Aber zuerst – das war ihm am allerwichtigsten – würde er sich seinen Platz in seinem eigenen Clan zurückerobern. Und dabei würde er gnadenlose Härte walten lassen. Rexus hat einen schweren Fehler begangen, indem er mich bestraft hat, dachte Kyle. Unwillkürlich hob er die Hand und berührte die verkrusteten Wunden an seiner einen Gesichtshälfte. Man hatte ihn grausam bestraft, weil Caitlin ihm entwischt war. Rexus würde für jede einzelne Narbe, die Kyle davongetragen hatte, büßen müssen. Zwar besaß Rexus große Macht, doch mit dem Schwert war Kyle sogar noch mächtiger als er. Und Kyle würde nicht eher ruhen, bis er Rexus eigenhändig getötet hatte und er selbst der neue Oberste Meister war.
Bei dem Gedanken grinste Kyle wieder breit. Oberster Meister. Nach all den Jahrtausenden. Er hatte es verdient – es war seine Bestimmung.
Kyle und seine Männer flogen immer weiter, über den Central Park, über das Stadtzentrum, über den Union Square, über Greenwich Village … bis sie schließlich den City Hall Park erreichten.
Elegant landete Kyle, und die Schar der Vampire, die inzwischen auf Hunderte angewachsen war, folgte seinem Beispiel. Es war unglaublich, wie groß seine Armee nun geworden war. Was für eine eindrucksvolle Rückkehr!
Als Kyle gerade auf die City Hall zusteuerte, um die Türen aufzubrechen und seinen Krieg zu beginnen, entdeckte er aus dem Augenwinkel etwas, was seine Aufmerksamkeit erregte. Etwas, das ihn beunruhigte.
Er zoomte die Brooklyn Bridge heran, die mehrere Häuserblocks entfernt war, um das dort herrschende wilde Durcheinander genauer zu inspizieren. Unmengen von Autos steckten im Stau vor der Brücke fest, weil jeder versuchte, aus der Stadt herauszukommen.
Doch die Brücke war abgeriegelt. Mehrere Panzer und Militärfahrzeuge blockierten den Weg, und Soldaten richteten ihre Maschinengewehre auf die Menge. Offensichtlich durfte niemand Manhattan Island verlassen. Das Militär hatte den Auftrag, eine weitere Verbreitung der Seuche zu verhindern. Wahrscheinlich hatte man inzwischen sämtliche Brücken und Tunnel abgeriegelt.
Eigentlich war das genau das, was Kyle gewollt hatte: Wenn alle Menschen in Manhattan in der Falle saßen, würde es einfacher sein, sie zu töten.
Trotzdem drehte sich ihm jetzt der Magen um, als er das Spektakel mit eigenen Augen sah. Denn er hasste sämtliche Obrigkeiten – und dazu gehörte eben auch das Militär. Beinahe empfand er Mitgefühl mit den Menschenmassen, die schreiend verlangten, die Insel verlassen zu können. Sie wurden von Autoritätspersonen aufgehalten, und bei dem Gedanken kochte heiße Wut in Kyle hoch.
Gleichzeitig schoss ihm eine neue Idee durch den Kopf. Warum sollte man nicht einige Menschen von der Insel lassen? Denn dann würden sie die Pest weiterverbreiten, was ganz in seinem Sinne wäre. Zum Beispiel nach Brooklyn. Ja, das wäre doch sehr praktisch.
Plötzlich erhob Kyle sich wieder in die Lüfte und flog auf die Brooklyn Bridge zu. Sofort folgten ihm Hunderte Vampire.
Gut, dachte er. Sie sind loyal und gehorsam, und sie stellen keine Fragen. Eine sehr brauchbare Armee.
Geschmeidig landete Kyle vor der Brooklyn Bridge auf der Motorhaube eines Autos. Die Stiefel der anderen Vampire machten klackende Geräusche, als sie auf den Autos hinter Kyle aufsetzten.
Ein plötzliches Hupkonzert setzte ein – offensichtlich gefiel es den Menschen nicht, wenn man über ihre Autos spazierte.
Wut flammte in Kyle auf, weil diese erbärmlichen Menschen so undankbar waren und hupten, obwohl er gekommen war, um ihnen zu helfen.
Er stand auf der Motorhaube eines Saab Geländewagens und wollte gerade herunterspringen, um sich um das Militär zu kümmern. Weil der Fahrer jedoch wie wild hupte, drehte er sich langsam um und blickte durch die Windschutzscheibe auf die Familie hinunter, die wiederum zu ihm hinaufstarrte.
