Gwen erhob sich plötzlich, und eilte zum Ausgang.
„Wo gehst du hin?“ Fragte Illepra, ihre Stimme heiser vom Singen der Gebete.
Gwen wandte sich ihr zu.
„Ich komme bald zurück“, sagte sie. „Es gibt da etwas, da ich versuchen muss.“
Sie öffnete die Tür und eilte hinaus in die flirrende Luft des Sonnenuntergangs. Sie blinzelt beim Anblick dessen, was sie vor sich sah: der Himmel war rot und violett gestreift, und die zweite Sonne saß als grüner Ball auf dem Horizont. Akorth und Fulton standen noch immer Wache und als sie sie sahen richteten sie sich auf. Sie konnte die Sorge in ihren Gesichtern sehen.
„Wird er leben?“, fragte Akorth.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete Gwen. „Bleibt hier und steht Wache.“
„Wohin geht Ihr, Mylady?“ fragte Fulton.
Als sie in den blutroten Himmel blickte und die mystische Stimmung in der Luft spürte kam ihr ein Gedanke. Es gab jemanden, der vielleicht in der Lage war, ihr zu helfen.
Argon.
Wenn es eine Person gab, der Gwen vertrauen konnte, eine Person, die Thor liebte und ihrem Vater immer treu gewesen war, eine Person, die die Macht hatte ihr zu helfen, dann war er das.
„Ich muss jemand ganz Besonderen finden.“, sagte sie.
Sie wandte sich ab, und eilte über die Ebene davon. Sie fiel in einen Trab auf dem Weg zu Argons Hütte.
Sie war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Nicht mehr, seit sie dem Kindesalter entwachsen war. Doch sie erinnerte sich, dass er hoch auf der öden felsigen Ebene lebte. Sie lief und lief, war außer Atem, und das Gelände wurde immer öder, windiger, Grass wich Kiess, dann Felsen. Der Wind heulte und während sie weiterlief, wurde die Landschaft geradezu unheimlich. Sie fühlte sich, als würde sie auf der Oberfläche eines fremden Planeten wandeln.
Endlich erreichte sie Argons Hütte. Außer Atem hämmerte sie an die Tür. Er gab keinen Knauf, mit dem sie sie hätte öffnen können, doch sie wusste, sie war am Ziel.
„Argon!“, rief sie. „Ich bin es! MacGils Tochter! Lass mich ein! Ich befehle es dir!”
Sie hämmerte und hämmerte, aber die einzige Antwort war das Heulen des Windes.
Sie brach in Tränen aus. Sie war erschöpft, und fühlte sich hilfloser denn je. Hohl, und es gab niemand sonst, an den sie sich hätte wenden können.
Als die Sonne tiefer am Himmel sank, wich ihr blutrotes Licht der Dämmerung. Gwen wandte sich um und begann, den Hügel wieder hinunterzulaufen. Sie wischte ihre Tränen vom Gesicht, und überlegte verzweifelt, wohin sie jetzt gehen konnte.
„Bitte Vater“, sagte sie laut und schloss die Augen. „Gib mir ein Zeichen. Zeig mir, wohin ich gehen soll. Sag mir, was ich tun soll. Bitte lass deinen Sohn heute nicht sterben. Und bitte lass Thor nicht sterben. Bitte. Wenn du mich liebst, antworte mir.”
Gwen lief still und lauschte dem Wind, als sie plötzlich eine Eingebung hatte.
Der See. Der See der Sorgen.
Natürlich. Jeder, der für einen totkranken beten wollte, tat dies am See. Er war ein unberührter, kleiner See inmitten des roten Waldes, umgeben von Bäumen, die in den Himmel zu wachsen schienen. Es war ein heiliger Ort.
Danke Vater, für deine Antwort, dachte Gwen. Sie konnte jetzt seine Nähe mehr denn je spüren, und fiel in einen Trab in Richtung des roten Waldes, in Richtung des Sees, der ihre Sorgen Gehöre schenken würde.
*
Gwen kniete am Ufer des Sees der Sorgen, die Knie auf weichen roten Kiefernnadeln, die das Wasser wie ein Ring umranden und sah auf das stille Wasser hinaus. Es war das stillste Wasser, das sie je gesehen hatte, und der Mond spiegelte sich darin. Ein glitzernder Vollmond. Voller, als sie ihn je zuvor gesehen hatte. Und während sich die zweite Sonne noch immer senkte, ging der Mond auf, und das letzte Sonnenlicht und das erste Mondlicht ergossen sich über den Ring. Die Sonne und der Mond spiegelten sich gemeinsam im Wasser des Sees, einander gegenüber, und Gwen konnte ahnen, wie heilig diese Zeit des Tages war. Es war das Fenster zwischen dem Ende des einen Tages und dem Beginn des nächsten, und zu dieser heiligen Zeit, an diesem heiligen Ort, war alles möglich.
