Plötzlich hörten sie ein tiefes Knurren. Conval sprang zurück und griff sein Schwert und sie sahen sich nervös an.
„Was war das?“, fragte Conval.
„Es kam von da drüben.“, sagte Reece und deutete in die andere Richtung.
Sie wandten sich um schauten. Doch Thor konnte nichts außer Blättern erkennen. Krohn fauchte zurück. Das Knurren wurde lauter, anhaltender, und schließlich hörten sie Blätter rascheln.
Thor und die anderen traten zurück und zogen in Erwartung des Schlimmsten ihre Schwerter.
Was ihnen da aus dem Urwald entgegenkam übertraf selbst Thors schlimmste Erwartungen. Vor ihnen stand ein Insekt, das einer Gottesanbeterin oder Heuschrecke ähnelt, jedoch fünfmal so groß war wie er. Es hatte zwei muskulöse Hinterbeine, und zwei kürzere Vorderbeine mit langen Zangen an den Enden, die in der Luft baumelten und den Scheren eines Hummers ähnelten. Es war leuchtend grün und mit schillernden Schuppen bedeckt und hatte kleine Flügel, die surrten und vibrierten. Es hatte zwei Augen dort, wo man sie erwartet hätte und ein weiteres, drittes Auge an der Nasenspitze. Es bewegte sich und enthüllte noch mehr Zangen unter seinem Hals, die vibrierten und schnappten.
Es stand vor ihnen und überragte sie und eine weitere Zange kam aus seinem Bauch hervor, an einer Art langen, dünnen hervorstehenden Arm; plötzlich und schneller als auch nur einer von ihnen reagieren konnte, schossen drei seiner zangenbewehrten Arme vor und griffen O’Connor um die Hüfte, um ihn hoch in die Luft zu heben, als wäre er leicht wie ein Blatt.
O’Connor schwang sein Schwert aber er war nicht einmal annähernd schnell genug. Das Tier schüttelte ihn ein paarmal, dann öffnete es das Maul und entblößte Reihen von scharfen Zähnen und wollte O’Connor seitwärts hineinstecken.
Angesichts eines wahrscheinlich schmerzvollen Todes schrie O’Connor. Thor erwachte aus seiner Schreckensstarre. Ohne viel zu denken platzierte er einen Stein in seiner Schleuder, zielte auf das dritte Auge des Biests und holte aus.
Er landete einen direkten Treffer. Das Tier kreischte, ein furchtbares Geräusch, das laut genug schien, einen Baum spalten zu können, und ließ O’Connor fallen, der mit einem dumpfen Plumps auf den Boden fiel. Aufgebracht wandte das Biest seine Aufmerksamkeit Thor zu.
Thor wusste, dass der Versuch, die Kreatur zu bekämpfen nutzlos sein würde. Wahrscheinlich würde es zumindest einen von ihnen töten und womöglich auch Krohn, und es würde ihre ohnehin schon geschwächten Energiereserven weiter aufzehren.
Er hatte das Gefühl, dass sie vielleicht in sein Revier eingedrungen waren und dass er sie vielleicht in Ruhe lassen würde, wenn sie sich nur schnell daraus zurückziehen würden.
„LAUFT!“, schrie Thor.
Sie drehten sich um und rannten – und das Biest folgte ihnen.
Thor konnte die Geräusche von den Klauen des Tiers hören, mit denen es sich durch das dichte Blattwerk hinter ihm Schnitt. Eine der Zangen zischte durch die Luft und verfehlte seinen Kopf um weniger als einen Meter. Zerhackte Blätter flogen durch die Luft und regneten auf ihn herab. Sie rannten so schnell sie konnten, und Thor war sicher, dass sie, wenn sie nur genügend Abstand zwischen sich und das Tier bringen, irgendwo Unterschlupf finden konnten.
Doch plötzlich rutschte Reece neben ihm aus und fiel über einen Ast und mit den Gesicht voraus auf den matschigen Boden. Thor wusste, dass er nicht rechtzeitig würde aufstehen können. Er blieb neben ihm stehen, zog sein Schwert und stellte sich zwischen ihn und das Biest.
„LAUFT WEITER!“, schrie Thor den anderen über die Schulter zu, bereits Reece zu verteidigen. Das Biest stürzte sich kreischend auf ihn und schwang eine seiner Zangen nach Thors Gesicht. Thor duckte sich und riss gleichzeitig sein Schwert hoch und hackte mit der gleichen Bewegung dem Biest eine seiner Zangen ab. Es ließ einen furchterregenden Schrei los.