Sie waren eine typische adrette Vorzeigefamilie. Auf den Vordersitzen saßen Ehemann und Ehefrau, beide in den Vierzigern, hinter ihnen ihre beiden Kinder. Der Mann öffnete das Fenster und drohte Kyle mit der Faust.
»Runter von meinem Auto, verdammt noch mal!«, schrie er erbost.
Langsam kniete Kyle sich hin, holte aus und zertrümmerte mit der Faust die Windschutzscheibe. Dann packte er den Mann an seinem Polokragen und riss ihn durch die Scheibe aus dem Wagen. Glassplitter flogen in alle Richtungen, während die Ehefrau und die Kinder vor Entsetzen aufschrien.
Breit grinsend hob Kyle den Mann hoch über seinen Kopf.
Der arme Kerl jammerte und schrie. Die Glasscherben hatten ihm viele Verletzungen zugefügt, und er war blutüberströmt.
Mit Schwung warf Kyle den Mann durch die Luft, als wäre er ein Papierflugzeug. Er flog viele Meter weit und stürzte schließlich irgendwo mitten im Stau auf ein Auto. Kyle hoffte, dass er tot war.
Nun machte Kyle sich an die Arbeit, sprang von dem Auto und lief auf die riesigen Panzer zu, die den Zugang zur Brücke versperrten. Die übrigen Vampire folgten ihm auf den Fersen.
Als Kyle und seine Männer näher kamen, wurden die Soldaten sichtlich nervös. Mehrere brachten ihre Maschinengewehre in Anschlag.
Zwischen den Panzern und den Autos befand sich ein gut dreißig Meter breiter Streifen, den offensichtlich niemand überqueren wollte.
Doch Kyle überschritt diese unsichtbare Grenze völlig unbekümmert und marschierte geradewegs auf die Panzer zu.
»Stehen bleiben!«, rief einer der Soldaten durch ein Megafon. »Kommen Sie NICHT näher, sonst eröffnen wir das Feuer!«
Kyle lachte über das ganze Gesicht und marschierte weiter.
»Ich habe gesagt, STEHEN BLEIBEN!«, wiederholte der Soldat. »Das ist die LETZTE Warnung! Es besteht Ausgangssperre. Wir haben den Auftrag, nach Einbruch der Nacht auf jeden zu schießen!«
Kyles Grinsen wurde noch breiter.
»Die Nacht gehört mir«, antwortete er.
Als Kyle seinen Weg fortsetzte, eröffneten sie plötzlich das Feuer. Dutzende Soldaten richteten ihre Maschinenpistolen auf Kyle und seine Männer und schossen.
Die Kugeln prallten von Kyle ab, von seiner Brust, seinen Armen, seinem Kopf und seinen Beinen. Sie fühlten sich an wie Regentropfen, nur etwas heftiger. Amüsiert lächelte er über diese jämmerlichen Waffen der Menschen.
Dann sah er die entsetzten Gesichter der Männer, als sie begriffen, dass er nicht einmal verletzt war. Ganz offensichtlich konnten sie nicht begreifen, warum er immer noch auf den Beinen war. Auch seine Begleiter waren gesund und munter.
Den Soldaten blieb keine Zeit, auf ihre Erkenntnis zu reagieren, denn Kyle ging bereits auf einen der Panzer zu, kroch darunter und stemmte ihn mit übermenschlichen Kräften in die Höhe. Dann trug er das Fahrzeug mehrere Schritte Richtung Brückengeländer. Einige Soldaten verloren das Gleichgewicht und purzelten von dem Panzer herunter, während Dutzende weiterer Männer sich mit aller Kraft an dem Metall festklammerten, um nicht abzustürzen.
Doch das erwies sich als großer Fehler.
Kyle machte noch drei schnelle Schritte und warf den Panzer mit aller Kraft von der Brücke.
Das Fahrzeug flog im hohen Bogen über das Geländer und stürzte viele Meter in die Tiefe auf den Fluss zu. Dabei drehte es sich immer wieder um sich selbst. Die Soldaten schrien, als sie sich nicht mehr halten konnten und abstürzten. Schließlich schlug der Panzer mit einem gewaltigen Platschen auf der Wasseroberfläche auf.
Plötzlich erwachte der Verkehr zum Leben. Die vollkommen verängstigten New Yorker traten ohne zu zögern das Gaspedal durch, und die Autos schossen auf der jetzt frei gewordenen Fahrspur auf die Brücke zu. Innerhalb weniger Sekunden brausten Hunderte von Autos aus Manhattan heraus. Als Kyle ihre Gesichter musterte, erkannte er, dass viele bereits mit der Pest infiziert waren.
