Danach machte sie sich an die enorme Umfassung des Marmorkamins und wusch den Staub der Jahre herunter. Dann kam der riesige, reich verzierte Spiegel darüber an die Reihe, den sie abwischte, bis er strahlte. Sie fand es schade, dass sie ihr Spiegelbild immer noch nicht sehen konnte—aber sie wusste, dass es nicht viel gab, was sie dagegen tun konnte.
Sie machte sich als Nächstes an den Kronleuchter, jeden seiner kristallbesetzten Kerzenhalter einzeln abwischend. Danach fasste sie das Himmelbett ins Auge. Sie wischte jeden Bettpfosten ab, dann den Rahmen, und brachte das uralte Holz langsam wieder zum Leben. Sie packte die alternden Decken und brachte sie zur Terrasse, um sie kräftig auszuschütteln. Der Staub flog in Wolken in alle Richtungen.
Caitlin kam zurück ins Zimmer, ihr künftiges Schlafzimmer, und begutachtete es: es war nun prachtvoll. Es strahlte so hell wie andere Zimmer in anderen Burgen. Es war immer noch mittelalterlich, doch zumindest war es nun frisch und einladend. Ihr Herz stieg höher bei dem Gedanken, hier zu leben.
Sie blickte hinunter und sah, dass das Wasser im Eimer komplett schwarz geworden war, und sprang die Treppen hinunter und zur Tür hinaus, um ihn im Fluss neu anzufüllen.
Caitlin lächelte beim Gedanken an Calebs Reaktion, wenn er zurückkommen würde. Er würde so überrascht sein, dachte sie. Sie würde das Speisezimmer als Nächstes putzen. Sie würde versuchen, einen vertraulichen Rahmen für ihre erste Mahlzeit zusammen in ihrem neuen Zuhause zu schaffen—die erste, hoffte sie, von vielen.
Als Caitlin am Flussufer ankam, im weichen Gras auf die Knie sank, den Eimer leerte und wieder auffüllte, spürte sie, wie ihre Sinne plötzlich in höchster Alarmbereitschaft waren. Sie hörte ein Rascheln in der Nähe und spürte ein Tier, das auf sie zukam.
Sie wirbelte herum und war davon überrascht, was sie vor sich sah.
Langsam auf sie zukommend, nur wenige Schritte entfernt, war ein Wolfsjunges. Sein Fell war weiß, bis auf einen einzelnen grauen Streifen, der ihm über Stirn und Rücken lief. Was Caitlin am meisten traf, waren die Augen: sie starrten Caitlin an, als würden sie sie kennen. Mehr noch: es waren dieselben Augen wie Rose.
Caitlin spürte ihr Herz pochen. Sie fühlte sich, als wäre Rose von den Toten zurückgekehrt, wäre in einem anderen Tier wiedergeboren worden. Dieser Ausdruck, dieses Gesicht. Die Farbe des Fells war anders, aber ansonsten hätte dies genauso gut eine wiedergeborene Rose sein können.
Das Wolfsjunge schien ebenso erschrocken darüber, Caitlin zu sehen. Es blieb stehen, starrte sie an und machte dann langsam, vorsichtig ein paar zögerliche Schritte auf sie zu. Caitlin durchsuchte den Wald, um festzustellen, ob noch andere Welpen in der Nähe waren, oder seine Mutter. Sie wollte nicht in einen Kampf verwickelt werden.
Doch es war kein anderes Tier weit und breit zu sehen.
Als Caitlin das Junge näher untersuchte, konnte sie sehen, warum. Es hinkte stark, und seine Pfote blutete. Es sah verwundet aus. Es war wohl von seiner Mutter verlassen worden, erkannte Caitlin, um zu sterben.
Das Wolfsjunge senkte den Kopf und ging langsam direkt auf Caitlin zu. Dann, zu Caitlins Überraschung, legte es ihr den Kopf in den Schoß und winselte leise, während es die Augen schloss.
Caitlins Herz machte einen Sprung. Sie hatte Rose so sehr vermisst, und nun fühlte es sich an, als wäre sie zu ihr zurückgekehrt.