Eine grüne Flüssigkeit spritze über Thor und er sah schockiert, wie in nur wenigen Sekunden die Zange nachwuchs, als hätte er es nie verletzt.
Thor schluckte. Wie sollte er ein solches Wesen töten? Und jetzt hatte er es auch noch verärgert. Das Biest schlug mit einem anderen Arm, der aus einem anderen Körperteil zu kommen schien und traf Thor hart gegen die Rippen und schleuderte ihn durch die Luft in eine Baumgruppe. Das Biest sprang hinterher und senkte eine andere seiner Zangen auf Thor herab und er wusste, dass er ein Problem hatte.
Elden, O’Connor und die Zwillinge stürzten vor und als das Biest seine Zangen auf Thor senkte, schoss O’Connor einen Pfeil genau in sein Maul der in der Rückseite seines Halses stecken blieb. Es kreischte fürchterlich. Elden ließ seine zweihändige Axt auf den Rücken des Biests hinuntersausen während Conven und Conval es mir ihren Speeren attackierten und es in den Hals trafen. Reece hatte es endlich geschafft sich aufzurappeln und stieß ihm mit aller Kraft sein Schwert in den Bauch. Zur gleichen Zeit sprang Thor hoch und schwang sein Schwert und hackte dem Tier wieder den Arm ab. Auch Krohn beteiligte sich nun. Er sprang hoch und biss sich am Hals des Biests fest.
Es kreischte und schrie als sie ihm mehr Schaden zufügten als Thor überhaupt für möglich gehalten hatte. Doch Thor konnte nicht fassen, dass es immer noch mit vibrierenden Flügeln vor ihnen stand. Es wollte einfach nicht sterben.
Sie hatten mit Schrecken beobachtet, wie es nach den Speeren und der Axt gegriffen hatte, sie aus den Wunden gezogen hatte und diese vor ihnen Augen heilten. Das Biest schien unbezwingbar.
Es stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte, und sie sahen erschrocken zu ihm hoch. Sie hatten mit allem was ihnen zur Verfügung stand angegriffen, und es schien nicht einmal eine Schramme zu haben. Es bereitete sich darauf vor, sich mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen und Zangen erneut auf sie zu stürzen, und Thor erkannte, dass sie alles versucht hatten. Er war sich sicher, dass sie alle würden sterben müssen.
„AUS DEM WEG!“, kam ein plötzlicher Schrei.
Die Stimme kam von irgendwoher hinter Thor und klang jung. Thor drehte sich um und sah einen kleinen Jungen, vielleicht elf Jahre alt auf sich zu rennen, der eine Kanne mit Wasser trug. Thor duckte sich und der Junge schleuderte das Wasser und spritzte es über das Gesicht des Biests. Es bäumte sich auf und kreischte furchterregend. Dampf stieg von seinem Gesicht auf, und es versuchte es mit seinen Zangen abzuwischen. Es kreischte und schrie immer wieder – so laut, dass Thor seine Hände über die Ohren legen musste.
Endlich drehte sich das Biest um und rannte davon, zurück in den Urwald und verschwand im dichten Blattwerk
Sie alle wandten sich dem kleinen Jungen zu und sahen ihn dankbar und verwundert an. Lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet, hatte er längeres braunes Haar und leuchtend grüne, wache Augen. Er war über und über mit Schlamm beschmiert und sah aus – seinen bloßen Füssen und dreckigen Händen nach zu Urteilen – als lebte wahrscheinlich hier draußen.
Thor war niemals einem Fremden gegenüber dankbarer gewesen.
„Waffen können einem Gathortier nichts anhaben.“, erklärte der Junge und rollte seine Augen. „Ihr hattet Glück, dass ich in der Nähe war und sein Kreischen gehört habe. Wenn nicht, währet ihr jetzt wahrscheinlich schon tot. Hat euch denn niemand gesagt, dass man ein Gathortier nicht angreifen soll?“
Thor sah seine Freunde sprachlos an.
„Wir haben es nicht angegriffen.”, sagte Elden. „Es hat uns angegriffen.“
„Sie würden niemals angreifen“, sagte der Junge, „es sei denn man dringt in ihr Revier ein.“
„Was hätten wir dann tun sollen?“, wollte Reece wissen.
„Nun, zum einen schaut man ihm nicht in die Augen.“, erklärte der kleine Junge. „Und wenn es angreift, legst du dich mit dem Gesicht nach unten flach auf den Boden, bis es dich in Ruhe lässt. Und am allerwichtigsten: versuche niemals wegzulaufen!“
„Du hast unser Leben gerettet.“, sagte Reece. „Wir stehen tief in deiner Schuld.“
Der Junge zuckte die Schultern.
