen Wagen. Der Unterricht kann fortgesetzt werden, nicht wahr?"—"Ob er kann! Nur um so besser!" Sie lachte und weinte zugleich, und sie sagte selbst, so glücklich sei sie noch nie gewesen.

Vierzehn Tage später hatten die drei mit einem Diener und einem Mädchen Krogskog verlassen.

* * * * *

Der Thronwechsel

So gingen zweieinhalb Jahre hin, in denen der Vater einige Male in Norwegen war, aber die anderen nicht. Dann dachten sie ernstlich daran, einen Sommer in Krogskog zu verbringen. Aus diesem Grunde standen sie alle drei in einem Konfektionsgeschäft in Wien. Frau Dawes und Marit sollten neue Kleider haben, besonders Marit, die aus ihren herausgewachsen war. Es war in den ersten Tagen des Mai, und es handelte sich um Sommerkleider.

"Dein Vater und ich, wir finden beide, Du mußt jetzt lange Kleider haben. Du bist schon so groß." Marit blickte zu ihrem Vater hin, aber die Stoffe, die vor ihnen ausgebreitet lagen, hielten seinen Blick fest. Frau Dawes sprach statt seiner. "Dein Vater hat oft gesagt, wenn Du mit ihm gehst, sehen die Herren Dir so nach den Beinen."—Der Vater wurde unruhig; selbst das Fräulein hinter dem Ladentisch merkte, daß ein Gewitter in der Luft lag. Sie verstand die Sprache nicht, aber sie sah die drei Gesichter. Schließlich hörte der Vater Marit mit einer fremden, aber freundlichen Stimme antworten: "Soll ich jetzt lange Kleider haben, weil Mutter, als sie in meinem Alter war, auch welche trug?"—Frau Dawes sah erschrocken Anders Krog an; er aber wandte sich ab. Dann wieder Marit: "Tante Eva, Du warst doch natürlich mit Mutter zusammen, als sie damals lange Kleider bekam? Oder Vater vielleicht?"

Dann wurde nicht mehr von langen Kleidern gesprochen. Es wurde überhaupt nicht mehr gesprochen. Sie gingen fort.

Weiter geschah nichts. Es ergab sich von selbst, daß sie am nächsten Tage, statt zum Unterricht zu kommen, mit dem Vater ausfuhr, um die Sache mit den Kleidern zu ordnen. Des weiteren, daß sie sich von dort in die Museen begaben. Sie setzten diese täglichen Ausfahrten bis zur Abreise fort. Mit dem Unterricht war es vorbei. Als sei nichts vorgefallen, gingen sie jeden Abend zu Dreien ins Konzert oder in die Oper oder ins Schauspiel. Sie wollten die Zeit, die ihnen noch blieb, ausnutzen.

In den ersten Tagen des Juni waren sie in Kopenhagen. Hier erwartete sie ein Brief von Onkel Klaus. Jörgen Thiis, sein Pflegesohn, sei Leutnant geworden; Klaus wolle draußen in seinem Landhause einen Frühlingsball geben, aber er warte damit, bis sie heimkämen. Wann sie kämen?

Darauf freute sich Marit sehr. Den schönen, schlanken Jörgen kannte sie.

Er war der Sohn des Bezirksamtmanns, seine Mutter war Klaus Krogs Schwester.

Also mußte jetzt ein Ballkleid komponiert werden; die Erwägungen waren sehr kurz, keiner sagte vorläufig ein Wort. Das Spannende der Sache, ob dieses Kleid wohl lang sein werde, verschloß jeder in seiner Brust. Als der große Augenblick des Maßnehmens kam, fragte die Dame, die es tat: "Das gnädige Fräulein soll doch ein langes Kleid haben?" Marit sah zu Frau Dawes hin, die rot wurde. Was aber schlimmer war: die Dame selbst wurde auch rot. Sie nahm eilig nach dem kurzen Kleide Maß, das Marit anhatte.

