Dann sprang sie selbst auf die Füße und zerrte an Sams Ketten. Als sie ihn befreit hatte, sah er sich völlig fassungslos um, als wäre gerade ein vollkommen absurder Albtraum Wirklichkeit geworden.
»Samantha«, sagte er, »was zum Teufel ist hier …«
»Nicht jetzt«, unterbrach sie ihn, riss die letzte Kette los, ergriff Sams Arm, zerrte ihn durch das Chaos und steuerte auf den Ausgang zu.
Auf dem Weg dorthin wurden sie von einem weiteren Vampir angegriffen.
Instinktiv versetzte Samantha Sam einen kräftigen Stoß, sodass er stürzte, dann duckte sie sich. Der Vampir flog über ihre Köpfe hinweg.
Schnell sprangen die beiden wieder auf und setzten ihren Weg fort. Geschickt wichen sie allen Gefahren aus. Samantha wusste, dass es jenseits der Tür noch eine Hintertür gab, die zu einer Treppe führte, über die sie auf die Straße gelangen konnten. Wenn es ihnen erst einmal gelungen war, aus dem Gebäude zu fliehen, konnte sie Sam ganz weit wegbringen.
In dem Durcheinander achtete niemandem darauf, dass sie flüchten wollten. Als sie die Tür fast erreicht hatten, spürte Samantha plötzlich, wie sie von hinten angesprungen wurde, dann verlor sie das Gleichgewicht und stürzte.
Als sie herumwirbelte, sah sie sich Sergei gegenüber, diesem widerlichen kleinen Russen, der Kyles Handlanger geworden war. Der, der ihr das Schwert vor der Nase weggestohlen hatte.
Als er mit einem bösen, grausamen Grinsen auf sie hinunterblickte, hasste sie ihn noch mehr.
Man musste Sam zugutehalten, dass er keine Furcht zeigte. Obwohl die Reste der Ketten ihn nach wie vor behinderten, sprang er auf Sergeis Rücken und wickelte ihm die Ketten um den Hals. Der Junge drückte so stark zu, dass Sergei seinen Griff unwillkürlich lockerte und Samantha sich unter ihm hervorrollen konnte.
Doch trotzdem war Sam einem Vampir nicht gewachsen. Sergei sprang knurrend auf und schüttelte Sam wie eine Stoffpuppe ab, sodass er mehrere Meter weiter gegen die Wand krachte.
Als Samantha sich aufrappeln wollte, fielen ein Dutzend Vampire über sie her. Sie sah, dass Sam ebenfalls umringt wurde. Sie saßen in der Falle.
Das Letzte, was sie wahrnahm, war Sergeis grausames Lächeln, bevor er ihr einen Faustschlag mitten ins Gesicht versetzte.
* * *
Während Kyle durch den großen Versammlungssaal des Blacktide Clans wirbelte, voller Aggression das Schwert schwang und einen Vampir nach dem anderen erledigte, fühlte er sich lebendiger als je zuvor. Blut spritzte in alle Richtungen, bedeckte auch ihn selbst von oben bis unten und machte seine Hände glitschig, als er das Schwert noch kraftvoller einsetzte. Das war seine Rache. Rache dafür, dass sie ihn so schlecht behandelt hatten, nachdem er dem Clan über Jahrtausende loyal gedient hatte. Wie konnten sie es wagen? Dafür lernten sie jetzt die wahre Bedeutung des Wortes Vergeltung kennen. Sie alle würden sich bei ihm entschuldigen, jeder Einzelne von ihnen: Sie würden sich vor ihm bis zum Boden verneigen und zugeben, dass sie sich gründlich geirrt hatten.