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem entstellten Gesicht aus. Diese Nacht versprach wunderbar zu werden.
3. Kapitel
Samantha sah, wie die riesigen Doppeltüren sich knarrend öffneten, und spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Dann trat sie in Begleitung von mehreren Vampirwachen in das Gemach ihres Meisters. Zwar hielten sie sie nicht fest – das würden sie nie wagen – doch sie umringten sie so dicht, dass die Botschaft auch so eindeutig war. Demnach war sie immer noch eine von ihnen, obwohl sie unter Hausarrest stand – zumindest, bis das Treffen mit Rexus vorüber war. Er bestellte sie als Soldatin zu sich, doch gleichzeitig war sie auch eine Gefangene.
Nachdem die Tür mit einem Krachen hinter ihr ins Schloss gefallen war, sah sie, dass der Raum voller Vampire war. Seit Jahren hatte sie nicht mehr so viele von ihnen versammelt gesehen. Aberhunderte füllten den Raum. Offensichtlich wollten alle zusehen und die Neuigkeiten über das Schwert hören. Sie wollten hören, wie sie es sich hatte entwischen lassen.
Aber wahrscheinlich wollten sie vor allem miterleben, wie sie bestraft wurde. Jeder wusste, dass Rexus ein unerbittlicher Meister war, der sogar den kleinsten Fehler mit einer Strafe ahndete. Und eine Verfehlung von dieser Tragweite würde sicherlich eine besonders schwere Bestrafung nach sich ziehen.
Samantha wusste das, und sie versuchte auch gar nicht, ihrem Schicksal zu entkommen. Schließlich hatte sie den Auftrag, den sie übernommen hatte, nicht erfolgreich ausgeführt. Zwar hatte sie das Schwert gefunden, aber sie hatte es auch verloren – sie hatte zugelassen, dass Kyle und Sergei es ihr vor der Nase weggeschnappt hatten.
Alles wäre perfekt gewesen. Das Schwert hatte nur wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden in der King’s Chapel gelegen. Nur wenige Sekunden hatten sie von dem Ergreifen des Schwertes getrennt, von der Erfüllung ihres Auftrages, um ein Haar wäre sie zur Heldin ihres Clans geworden.
Und dann war Kyle mit seinem schrecklichen Handlanger hereinmarschiert, hatte sie niedergeschlagen und das Schwert gestohlen, unmittelbar bevor sie danach hatte greifen können. Das war so unfair. Wie hätte sie damit rechnen können?
Und was war sie jetzt? Der Bösewicht, die Versagerin. Die, die sich das Schwert vor der Nase hatte wegschnappen lassen. Oh ja, das dicke Ende würde noch kommen, davon war sie überzeugt.
Jetzt war es für sie nur noch von Bedeutung, dass Sam in Sicherheit war. Er war ebenfalls niedergeschlagen worden und hatte das Bewusstsein verloren. Daraufhin hatte sie ihn weggetragen und die ganze Strecke hierhergebracht, weil sie ihn in ihrer Nähe haben wollte. Sie war nicht bereit, ihn gehen zu lassen, und sie hatte nicht gewusst, wohin sie ihn sonst hätte bringen sollen. Also hatte sie ihn hereingeschmuggelt und ihn in einem leeren Raum tief unter der Erde untergebracht. Niemand hatte sie dabei beobachtet, jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Dort würde er vor den neugierigen Augen dieser Vampire sicher sein. Jetzt würde sie Rexus Bericht erstatten, ihre Bestrafung erdulden und danach bis Tagesanbruch warten, wenn alle anderen schliefen, um mit Sam zu fliehen.
Natürlich konnte sie nicht einfach sofort fliehen. Wenn sie nicht zuerst ihren Bericht ablieferte und ihre Strafe verbüßte, würde ihr Clan Jagd auf sie machen, und sie wäre für den Rest ihres Lebens auf der Flucht. Hatte sie erst einmal ihre Strafe erduldet, würde niemand sie verfolgen. Dann konnte sie mit Sam zusammen fliehen und sich irgendwo niederlassen. Nur sie beide.
