»Ich möchte gerne.«
»So bleib doch!«
»Nein, es wäre unrecht. Ich muss auch noch mehr von dem Kraut sammeln.«
»Bist du denn im Kloster?«
»Ja, ich bin Schüler. Aber ich bleibe nicht mehr dort. Kann ich zu dir kommen, Lise? Wo wohnst du denn, wo bist du zu Haus?«
»Ich wohne nirgends, mein Schatz. Willst du mir aber nicht deinen Namen sagen? – So, Goldmund heißest du?
Gib mir noch einen Kuss, Goldmündchen, dann kannst du ja gehen.«
»Du wohnst nirgends? Wo schläfst du denn?«
»Wenn du willst, mit dir im Wald oder auf dem Heu. Kommst du heut nacht?«
»O ja. Wohin? Wo finde ich dich?«
»Kannst du schreien wie ein Käuzchen?«
»Ich habe es nie probiert.«
»Probiere es.«
Er versuchte es. Sie lachte und war zufrieden.
»Dann komm heut nacht aus dem Kloster und schreie wie ein Käuzchen, ich bin in der Nähe. Gefalle ich dir denn, Goldmündlein, mein Kindlein?«
»Ach, du gefällst mir sehr, Lise. Ich komme. Behüt dich Gott, jetzt muss ich weiter.«
Auf dampfendem Pferd kam Goldmund in der Dämmerung ins Kloster zurück und war froh, dass er den Pater Anselm sehr beschäftigt fand. Ein Bruder hatte sich barfuß im Bach vergnügt und sich dabei einen Scherben in den Fuß getreten.
Jetzt galt es, Narziss aufzufinden. Er fragte einen der dienenden Brüder, die im Refektorium aufwarteten. Nein, sagten sie, Narziss käme nicht zum Nachtmahl, er habe Fasttag und werde jetzt wohl schlafen, da er nachts Vigilien halte[49]. Goldmund rannte. Seines Freundes Schlafstätte während der langen Exerzitien war eine der Büßerzellen im innern Kloster. Ohne Besinnen lief er hin. Er horchte an der Tür, nichts war zu hören. Leise trat er ein. Dass es streng verboten war, kam jetzt nicht in Betracht[50].
Auf der schmalen Pritsche lag Narziss, in der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem, spitzem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte aber die Augen offen und schlief nicht. Stumm blickte er Goldmund an, ohne Vorwurf, doch ohne sich zu rühren und sichtlich so in einer Versunkenheit befangen, so in einer andern Zeit und Welt gegenwärtig, dass er Mühe hatte, den Freund zu erkennen und seine Worte zu verstehen.
»Narziss! Verzeih, verzeih, Lieber, dass ich dich störe, es geschieht nicht aus Mutwillen[51]. Ich weiß, dass du jetzt eigentlich nicht mit mir sprechen darfst, aber tue es dennoch, ich bitte dich sehr darum.«
Narziss besann sich, einen Augenblick heftig blinzelnd, als gebe er sich Mühe, wach zu werden.
»Ist es notwendig?« fragte er mit erloschener Stimme.
»Ja, es ist notwendig. Ich komme, um von dir Abschied zu nehmen.«
»Dann ist es notwendig. Du sollst nicht vergebens gekommen sein. Komm, setze dich zu mir. Eine Viertelstunde ist Zeit, dann beginnt die erste Vigilie.«
Er hatte sich aufgerichtet und saß hager auf dem nackten Schlafbrett; Goldmund setzte sich neben ihn.
»Verzeih nur!« sagte er schuldbewusst. Die Zelle, die kahle Pritsche, Narzissens überwachtes und überanstrengtes Gesicht, sein halb abwesender Blick, alles zeigte ihm deutlich, wie sehr er hier störe.
»Nichts zu verzeihen. Nimm auf mich keine Rücksicht, mir fehlt nichts. Du willst Abschied nehmen, sagst du? Du gehst also fort?«
»Ich gehe noch heut. Ach, ich kann es dir nicht erzählen! Es ist plötzlich alles zur Entscheidung gekommen.«
»Ist dein Vater da oder Botschaft von ihm?«
»Nein, nichts. Das Leben selber ist zu mir gekommen. Ich gehe fort, ohne Vater, ohne Erlaubnis. Ich mache dir Schande, du, ich laufe fort.«
Narziss blickte auf seine langen weißen Finger nieder, dünn und gespenstisch kamen sie aus den weiten Kuttenärmeln hervor. Nicht in seinem strengen, arg ermüdeten Gesicht, aber in seiner Stimme war ein Lächeln zu spüren, als er sagte: »Wir haben sehr wenig Zeit, Lieber. Sage nur das Notwendige, and sage es deutlich und kurz. – Oder muss ich es dir sagen, was mit dir geschehen ist?«
»Sage es«, bat Goldmund.