„Ihr seht nicht gerade wie Truppen des Empire aus.“, sagte er. „ Ihr seht aus, als würdet ihr von irgendwo anders herkommen. Warum sollte ich euch nicht helfen? Ihr tragt die gleichen Abzeichen, wie die Gruppe, die vor ein paar Tagen mit einen Schiff hier ankam.“
Thor und die anderen tauschten Blicke aus und wandten sich dann dem Jungen zu.
„Weißt du, wo diese Gruppe hingegangen ist?“, wollte Thor wissen.
Wieder zuckte der Junge die Schultern. „Es war eine große Gruppe und sie haben eine Waffe getragen. Sie schien schwer zu sein: Sie konnten sie nur gemeinsam tragen. Ich bin ihnen tagelang gefolgt – das war leicht. Sie waren langsam und außerdem nachlässig und unvorsichtig. Ich weiß, wo sie hingegangen sind, wobei ich sie nicht weiter als bis zum Dorf verfolgt habe. Ich kann euch hinbringen und euch die Richtung weisen, wenn ihr das wollte. Aber nicht heute.“
Die anderen tauschten ratlose Blicke.
„Warum nicht?“, wollte Thor wissen.
„Es wird bald dunkel, und nach Einbruch der Dunkelheit sollte man sich besser nicht draußen aufhalten.
„Doch warum?”, fragte Reece
Der Junge sah ihn an, als wäre er verrückt.
„Die Ethawanzen.“, sagte er.
Thor trat vor und sah den Jungen an. Er hatte ihn sofort gemocht. Er war intelligent, ernsthaft, furchtlos und hatte ein riesengroßes Herz.
„Weißt du einen Ort, wo wir über Nacht Unterschlupf finden können?
Der Junge sah Thor an, zuckte mit den Schultern, und sah verunsichert aus. Er stand unschlüssig da.
„Ich glaube nicht, dass ich euch mitnehmen sollte.“, sagte er. „Großvater wird böse auf mich sein.“
Plötzlich kam Kroh hinter Thor vor und lief auf den Jungen zu – und die Augen des Jungen leuchteten begeistert auf.
„Wow!“, rief er.
Krohn leckte das Gesicht des Jungen, wieder und wieder, und der Junge kicherte vor Freude und streichelte Thors Kopf. Dann kniete der Junge nieder und umarmte Krohn.
Krohn schien ihn auch zu umarmen und der Junge lachte.
„Wie ist sein Name?“, wollte er wissen. „Was ist er?“
„Sein Name ist Krohn.“, sagte Thor. „Und er ist ein seltener weißer Leopard. Er kommt von der anderen Seite des Meeres. Vom Ring, wo auch wir herkommen. Er mag dich!“
Der Junge küsste Krohn ein paar Mal und schließlich stand er auf und sah Thor an.
„Nun ja.“, sagte der Junge, immer noch unsicher. „Ich denke schon, dass ich euch in mein Dorf bringen kann. Ich hoffe nicht, dass Großvater zu böse sein wird. Wenn doch, habt ihr Pech. Folgt mir. Wir müssen uns beeilen. Es wird bald Nacht.“
Der Junge drehte sich um und bahnte sich schnell seinen Weg durch den Urwald und Thor und die anderen folgten ihm. Thor war erstaunt über die Geschicklichkeit des Jungen und wie gut er den Urwald kannte. Es fiel ihm schwer, mitzuhalten.
„Von Zeit zu Zeit kommen Leute hier her.“, sagte der Junge. „Das Meer, die Gezeiten, sie führen sie direkt in den Hafen hinein. Manche Leute kommen vom Meer und kommen auf dem Weg zu irgendeinem anderen Ort hier durch. Die meisten überleben es nicht. Sie werden meistens von irgendetwas aufgefressen. Ihr hattet Glück. Es gibt viel Schlimmeres hier als das Gathortier.
Thor schluckte.
„Schlimmer als das? Was denn?“
Der Junge schüttelte den Kopf und lief weiter.
„Das willst du nicht wissen. Ich habe ziemliche schreckliche Dinge hier gesehen.“
„Wie lange bist du schon hier?“, wollte Thor wissen. Er war neugierig.