Niemals hätte sie damit gerechnet, dass dieser Junge solche Gefühle in ihr wachrufen könnte. Inzwischen besaß er für sie erste Priorität. Sie wollte mit ihm zusammen sein: Sie brauchte ihn. So verrückt es auch klingen mochte, selbst für ihre eigenen Ohren – sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Das machte sie wütend, denn sie wusste nicht, wie es so weit hatte kommen können. Wie hatte sie sich nur in einen Jungen im Teenageralter verlieben können? Ganz zu schweigen davon, dass er ein Mensch war. Dafür hasste sie sich. Aber es war, wie es war. Es würde nichts bringen, ihre Gefühle ändern zu wollen.
Dieser Gedanke gab ihr Kraft, als sie langsam auf Rexus’ Thron zuging und sich auf seinen Urteilsspruch vorbereitete. Sie wusste, dass sie unbeschreibliche Schmerzen erleiden würde, doch der Gedanke an Sam würde ihr helfen, das durchzustehen. Es gab jemanden, zu dem sie zurückkehren konnte. Außerdem würde Sam all das erspart bleiben, weil sie ihn in Sicherheit gebracht hatte. Deshalb würde sie ertragen können, was jetzt auf sie zukam.
Doch würde er sie nach der Verbüßung der Strafe überhaupt noch lieben? So wie sie Rexus kannte, würde er als Strafe für sie eine Behandlung mit Weihwasser für angemessen halten und ihr Gesicht so gut es ging verunstalten. Vielleicht würde sie danach nicht mehr hübsch sein. Würde Sam sie dann immer noch lieben? Sie konnte es nur hoffen.
Stille senkte sich über den Raum, während die unzähligen Vampire näher rückten, um nichts zu verpassen. Samantha ging auf Rexus zu, ließ sich auf ein Knie sinken und neigte den Kopf.
Rexus starrte von seinem Thron auf sie hinunter, wobei seine harten, eisblauen Augen sie förmlich zu durchbohren schienen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, obwohl Samantha wusste, dass wahrscheinlich nur wenige Sekunden vergingen. Wohlweislich hielt sie den Kopf gesenkt und hütete sich, seinem Blick zu begegnen.
»Also«, begann Rexus mit rauer Stimme zu sprechen, »jetzt rächt es sich, dass ich dich ausgewählt habe.«
Ein längeres Schweigen folgte, während er Samantha musterte. Sie unternahm keinen Versuch, sich in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, sondern blickte nicht einmal auf.
»Ich habe dich losgeschickt, um einen sehr einfachen Auftrag zu erledigen«, fuhr er fort. »Nachdem Kyle versagt hatte, brauchte ich jemandem, dem ich vertrauen konnte. Meine wertvollste Kriegerin. Noch nie zuvor hattest du mich enttäuscht, nicht ein einziges Mal in Jahrtausenden«, sagte er hart. »Aber irgendwie ist es dir gelungen, an diesem einfachen Auftrag zu scheitern – absolut kläglich zu scheitern.«
Samantha schwieg weiterhin.
»Nun erzähl mir ganz genau, was mit dem Schwert geschehen ist. Wo ist es?«
»Mein Meister«, antwortete sie bedächtig. »Ich habe dieses Mädchen aufgespürt, diese Caitlin. Und Caleb. Ich habe sie beide gefunden. Auch das Schwert habe ich gefunden. Ich habe Caitlin sogar dazu gebracht, es aus der Hand zu geben. Dann lag es auf dem Boden, nur ganz knapp außerhalb meiner Reichweite. Ich war ganz dicht davor, es war eine Frage von Sekunden, bis ich es in den Händen hätte halten können, um es Euch zu bringen.«
Samantha schluckte.
»Ich konnte nicht ahnen, was als Nächstes passieren würde. Als Kyle mich angriff, war ich völlig überrumpelt …« Lautes Gemurmel breitete sich unter den versammelten Vampiren aus.
»Bevor ich das Schwert ergreifen konnte«, fuhr sie fort, »hatte Kyle es schon an sich genommen. Sofort flüchtete er aus der Kirche, ich konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern. Als ich versuchte, ihn zu verfolgen, war er bereits verschwunden. Das Schwert befindet sich jetzt in seinem Besitz.«
Das Gemurmel wurde lauter. Die Aufregung und Besorgnis im Raum war beinahe greifbar.
»RUHE!«, rief jemand mit lauter Stimme.
Langsam erstarb das Murmeln.
»Also hast du zugelassen, dass Kyle das Schwert genommen hat. Du hast es ihm praktisch überreicht.«
Obwohl Samantha es besser wusste, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie musste einfach etwas zu ihrer Verteidigung sagen. »Mein Meister, ich konnte nichts tun …«