»Du bist verliebt, kleiner Junge, du hast ein Weib kennengelernt.«
»Wie kannst du nun das wieder wissen!«
»Du machst es mir leicht. Dein Zustand, o amice, trägt alle Kennzeichen jener Art von Trunkenheit, die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.«
Schüchtern legte Goldmund seine Hand auf des Freundes Schulter.
»Nun hast du es schon gesagt. Aber du hast es diesmal nicht gut gesagt, Narziss, nicht richtig. Es ist ganz anders. Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, dass jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, dass ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr. Wie aus den Träumen meines eigenen Herzens heraus war da plötzlich eine schöne fremde Frau gekommen, die hielt meinen Kopf in ihrem Schoß, und sie lächelte mich an wie eine Blume und war lieb mit mir, gleich bei ihrem ersten Kuss fühlte ich es in mir schmelzen und auf eine wunderbare Art weh tun. Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen. Sie hat mich gelehrt, was eine Frau ist und welches Geheimnis sie hat. Sie hat mich in einer halben Stunde um viele Jahre älter gemacht. Ich weiß jetzt vieles. Auch das wusste ich ganz plötzlich, dass jetzt meines Bleibens in diesem Hause nicht mehr sei, keinen einzigen Tag mehr. Ich gehe, sobald es Nacht ist.«
Narziss hörte zu und nickte.
»Es ist plötzlich gekommen«, sagte er, »aber es ist etwa das, was ich erwartet hatte. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice. Kann ich etwas für dich tun?«
»Wenn es dir möglich ist, so sage unserm Abt ein Wort, dass er mich nicht völlig verdammt. Er ist der einzige außer dir im Hause, dessen Gedanken über mich mir nicht gleichgültig sind. Er und du.«
»Ich weiß… Hast du sonst ein Anliegen?«
»Eine Bitte, ja. Wenn du später an mich denkst, dann bete einmal für mich! Und… ich danke dir.«
»Wofür, Goldmund?«
»Für deine Freundschaft, für deine Geduld, für alles. Auch dafür, dass du mich heute anhörst, wo es doch schwer für dich ist. Auch dafür, dass du nicht versucht hast, mich zurückzuhalten.«
»Wie sollte ich dich zurückhalten wollen? Du weißt, wie ich darüber denke. – Aber wohin wirst du wohl gehen, Goldmund? Hast du denn ein Ziel? Gehst du zu jener Frau?«
»Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht. Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin.«
»Nun ja. Aber sag, mein Lieber, weißt du, dass dein Weg mit ihr vielleicht sehr kurz sein wird? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie verlassen, glaube ich. Sie wird vielleicht Verwandte haben, vielleicht einen Mann; wer weiß, wie man dich dort aufnehmen wird.«
Goldmund lehnte sich an den Freund.
»Ich weiß das«, sagte er, »obwohl ich bisher noch nicht daran gedacht hatte. Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muss, weil es mich ruft.«
Er schwieg und seufzte, und sie saßen, aneinandergelehnt, traurig und doch glücklich im Gefühl ihrer unzerstörbaren Freundschaft. Dann fuhr Goldmund fort: »Du musst nicht glauben, dass ich ganz blind und ahnungslos bin. Nein. Ich gehe gerne, weil ich fühle, dass es sein muss, und weil ich heut etwas so Wunderbares erlebt habe. Aber ich denke mir nicht, dass ich in lauter Glück und Vergnügen hineinlaufe. Ich denke mir, der Weg wird schwer sein. Und doch wird er auch schön sein, hoffe ich. Es ist so sehr schön, einer Frau anzugehören, sich hinzugeben! Lache mich nicht aus, wenn es töricht klingt, was ich sage. Aber sieh: eine Frau zu lieben, ihr sich hinzugeben, sie ganz in sich einzuhüllen und sich von ihr eingehüllt fühlen, das ist nicht dasselbe was du Verliebtsein nennst und ein bisschen bespöttelst. Es ist nicht zu bespötteln. Es ist für mich der Weg zum Leben und der Weg zum Sinn des Lebens. – Ach, Narziss, ich muss dich verlassen! Ich liebe dich, Narziss, und ich danke dir, dass du mir heut ein bisschen Schlaf geopfert hast. Schwer fällt es mir, von dir fortzugehen. Wirst du mich nicht vergessen?«
»Mach dir und mir das Herz nicht schwer! Ich vergesse dich niemals. Du wirst wiederkommen, ich bitte dich darum, ich erwarte es. Wenn es dir einmal schlecht geht, so komm zu mir oder rufe mich. – Leb wohl, Goldmund, Gott sei mit dir!«
Er hatte sich erhoben. Goldmund umarmte ihn. Da er seines Freundes Scheu vor Liebkosungen kannte, küsste er ihn nicht, er streichelte nur seine Hände, Die Nacht brach ein, Narziss schloss die Zelle hinter sich und ging zur Kirche hinüber, seine Sandalen klappten auf den Steinfliesen. Goldmund folgte der hagern Gestalt mit liebenden Augen, bis sie am Ende des Ganges wie ein Schatten verschwand, von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt, angesogen und eingefordert von Übungen, von Pflichten, von Tugenden. O wie wunderlich, wie unendlich seltsam und verwirrt war doch alles! Wie seltsam und erschreckend war auch dies gewesen: mit seinem überströmenden Herzen, mit seiner blühenden Liebesberauschtheit zu seinem Freunde gerade in einer Stunde zu kommen, wo dieser meditierend, von Fasten und Wachen verzehrt, seine Jugend, sein Herz, seine Sinne ans Kreuz schlug und zum Opfer brachte und sich der strengsten Schule des Gehorsams unterzog, um nur dem Geiste zu dienen und ganz zum minister verbi divini zu werden![52]
Примечания
1
Этот монастырь впоследствии будет показан в романе «Нарцисс и Гольдмунд» под именем «Mariabronn».