Caitlin setzte den Eimer ab und nahm das Junge in die Arme. Sie drückte es sich fest an die Brust, weinend, und erinnerte sich an all die Zeit, die sie mit Rose verbracht hatte. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, die ihr über die Wangen liefen. Als könnte es das spüren, blickte das Junge plötzlich hoch und leckte ihr die Tränen vom Gesicht.
Caitlin beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie hielt es fest und kuschelte es an ihre Brust. Es war ihr unmöglich, es loszulassen. Sie würde alles tun, was nötig war, um ihm zu helfen, zu heilen und zum Leben zurückzukehren. Und, wenn der Wolf das wollte, würde sie ihn als Haustier behalten.
„Wie soll ich dich nennen?“, fragte Caitlin. „Wir können nicht wieder Rose nehmen…wie wär‘s mit…Ruth?“
Das Junge leckte Caitlin plötzlich über die Wange, als würde es auf den Namen hören. Die Antwort war so deutlich, wie Caitlin es nur erwarten konnte.
Und so blieb es bei Ruth.
*
Caitlin, Ruth neben ihr, war gerade damit fertig geworden, das Speisezimmer zu putzen, als sie etwas Interessantes an der Wand entdeckte. Neben dem Kamin standen zwei lange silberne Schwerter. Sie nahm eines davon hoch, staubte es ab und bewunderte den Griff, der mit Juwelen besetzt war. Es war eine wunderschöne Waffe. Sie setzte den Eimer und Putzlappen ab und konnte nicht widerstehen, es auszuprobieren. Sie schwang das Schwert wild hin und her, ließ es links und rechts kreisen, wechselte die Hände, quer durch das große Zimmer. Es fühlte sich großartig an.
Sie fragte sich, wie viele Waffen Caleb hier hatte. Sie würde viel Spaß daran haben, mit ihnen zu trainieren.
„Ich sehe, du hast die Waffen gefunden“, sagte Caleb, der plötzlich zur Tür hereinkam. Caitlin setzte sofort das Schwert ab, verlegen.
„Tut mir leid, ich wollte nicht in deinen Sachen stöbern.“
Caleb lachte. „Mein Haus gehört dir?“, sagte er, während er mit zwei riesigen Rehen über seiner Schulter ins Zimmer kam. „Was immer ich besitze, kannst du gerne verwenden. Außerdem mag ich genau das an dir. Ich hätte mich auch direkt auf die Schwerter gestürzt“, sagte er mit einem Zwinkern.
Er trug die Rehe weiter durch den Raum, dann hielt er plötzlich an und drehte sich um, und schaute zweimal.
„Wow“, sagte er geschockt. „Sieht ja aus wie neu hier!“
Er stand da und starrte mit weiten Augen. Caitlin konnte sehen, wie beeindruckt er war, und sie fühlte sich glücklich. Sie blickte sich selbst im Zimmer um und stellte fest, dass es wirklich wie verwandelt war. Sie hatten nun ein prächtiges Speisezimmer, komplett mit Tafel und Stühlen, für ihr erstes Mahl.
Plötzlich winselte Ruth, und Caleb blickte hinunter und sah sie zum ersten Mal. Er schaute sogar noch überraschter drein.
Caitlin hatte plötzlich Sorge, dass es ihm etwas ausmachen würde, sie hier zu haben.
Doch sie stellte erleichtert fest, dass seine Augen sich vor Entzücken weiteten.
„Ich kann’s nicht glauben“, sagte Caleb und starrte, „diese Augen…sie sieht genau wie Rose aus.“
„Können wir sie behalten?“, fragte Caitlin zögerlich.
„Sehr gerne sogar“, antwortete er. „Ich würde dich ja umarmen, aber meine Hände sind voll.“
Caleb ging mit den Rehen weiter, durch das Zimmer und auf den Korridor hinaus. Caitlin und Ruth folgten ihm und sahen ihm zu, wie er das Wild in einem kleinen Nebenraum auf eine riesige Steinplatte legte.
„Da wir nicht wirklich kochen“, sagte er, „dachte ich, ich würde das Blut für uns ablassen. Dann können wir zum Abendessen gemeinsam trinken. Ich dachte mir, ich sollte die Sauerei hier drin anrichten, damit wir einfach vor dem Kamin sitzen und stilvoll trinken können.“
„Das hört sich gut an“, sagte Caitlin.