Gwen kniete weinend da, betete für alles, was Ihr etwas bedeutete. Die Ereignisse der letzten Tage waren zu viel für sie gewesen, und alles strömte aus ihr heraus. Sie betete für Ihren Bruder und vielmehr noch für Thor. Sie konnte den Gedanken beide zu verlieren nicht ertragen. Den Gedanken, niemanden mehr um sich zu haben außer Gareth. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sie verschiffen wollte, um irgendeinen Barbaren zu heiraten.
Sie fühlte, wie die Welt um sie herum zusammenbrach. Sie brauchte Antworten. Und mehr noch. Sie brauchte Hoffnung.
Es gab viele Menschen in ihrem Reich, die zum Gott der Seen oder zum Gott der Wälder oder dem Gott der Berge oder des Windes beteten – doch Gwen hatte nie an auch nur einen von ihnen geglaubt. Sie, genauso wie Thor, hatte sich gegen den allgemeingültigen Glauben zum radikalen Glauben an nur einen einzigen Gott bekannt, ein einzelnes Wesen, das das gesamte Universum kontrollierte. Und zu diesem Gott betete sie nun.
Bitte Gott, betete sie. Bring Thor zurück zu mir. Beschütze ihn im Kampf. Lass ihn dem Hinterhalt entkommen. Bitte lass Godfrey leben. Und bitte beschütze auch mich. Lass nicht zu, dass man mich von hier wegschickt, um einen Wilden zu heiraten. Ich würde alles dafür geben. Bitte gib mir ein Zeichen. Sag mir was du von mir willst.
Gwen kniete für eine lange Zeit da, und hörte nichts außer dem endlosen Heulen des Windes durch die Kiefern des roten Waldes. Sie lauschte dem sanften rauschen der Zweige, wie sie sich hoch über ihrem Kopf im Wind wiegten, und ihre Nadeln ins Wasser fielen.
“Sei vorsichtig wofür du betest.”, hörte sie eine Stimme sagen.
Sie erschrak und fuhr herum. Sie sah jemanden nicht weit von ihr entfernt im Schatten der Bäume stehen. Sie hätte sich gefürchtet, doch sie erkannte die Stimme sofort. Eine uralte Stimme. Älter als die Bäume, älter als die Erde selbst. Und ihr Herz schwoll vor Freude als sie erkannte wer es war.
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn vor sich stehen: In einen weißen Mantel mit Kapuze gehüllt, mit seinen hellen Augen, die durch sie hindurch direkt in ihre Seele zu blicken schienen. Er hielt seinen Stab und schien im Licht der letzten Sonne und des aufgehenden Mondes zu leuchten.
Argon.
Sie stand auf und ging auf ihn zu.
„Ich habe dich gesucht.“, sagte sie. „Ich war bei deiner Hütte. Hast du mich nicht anklopfen gehört?“
„Ich höre alles.“, antwortete er kryptisch.
Sie hielt inne und wunderte sich. Er blieb ausdruckslos.
„Sag mit, was ich tun muss“, sagte sie. “Ich bin bereit alles zu tun. Vollkommen egal was. Bitte lass Thor nicht sterben. Du kannst ihn nicht sterben lassen!”
Gwen tat einen Schritt auf ihn zu und griff flehend nach seiner Hand. Aber als sie ihn berührte, durchfuhr sie eine brennende Hitze, die von seiner Hand ausging und in ihre strömte und zuckte zurück, überwältigt von seiner Kraft.
Argon seufzte, wandte sich von ihr ab, und ging einige Schritte in Richtung des Sees. Er stand da und schaute aufs Wasser. Seine Augen reflektierten das Licht.
Sie stellte sich neben ihn und wusste nicht wie lange sie stumm dastanden, bis er bereit war, zu sprechen.
„Es ist nicht unmöglich das Schicksal zu ändern“, sagte er. „Doch es fordert einen hohen Preis von dem, der es zu ändern wünscht. Du möchtest ein Leben retten. Das ist ein nobles Bestreben. Doch du kannst nicht zwei Leben retten. Du wirst eine Wahl treffen müssen.”
Er sah sie an.
“Wünschst du, dass Thor diese Nacht überlebt oder dein Bruder? Einer von ihnen muss sterben. So steht es geschrieben.”
Gwen war entsetzt.
“Was für eine Wahl ist das?“, fragte sie. „Indem ich den Einen rette, verurteile ich den Anderen zum Tod.“
„Das tust du nicht.“, antwortete er. „Es ist beiden bestimmt zu sterben. Es tut mir leid. Doch das ist ihr Schicksal.”