2
Известно, что роман первоначально был озаглавлен »Demian. Die Geschichte einer Jugend von Emil Sinclair«; и только в 1920 году появилось новое издание – »Demian. Die Geschichte einer Jugend von Emil Sinclair, geschrieben von Hermann Hesse«.
3
Welschland n – Италия
4
Subprior m – зд. предстоятель монастыря
5
Novize m – послушник
6
Kutte f – ряса (монашеская)
7
Geltung haben – зд. пользоваться уважением, иметь авторитет
8
zu Wort kommen – проявляться, играть роль
9
Gesichte haben = Gesichte sehen
10
einen Rosenkranz beten – в католицизме: читать молитвы в определенном порядке по четкам
11
eine Entscheidung treffen – принимать решение
12
es begab sich – случилось, произошло
13
von etwas Gebrauch machen – воспользоваться чем-л.
14
ward – (устар.) wurde
15
die Bedeutung einräumen – придавать значение
16
Euklid – Евклид, древнегреческий математик
17
amice – (лат.) друг
18
beneficia – (лат.) преимущество
19
Stoa f – (философск.) стоицизм, от греч. stoá – портик (галерея с колоннами в Афинах, где учил философ Зенон, основатель стоицизма)
20
Es ist schade, dass du die Weihen noch nicht hast – жаль, что ты еще не рукоположен
21
die Fährte war gefunden – зд. след (путь) был найден; он был на верном пути
22
Aristoteles – Аристотель, древнегреческий философ и ученый, воспитатель Александра Македонского; его сочинения охватывают все отрасли тогдашнего знания
23
ein Schnippchen schlagen – обмануть; сыграть с кем-то шутку
24
die Geschichte von Eva und der Schlange – Ева, в библейской мифологии жена Адама, первая женщина и праматерь. По наущению змия Ева уговорила Адама отведать вместе с ней запретный плод с «древа познания добра и зла» и этим навлекла проклятие на весь род человеческий. Бог изгнал Еву и Адама из рая.
25
Gelübde ablegen – дать обет
26
Weihe erhalten – быть посвященным в сан
27
im Stich lassen – бросить кого-л. на произвол судьбы
28
in Verruf bringen – дискредитировать, (о)порочить кого-л.
29
den Lauf lassen – дать чему-л. идти своим чередом
30
man konnte es darauf ankommen lassen – можно было не вмешиваться
31
entzündbar sein – быть способным, склонным воспламеняться
32
Jakobus – Иаков; в библейской мифологии – младший из двух сыновей-близнецов Исаака и Ревекки. Откупил у брата за чечевичную похлебку право первородства.
33
Kapital n – венчающая часть колонны, столба или пилястры
34
den Nagel auf den Kopf treffen – попасть в самую точку; не в бровь, а в глаз
35
der Lieblingsjünger des Erlösers – любимый ученик Спасителя
36
sich warm geredet haben – разгорячиться
37
wie von einem Pfeil getroffen – как пронзенный стрелой
38
ins Lebendige treffen – задеть за живое
39
mit der Sache zu tun haben – быть причастным (к делу)
40
Intimus m – (лат.) близкий друг
41
war eingekleidet worden – был пострижен в монахи
42
dem Ruf folgen – следовать зову
43
Schonzeit der Unschuld und Ruhe – щадящее время невинности и покоя
44
ein langgezogener Ton im Ave – протяжные звуки в Аве Мария
45
Theta, Omega – буквы греческого алфавита фита и омега
46
Petrus – Петр, один из апостолов в Новом завете, первым провозгласивший Иисуса мессией
47
Refektorium n – трапезная (столовая) в монастыре
48
er hatte es in den Beinen – у него болели ноги, он плохо ходил
49
Vigilie f – ночное богослужение
50
in Betracht kommen – учитываться, иметь значение
51
es geschieht nicht aus Mutwillen – зд. для меня это очень важно; это дело нешуточное
52
um ganz zum minister verbi divini zu werden – чтобы стать исполнителем божественного слова