Alles lief perfekt. Nach seinem kleinen Schlenker über die Brooklyn Bridge hatte er seine loyalen Anhänger in die City Hall geführt und zuerst die Vampire getötet, die es gewagt hatten, sich ihm in den Weg zu stellen. Dann waren sie durch den Geheimgang immer tiefer in das Innere der City Hall vorgedrungen, bis sie schließlich das Allerheiligste des Clans erreicht hatten. Niemand hatte einen Versuch gemacht, ihn aufzuhalten, als er mit seinen Männern in den Saal stürmte. Viele Vampire schlossen sich der Armee an, als sie Kyle und vor allem das Schwert sahen. Erfreut stellte Kyle fest, wie viele Vampire seines alten Clans ihm immer noch die Treue hielten. Er wusste, dass der Tag gekommen war, an dem er rechtmäßig die Führung über den Clan übernehmen würde.
Rexus war ein schwacher Meister. Wäre er stärker gewesen, hätte er selbst das Schwert gefunden, und zwar schon vor vielen Jahren. Niemals hätte er andere mit der Suche beauftragt. Es gefiel ihm, andere für seine eigenen Fehler zu bestrafen, obwohl er eigentlich selbst die Strafen verdient gehabt hätte. Die Macht hatte ihn berauscht. Die Verbannung Kyles war ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, alle zu eliminieren, die ihm in der Rangordnung nahegestanden hatten. Doch der Schuss war eindeutig nach hinten losgegangen.
Als Kyle durch den Saal auf den Thron des Obersten Meisters zupreschte, weiteten sich Rexus’ Augen voller Panik.
Er sprang von seinem Thron und versuchte, sich heimlich davonzuschleichen. Der sogenannte Meister zeigte jetzt im Krieg sein wahres Gesicht.
Doch Kyle hatte andere Pläne.
Schnell lief er hinüber, um Rexus direkt zu konfrontieren. Am einfachsten wäre es gewesen, Rexus das Schwert in den Rücken zu stoßen, doch so leicht wollte er ihn nicht davonkommen lassen. Er sollte ganz aus der Nähe sehen, wer ihn tötete.
Abrupt blieb Rexus stehen, als Kyles breite Schultern ihm den Weg versperrten. Sein Kinn bebte, als er das schimmernde Schwert betrachtete. Mit zitterndem Finger zeigte er auf Kyles Gesicht. In dem Moment sah er einfach nur wie ein alter Mann aus. Ein schwacher, alter Mann, der große Angst hatte. Wie armselig.
»Du bist verstoßen worden!«, rief er. »Ich habe beschlossen, dass du verstoßen wirst!«
Kyle grinste bösartig.
»Du kannst nicht gewinnen!«, fügte Rexus hinzu. »Du wirst nicht gewinnen!«
Lässig trat Kyle vor, holte aus und stieß Rexus das Schwert mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung mitten ins Herz.
»Ich habe bereits gewonnen«, rief er dann.
Rexus schrie so furchtbar, dass alle im Raum sich umdrehten, obwohl sie selbst in Kämpfe verwickelt waren. Der ganze Saal vibrierte von dem schrecklichen Schrei, der eine Ewigkeit anzudauern schien. Während alle Rexus anstarrten, zerfiel sein Körper vor ihren Augen und löste sich in einer Rauchwolke auf. Schließlich blieb nur noch ein dünner Rauchfaden übrig, der langsam Richtung Decke aufstieg.
Alle Anwesenden blickten jetzt Kyle an.
Kyle reckte das Schwert in die Höhe und stieß einen lauten Schrei aus. Es war der Schrei des Siegers.
Alle Vampire, die die Schlacht überlebt hatten, drehten sich zu Kyle um. Dann ließen sie sich auf die Knie sinken und neigten die Köpfe, bis sie den Boden berührten. Der Kampf war vorüber.
Kyle atmete tief ein und nahm die Situation in sich auf. Jetzt war er ihr Meister.
6. Kapitel
Caitlin war nicht in der Lage zu sprechen und stürmte einfach davon.
All das war zu viel für, sie konnte es nicht verkraften. Hatte sie gerade wirklich gesehen, was sie zu sehen glaubte? Wie war das möglich?