Ruth saß zu Calebs Fersen und blickte hoch und winselte, als er aufschnitt. Er lachte, schnitt ein kleines Stück für sie ab und streckte es ihr nach unten, um es ihr zu füttern. Sie schnappte es auf und winselte nach mehr.
Caitlin machte sich zurück in den Essbereich und begann, die Kelche sauberzuwischen, die sie dort gesehen hatte. Vor dem Kamin lag ein Haufen Felle, und sie sammelte sie zusammen und brachte sie auf die Terrasse hinaus, um sie für später auszuschütteln.
Während Caitlin darauf wartete, dass Caleb fertig wurde, blickte sie auf den Sonnenuntergang hinaus, der sich über den Horizont breitete. Sie konnte die Wellen hören, atmete die salzige Luft und hatte sich noch nie so entspannt gefühlt. Sie stand da und schloss die Augen, und sie wusste nicht einmal, wie viel Zeit vergangen war.
Als Caitlin die Augen wieder öffnete, war es fast dunkel.
„Caitlin?“, ertönte die Stimme, die nach ihr rief.
Sie beeilte sich wieder nach drinnen. Caleb war bereits im Zimmer, zwei riesige Silberkelche mit dem Wildblut in den Händen. Er war gerade dabei, Kerzen anzuzünden, überall im düsteren Zimmer verteilt. Sie gesellte sich zu ihm, die Felle wieder ablegend.
In wenigen Momenten war das Zimmer komplett erleuchtet, in allen Richtungen mit Kerzenlicht erfüllt. Die beiden setzten sich zusammen auf die Felle vor dem Kamin, und Ruth kam gelaufen und setzte sich neben sie. Die Fenster standen offen und eine Brise wehte herein, und langsam wurde es recht kühl hier drin.
Die beiden saßen nebeneinander und blickten einander in die Augen, als sie anstießen.
Der Trunk fühlte sich so gut an. Sie trank und trank, wie er, und hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Es war ein unglaublicher Rausch.
Auch Caleb wirkte verjüngt, seine Augen und seine Haut strahlten. Sie blickten einander an.
Er streckte die Hand aus und berührte langsam ihre Wange mit seinem Handrücken.
Caitlins Herz fing zu pochen an, und sie erkannte, dass sie nervös war. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit sie zuletzt mit ihm zusammen gewesen war. Sie hatte sich einen Moment wie diesen so lange ausgemalt, doch nun, da er gekommen war, fühlte es sich an, als wäre es wieder das erste Mal mit ihm. Sie konnte sehen, dass seine Hand zitterte, und erkannte, dass auch er nervös war.
Es gab noch so viele Dinge, die sie sagen wollte, so viele Fragen, die sie an ihn hatte, und sie konnte sehen, dass auch er vor Fragen fast überlief. Doch in diesem Moment traute sie sich nicht zu, zu sprechen. Und er anscheinend auch nicht.
Die beiden küssten sich leidenschaftlich. Als seine Lippen auf ihre trafen, fühlte sie sich von Gefühlen für ihn übermannt.
Sie schloss die Augen, als er näherkam und sie einander leidenschaftlich in die Arme fielen. Sie rollten sich auf die Felle, und sie spürte ihr Herz vor Emotionen wogen.
Endlich gehörte er ihr.
KAPITEL ACHT
Polly schritt rasch durch die Korridore von Versailles, mit auf dem Marmorboden hallenden Absätzen, einen endlosen Korridor mit hohen Decken, Stuckverzierungen, Marmorkaminen, gewaltigen Spiegeln und tief hängenden Kerzenleuchtern entlang. Alles glänzte.
Doch sie nahm es kaum wahr; für sie war es völlig natürlich. Nach Jahren, die sie hier gewohnt hatte, konnte sie sich kaum eine andere Form der Existenz vorstellen.
Was sie jedoch sehr wohl wahrnahm—und zwar sehr deutlich—war Sam. Ein Besucher wie er war überhaupt nicht Teil des Alltags—und war in Wahrheit äußerst ungewöhnlich. Sie hatten kaum jemals Vampire zu Besuch, besonders nicht aus einer anderen Zeit, und wenn sie welche hatten, war es Aiden üblicherweise egal. Sam musste sehr wichtig sein, erkannte sie. Er faszinierte sie. Er schien etwas jung, und er schien etwas unbeholfen zu sein.