Gwen fühlte sich, als hätte jemand ihr einen Dolch in die Eingeweide gerammt. Beide sollten sterben? Es war zu schrecklich, um es sich vorstellen zu können. Konnte das Schicksal wirklich so grausam sein?
“Ich kann nicht den Einen über den Anderen wählen.“, sagte sie schließlich mit schwacher Stimme. „Meine Liebe für Thor ist natürlich stärker. Aber Godfrey ist mein eigen Fleisch und Blut. Ich kann nicht ertragen, dass einer auf Kosten des Anderen leben soll. Und ich glaube nicht dass einer von ihnen das will.“
„Dann werden beide sterben.“, entgegnete Agron.
Gwen fühlte sich von Panik überwältigt.
„Warte!“, rief sie, als er sich von ihr abwenden wollte.
Er drehte sich wieder zu ihr um und sah sie fragend an.
„Was ist mit mir?“, fragte sie. „Was, wenn ich an ihrer Stelle sterbe? Ist das möglich? Könnten dann beide leben?“
Argon blickte sie eine Weile lang an, als ob er ihr tief ins Herz schauen wollte.
„Dein Herz ist rein.“ Sagte er. “Du hast von allen MacGils das reinste Herz. Dein Vater hat eine weise Wahl getroffen. Ja das hat er...“
Argon verstummte und er schaute ihr weiter tief in die Augen. Gwen fühlte sich unwohl, wagte aber nicht, den Blick abzuwenden.
„Aufgrund deiner Wahl, deiner Opferbereitschaft in dieser Nacht“, sagte Argon „hat das Schicksal dich erhört. Thor wird Leben. Und auch dein Bruder. Und auch du sollst leben. Doch einen kleinen Teil deines Lebens musst du geben. Denke daran, es gibt immer einen Preis. Ein Teil von dir wird sterben, damit beide leben können.“
“Was soll das heißen?”, fragte sie, starr vor Angst.
„Alles hat seinen Preis.“, antwortete er. „Du hast die Wahl. Willst du ihn lieber nicht bezahlen?“
Gwen wappnete sich für das, was nun kommen sollte.
“Ich würde alles für Thor tun.”, sagte sie. „Und für meine Familie.“
Argon sah durch sie hindurch.
„Thor erwartet ein großes Schicksal.“, sagte Argon. „Aber das Schicksal kann sich ändern. Unser Schicksal liegt in unseren Sternen. Aber es wird auch von Gott gelenkt. Gott kann das Schicksal ändern. Thor sollte heute Nacht sterben. Dank dir wird er leben. Doch du musst den Preis dafür zahlen. Und der ist hoch.”
Gwen wollte mehr wissen und streckte ihre Hand nach Argon aus. Doch noch bevor sie seine Hand berühren konnte, blitzte ein grelles Licht auf und Argon war verschwunden.
Gwen fuhr herum und blickte in alle Richtungen, doch er war verschwunden.
Sie wandte sich schließlich wieder dem See zu, der immer noch so ruhig dalag, als wäre dies eine Nacht wie jede andere. Sie sah ihr Spiegelbild und es erschien ihr unendlich weit entfernt. Sie war erfüllt mit Dankbarkeit, und endlich auch einem Gefühl des Friedens. Doch sie hatte auch Angst um ihre eigene Zukunft. So sehr sie auch versuchte, den Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben, so brennend wollte sie es wissen: Welchen Preis würde sie für Thors Leben bezahlen müssen?
KAPITEL ACHT
Thor lag inmitten des Schlachtfeldes und wurde von McCloud’s Kriegern zu Boden gedrückt, hilflos. Er konnte das Klirren der Schwerter hören, das Wiehern der Pferde, die Schreie sterbender Männer um ihn herum. Die untergehende Sonne und der aufgehende Mond – ein Vollmond, voller als jeder Vollmond, den er in seinem Leben jemals gesehen hatte – wurden plötzlich von einem riesigen Soldaten verdeckt, der mit erhobenem Dreizack auf ihn zutrat. Thor wusste, dass seine Zeit gekommen war.
Er schloss die Augen, um sich auf den Tod vorzubereiten. Er fühlte keine Angst. Nur Reue. Er wollte mehr Zeit zu leben; er wollte herausfinden, wer er war, welches Schicksal ihm bestimmt war, und vor allem wollte er mehr Zeit mit Gwen.
Thor hatte das Gefühl, dass es einfach nicht fair war, auf diese Weise zu sterben. Nicht auf diese Weise. Nicht an diesem Tag. Es war noch nicht seine Zeit, und er konnte es fühlen. Er war noch nicht bereit zu gehen.