Am zwanzigsten Juni fand also der Ball statt. Ein schwüler Tag ohne Sonne. Die Gäste standen im Garten vor dem großen Landhause, als das Boot anlegte, mit dem Marit und ihr Vater kamen; sie waren die letzten. Sie stieg allein aus. Der alte Klaus stapfte lang und dürr und mit ungeheuer weiten Beinkleidern zu ihr hinunter, ohne Hut mit blanker Glatze und feuchtglänzendem Gesicht. Er hielt sie durch eine Handbewegung zurück, während er zu Anders Krog im Boot hinuntersah: "Willst Du nicht heraufkommen?"—"Nein, nein! Tausend Dank!" Das Boot stieß ab. Jetzt erst sah er Marit an, die Frau Dawes in ihrem langen Brief als die größte Schönheit beschrieben hatte, die sie je gesehen. Er starrte sie an, verbeugte sich und kam näher; er roch nach Tabak und schmunzelte mit seinem großen, weit offnen, unappetitlichen Munde. Bot ihr dann seinen Arm. Sie aber in ihrem langen ärmellosen Mantel tat, als bemerkte sie es nicht. Er stutzte, folgte ihr aber zu den andern. Und dann sagte er: "Hier bringe ich die Ballkönigin." Das verletzte sie und verletzte alle, so daß der Anfang nicht vielversprechend war. Jörgen, der Held des Abends, drängte sich vor, um sich zu erbieten, ihr Hut und Mantel abzunehmen. Sie aber grüßte obenhin und ging weiter. Es lag Stil darin. Unter den Zurückbleibenden entstand sofort ein Geflüster. Die Art, wie sie vorüberging, ihr Gesicht, ihre Haltung, ihr Gang, die blendend schöne Haut, die leuchtenden Augen, die Wölbung darüber, die feingeformte Nase … das war alles aus einem Guß und alles vollendet. Jörgen Thiis war hin. Er selbst war ein großer, schlanker Mensch vom Krogschen Typ; nur die Augen waren ganz anders. Jetzt hingen sie wie festgenagelt an der Tür, hinter der sie verschwunden war. Er wartete auf der Treppe.

Und wie sie wieder heraus und auf ihn zukam, um an seinem Arm zu den andern hinunter zu gehen,—in einem kurzen Kleide aus lichtem, wasserblauem Krepp mit durchbrochnen seidenen Strümpfen von derselben Farbe und in Silberbrokatschuhen mit antiken Schnallen, war sie ein Bild. Die Bewunderung war einstimmig. Es wurde von nichts anderem gesprochen, bis man zu Tisch ging. Auch da hörte es noch nicht auf; es gab Gesprächsstoff für die ganze Stadt. Daß ein so klassisch geschnittenes Gesicht mit so leuchtenden Augen in dem weißen, weißen Teint obendrein noch in einem Glorienschein von rotem Haar stand! Das Ganze war harmonisch zu der hohen Gestalt mit den leicht abfallenden Schultern und einer Büste, die noch nicht voll entfaltet, aber von einer Freiheit und Unabhängigkeit war, als könne sie losgelöst werden. Die Arme, die Handgelenke, die Hüftbildung, die Füße … es wurde beinahe komisch; denn einige junge Herren stellten mit dem größten Eifer die Behauptung auf, die Knöchel seien das Allerschönste. Sie hätten nicht ihresgleichen. So dünn,—und mit dieser schwellenden Rundung nach oben—? Nein, nirgends!

Jörgen Thiis vergaß das Reden, ja sogar eine Zeitlang das Essen, das ihm sonst doch das Schönste auf der Welt war. Er ging wie ein Schlafwandler mit ihr. Wenn man sie sah, war er an ihrer Seite oder hinter ihr her.

Wegen des Balles hatten sich ihr Vater und Frau Dawes nach dem Hause in der Stadt begeben. Sie wurden beim Morgengrauen geweckt von lautem Schwatzen und Lachen vor dem Hause und schließlich gar männlichen und weiblichen Hurrarufen; die Ballgäste hatten Marit nach Hause begleitet.

Am ändern Tage bekamen die Alten Besuch von Verwandten und Freunden. Die älteren Leute, die auf dem Ball gewesen waren, erklärten Marit für die Schönste, die sie seit Menschengedenken gesehen hätten. Der alte Klaus war abends um neun noch in die Stadt gerudert und zu einigen Freunden gepilgert, bloß weil sie kommen und sehen sollten.

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