Dabei hatte sie doch gedacht, dass sie Caleb so gut kennen würde und sie sich nun näher wären als je zuvor. Sie war sich sicher gewesen, dass sie zusammen waren, als Paar, und zwar für immer. Ganz deutlich hatte sie ihr neues gemeinsames Leben vor sich gesehen und war überzeugt gewesen, dass nichts sie trennen konnte.
Und dann das. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass es in Calebs Leben eine andere Frau geben könnte. Warum hatte er ihr bloß nichts davon erzählt?
Natürlich erinnerte sich Caitlin daran, dass sie Sera bei ihrem kurzen Besuch in The Cloisters gesehen hatte – doch Caleb hatte damals beharrlich behauptet, dass er keine Gefühle mehr für sie hatte. Das, was zwischen ihnen gewesen war, sei Jahre her – nein, sogar Jahrhunderte.
Was machte sie dann also hier? Vor allem ausgerechnet jetzt? In diesem ganz privaten Moment, nachdem Caitlin von ihm in einen echten Vampir verwandelt worden und gerade eben aufgewacht war? Woher wusste sie überhaupt, wo sie waren? Hatte Caleb sie eingeladen? So musste es sein. Doch warum?
Der Schmerz überrollte Caitlin in Wellen. Dafür konnte es einfach keine plausible Erklärung geben. Aus genau diesem Grund hatte sie immer Angst davor gehabt, sich angreifbar zu machen, vor allem gegenüber Jungs. Nur bei Caleb hatte sie das zugelassen, weil sie ihm absolut vertraut hatte. Noch nie hatte sie sich einem anderen Mann gegenüber so geöffnet und so verwundbar gemacht. Und jetzt hatte er sie tiefer verletzt, als sie es sich je hätte vorstellen können.
Sie konnte immer noch nicht begreifen, warum sie ihn so grundlegend falsch eingeschätzt hatte. Wie konnte sie nur so dämlich sein? Wie würde die Unsterblichkeit nun wohl sein – ohne ihn? Sie würde eine Strafe sein, eine ewig andauernde Strafe. Am liebsten wäre sie gestorben. Außerdem kam sie sich wie eine komplette Idiotin vor.
»Caitlin!«, rief Caleb hinter ihr. Sie hörte seine eiligen Schritte. »Bitte, lass mich dir alles erklären.«
Was blieb da noch zu erklären? Offensichtlich hatte er Sera hierhergebeten. Offensichtlich liebte er sie noch. Und offensichtlich waren seine Gefühle für Caitlin nicht so stark wie ihre Gefühle für ihn.
Caleb fasste sie am Arm und flehte sie an, sich umzudrehen und ihn anzusehen.
Doch sie riss sich los, weil sie seine Berührung nicht ertragen konnte. Nie wieder wollte sie etwas mit ihm zu tun haben. Nie wieder.
»Caitlin!«, schrie er auf. »Willst du mir nicht einmal zuhören?«
Aber Caitlin lief einfach weiter. Sie war jetzt eine andere Person, und sie spürte den Unterschied auf mehr als eine Weise. Zu ihrer neu gewonnen Vampirkraft kam ein ganzes Spektrum neuer Vampiremotionen hinzu. Sie konnte bereits spüren, dass ihre Gefühle wesentlich stärker waren als zuvor als Mensch – viel, viel stärker. Im Moment war sie nicht einfach bloß deprimiert, sondern ihr war sterbenselend. Sie fühlte sich nicht nur verraten und betrogen – sie fühlte sich, als hätte man ihr einen Dolch mitten ins Herz gestoßen. Am liebsten hätte sie sich das Herz aus dem Leib gerissen, damit der Schmerz endlich aufhörte.
In dieser Verfassung marschierte sie über die Terrasse in ihr Zimmer und knallte die Eichentür hinter sich zu.
»Caitlin, Caitlin, bitte!«, hörte sie seine gedämpfte Stimme vor der Tür.