Auf einmal spürte Thor etwas in sich aufsteigen: eine Wildheit, eine Stärke, anders als alles, was er bisher gekannt hatte. Sein ganzer Körper prickelte und wurde heiß, als ihn ein neues Gefühl durchströmte. Von den Sohlen seiner Füße hinauf durch seine Beine, seinen Rumpf und seine Arme hindurch bis in die Fingerspitzen. Er brannte von einer Energie, die er sich nicht erklären konnte. Thor erschrak vor seinem eigen wilden Gebrüll, das klang, als wollte ein Drache aus den Tiefen der Erde emporsteigen.
Er spürte die Kraft von zehn Männern durch seinen Körper pulsieren, als er sich aus dem Griff der feindlichen Krieger befreite und auf die Füße sprang.
Noch bevor der Krieger mit dem Dreizack seine Waffe auf ihn herabsausen lassen konnte sprang Thor nach vorn, griff ihn beim Helm, und versetzte ihm einen Stoß, der ihm die Nase brach. Dann trat er ihn so hart, dass er wie von einer Kanonenkugel getroffen nach hinten umfiel und dabei zehn andere Männer mit umriss.
Thor schrie mit einer neu entdeckten Wut, als er einen anderen Krieger packte. Er hob ihn hoch und warf ihn in die Menge, wobei ein weiteres Dutzend Krieger zu Boden ging. Thor riss dann einem anderen Krieger einen Morgenstern mit einer drei Meter langen Kette aus den Händen schwang ihn über seinem Kopf, wieder und wieder, bis sich Schreie um ihn herum erhoben, und mähte alle Krieger in Reichweite der Kette um. Dutzende von ihnen.
Thor spürte, wie seine Kraft weiter anwuchs und ließ sich von ihr leiten. Während einige Männer auf ihn zustürmten, streckte er seinen Arm nach hoch über seinen Kopf, und fühlte wie seine Handfläche anfing zu prickeln und ein kühler Nebel aus ihr hervortrat. Seine Angreifer blieben plötzlich stehen, bedeckt von einer dicken Eisschicht. Sie standen erstarrt, zu Eis gefroren.
Thor streckte seine Hände in jede Richtung, und rings um ihn herum gefroren die Krieger zu Eis. Es sah aus als hätte es riesige Eisblöcke geregnet.
Thor wandte sich seinen Waffenbrüdern zu und sah, wie mehrere Krieger zu tödlichen Schlägen auf Reece, O’Connor, Elden und die Zwillinge ausholten. Er hob seine Hand und deutete auf die Angreifer. Auch sie froren sofort zu Eis. Seine Freunde drehten sich zu ihm um und sahen ihn an. Erleichterung und Dankbarkeit in ihren Blicken.
Die Krieger in McClouds Armee bemerkten, was vor sich ging, und versuchten nicht weiter, Thor Nahe zu kommen. Sie begannen, einen sicheren Abstand zwischen Thor und sich zu bringen. Zu verängstigt, sich auch nur zu nähern, nachdem sie gesehen hatten, wie dutzende ihrer Kameraden auf dem Schlachtfeld zu Eis gefroren waren.
Doch dann erhob sich ein wildes Getöse und ein Riese trat vor, fünfmal so groß wie alle anderen. Er musste vier Meter groß gewesen sein, und trug ein Schwert, das grösser war als jedes das Thor bisher gesehen hatte. Thor erhob seine Hand um auch ihn einzufrieren – doch es schien bei ihm nicht zu wirken. Er schien dem Strom, der von Thors Hand ausging wie lästige Insekten wegzuschlagen, und stürmte weiter auf ihn zu. Thor begann zu erkennen, dass seine neue Kraft unvollkommen war. Er war überrascht und konnte nicht verstehen, warum er diesen Mann nicht aufhalten konnte.
Der Riese erreichte Thor in drei langen Schritten und schlug ihn mit seinem Handrücken nieder. Thor war überrascht von seiner Geschwindigkeit. Thor schlug hart auf dem Boden auf, und bevor er sich aufrappeln konnte war der Riese schon wieder über ihm und hob ihn hoch über seinen Kopf. Er warf ihn weit von sich und die Krieger um ihn herum schrien triumphierend als Thor durch die Luft flog. Er flog fast zehn Meter, schlug hart auf und rollte noch ein Stück weiter, bis er endlich liegen blieb. Thor fühlte sich, als ob alle seine Rippen gebrochen waren. Er blickte auf und sah wie sich der Riese auf ihn stürzte. Dieses Mal gab es nichts mehr, was er tun konnte. Was auch immer diese Kraft war, die in ihm aufgestiegen war, war erschöpft.