„Mein ganzes Leben schon.“, sagte der Junge. „Mein Großvater hat uns hierher gebracht, als ich noch ganz klein war.“
„Doch warum hierher? An diesen Ort. Es muss doch menschenfreundlichere Orte als diesen hier geben.“
„Du kennst das Empire nicht, nicht wahr?“, fragte der Junge. „Ihre Truppen sind überall. Es ist nicht leicht, unsichtbar für sie zu bleiben. Wenn sie uns jemals fangen würden, würden sie uns als Sklaven halten. Sie kommen jedoch kaum hierher – nicht so tief in den Urwald.
Als sie sich ihren Weg durch das dichte Blattwerk bahnten wollte Thor gerade ein Blatt wegschieben, als der Junge sich umdrehte und Thors Hand einen Stoß versetzte.
„FASS DAS NICHT AN!“
Sie alle blieben stehen und Thor sah sich das Blatt, das er fast berührt hätte. Es war groß und gelb und sah unschuldig aus.
Der Junge nahm einen Stock und tippte das das Blatt mit der Spitze an. Mit unglaublicher Geschwindigkeit und begleitet von einem lauten Zischen rollte sich das Blatt um den Stock und die Spitze des Stocks löste sich auf.
Thor war geschockt.
„Ein Rankelblatt.“, sagte der Junge. „Gift. Wenn du es berührt hättest, hättest du jetzt keine rechte Hand mehr.“
Thor sah sich um und betrachtete das Grünzeug um ihn herum mit neuem Respekt. Er war überglücklich, dass sie diesem Jungen begegnet waren.
Sie wanderten weiter und Thor behielt seine Hände dicht am Körper – genauso wie die anderen auch. Sie waren nun bei jedem Schritt viel vorsichtiger.
„Bleibt dicht beisammen und folgt meinen Schritten genau.“, hatte der Junge gesagt. „Fasst nichts an, und um Himmels Willen versucht nicht, eine dieser Früchte zu essen. Und riecht auch nicht an den Blumen, es sei denn, ihr wollt ohnmächtig werden
„Hey, was ist das?“, fragte O’Connor und drehte sich zu einer riesigen Frucht um, die von einem Ast hing, lang und schmal und von glitzerndem Gelb. O’Connor ging einen Schritt darauf zu und streckte die Hand danach aus.
„NICHT!“, schrie der Junge.
Doch es war zu spät.
Als er sie berührte, gab der Boden unter ihnen nach, und Thor rutschte ein Gefälle herunter, begleitet von Matsch und Wasser. Sie waren inmitten einer Schlammlawine und konnten nicht anhalten.
Sie schrien als sie hunderte von Metern weit direkt in die schwarzen Tiefen des Urwaldes rutschten.
KAPITEL SIEBEN
Erec saß auf einem Pferd, atmete schwer und bereitete sich auf den Angriff der zweihundert Krieger vor ihm vor. Er hatte heldenhaft gekämpft und es war ihm gelungen, die ersten hundert Mann auszuschalten – doch langsam wurden seine Schultern müde und seine Hände zitterten. Sein Verstand hätte ewig weiter kämpfen können – doch er war sich nicht sicher, ob sein Körper mithalten konnte. Er würde einfach mit allem was im zur Verfügung stand weiterkämpfen, wie er es schon sein ganzes Leben getan hatte, und das Schicksal die Entscheidung für ihn fällen lassen.
Erec schrie und trat das fremde Pferd das er einem seiner toten Gegner abgenommen hatte und stürmte den Kriegern entgegen.
Sie taten es ihm gleich und stimmten in seinen Kampfschrei mit ihrem noch viel wilderen Geschrei ein. Viel Blut war bereits auf diesem Feld geflossen und beide Seiten waren fest entschlossen es nicht zu verlassen, bevor der Gegner tot war.
Während er auf die anderen Krieger zuritt, nahm Erec sein Wurfmesser vom Gürtel, zielte und warf es auf ihren Anführer vor sich. Es war ein perfekter Wurf, der ihn genau in seinen Hals traf. Er ließ die Zügel fallen, griff nach seinem Hals und viel vom Pferd. Genau wie Erec gehofft hatte, fiel er vor die Füße von anderen Pferden, die über ihn stolperten und ihrerseits zu Boden gingen.
Erec hob mit einer Hand einen Wurfspeer, einen Schild in der anderen, klappte sein Visier herunter und trieb das Pferd noch mehr an. Er würde sich so schnell und mit so viel Gewalt auf sie stürzen wie es ihm nur möglich war. Er würde ihre Schläge wegstecken und seinerseits eine Schneise mitten durch sie hindurch schlagen.