Doch da war etwas an ihm, das sie nicht so richtig einordnen konnte. Sie fühlte sich, als hätte sie irgendwie eine besondere Verbindung zu ihm, dass sie einander schon einmal begegnet waren, oder dass er mit jemandem in Verbindung stand, der ihr wichtig war.
Was so seltsam war, denn gerade in der Nacht zuvor hatte sie einen äußerst lebhaften Traum gehabt. Über ein Vampirmädchen namens Caitlin. Sie konnte ihr Gesicht sehen, ihre Augen, ihr Haar, sogar jetzt noch. In ihrem Traum wurde ihr gesagt, dass dieses Mädchen ihre beste Freundin fürs Leben gewesen war, und über den ganzen Traum hinweg schien es, als wären sie Freunde für immer. Sie wachte mit dem Gefühl auf, dass es so echt gewesen war, dass es mehr ein Treffen war als ein Traum. Sie konnte es nicht verstehen, doch als sie aufwachte, konnte sie sich an alles über dieses Mädchen erinnern, all die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten.
Es schien keinen Sinn zu ergeben, da Polly wusste, dass sie noch nie an einem dieser Orte gewesen war. Sie fragte sich, ob sie vielleicht irgendwie die Zukunft gesehen hatte? Sie wusste, dass Vampire einander in Träumen besuchten, und dass sie gelegentlich die Kraft hatten, in die Zukunft und in die Vergangenheit zu blicken. Doch diese Kräfte waren auch unberechenbar. Es konnte gut eine Welt der Illusionen sein. Man wusste nie: sah man die Zukunft, die Vergangenheit, oder träumte einfach nur?
Nach dem Traum war Polly aufgewacht und hatte nach Caitlin gesucht, als kannte sie sie wirklich. Sie ertappte sich dabei, dass sie sie vermisste, während sie den Flur hinunterlief. Es war verrückt. Ein Mädchen vermissen, dem sie noch nicht einmal begegnet war.
Und dann tauchte dieser Junge auf, Sam. Und aus irgendeinem verrückten Grund hatte Polly das Gefühl, dass seine Energie mit ihrer verbunden war. Wie, das konnte sie beim besten Willen nicht wissen. Bildete sie sich das auch nur ein?
Abgesehen von all dem fühlte sie, dass sie Gefühle für Sam entwickelt hatte. Sie würde nicht sagen, dass sie Hals über Kopf in ihn verliebt war. Doch sie fühlte sich schon zu ihm hingezogen. Er hatte etwas an sich. Es war nicht das Gefühl, verliebt zu sein. Eher das Gefühl…fasziniert zu sein. Mehr wissen zu wollen.
Und deswegen regte es sie nur umso mehr auf, dass Kendra jetzt schon ihr Auge auf ihn geworfen hatte. Nicht unbedingt, dass sie ihn für sich haben wollte. Es war noch viel zu früh, als dass sie das wissen konnte. Sondern vielmehr deshalb, weil er so unschuldig, naiv, beeinflussbar wirkte. Und Kendra war ein Aasgeier. Sie war ein Mitglied der königlichen Familie, jemand, der noch nie in seinem Leben ein Nein zu hören bekommen hatte, und sie hatte eine magische Art, zu bekommen, was sie wollte, von wem auch immer sie es wollte.
Polly hatte immer schon das Gefühl gehabt, dass Kendra irgendwelche finsteren Absichten hatte. Seit Jahren versuchte sie schon, jeden Vampir in ihrem Clan zu überreden, sie zu verwandeln. Natürlich war das verboten, und niemand war noch ihrer Bitte nachgekommen. Doch nun, das konnte sie sehen, hatte sie Sam ins Visier genommen. Frischblut war eingetroffen, und sie war fest entschlossen, es erneut zu versuchen. Polly schauderte; ihr gefiel der Gedanke daran gar nicht, was Sam passieren könnte, wenn Kendra es sich in den Sinn gesetzt hatte.