Caitlin drehte sich um und schlug mit der Faust gegen die Tür.
»Geh weg!«, schrie sie. »Geh zurück zu deiner Frau!«
Nach einigen Sekunden spürte sie, dass er tatsächlich ging.
Jetzt war sie ganz allein in der drückenden Stille. Erschöpft setzte sie sich auf die Bettkante, stützte den Kopf in die Hände und weinte. Sie schluchzte herzzerreißend. Alles, wofür es sich zu leben lohnte, war ihr genommen worden.
Plötzlich hörte sie ein leises Winseln und spürte etwas Weiches an ihrem Gesicht. Als sie die Augen aufmachte, sah sie Rose, die ihr Köpfchen an ihr rieb. Dann versuchte sie, ihr die Tränen aus dem Gesicht zu lecken.
Das half Caitlin, sich wieder zusammenzureißen. Zärtlich streckte sie die Hand aus und streichelte Roses weiches Fell. Der kleine Wolf sprang auf ihren Schoß – er war immer noch klein genug dafür – und Caitlin umarmte ihn vorsichtig.
»Ich habe immer noch dich, Rose«, sagte sie. »Du wirst mich bestimmt nicht verlassen, nicht wahr?«
Erneut leckte Rose ihr das Gesicht.
Doch Caitlins Schmerz war zu groß. Sie konnte es keinen Augenblick länger in diesem Raum aushalten, sonst würde sie platzen.
Ihr Blick fiel auf das große Fenster und den einladenden Nachthimmel. Ohne zu zögern, setzte sie Rose auf dem Boden ab, sprang auf, erreichte mit zwei schnellen Schritten das Fenster und sprang hinaus.
Ihre Flügel würden sich von selbst entfalten, wie sie wusste, und sie davontragen. Doch ein Teil von ihr wünschte sich, dass es nicht so wäre und sie auf die Erde stürzen würde.
7. Kapitel
Man hatte Samantha in Ketten gelegt. Mehrere Vampire hielten sie grob an den Armen fest, während sie sie durch den Saal zerrten. Es sah aus wie in einem Schlachthaus. Wo man auch hinsah, überall lagen Vampirleichen, und das Blut von Samanthas früheren Clangefährten sammelte sich in Pfützen überall auf dem Boden. Kyle hatte sie alle mit seinem verfluchten Schwert in Stücke gehackt. Dieses Schwert besaß eine Macht, die jede Vorstellungskraft überstieg.
Trotzdem hatte mehrere Hundert Vampire das Blutbad überlebt. Sie waren jetzt Kyles Volk. Und von Minute zu Minute strömten mehr Vampire durch die offenen Türen in den Saal. Der Strom der Anhänger, die Kyle eifrig ihre Loyalität beweisen wollten, schien nicht abreißen zu wollen. Und Kyle hatte es sich verdient, denn es war ihm gelungen, jeden Vampir auszulöschen, der ihn je hintergangen hatte.
Viele der Vampire hatten ihn im Kampf gegen Rexus unterstützt. Einige waren Kyle wirklich ergeben, während andere bloß Opportunisten waren. Wieder andere hatten Rexus nie gemocht und immer schon auf ihre Chance gelauert. Weitere Vampire aus Clans überall in der Stadt stießen hinzu. In der Welt der Vampire verbreiteten sich Neuigkeiten schnell – sie alle wollten Teil des bevorstehenden Krieges sein. Doch egal, welche Gründe sie hatten – sie gehörten jetzt alle zu Kyles Armee.
Nachdem er nun der Meister war und das Schwert besaß, war jedem klar, dass es bald einen großen Krieg geben würde, einen Krieg, wie er noch nie von Vampiren geführt worden war. Denn Kyle war absolut rücksichtslos und gierte nach Blut. Selbst das Blutbad, das gerade stattgefunden hatte, konnte ihn nicht vollständig zufriedenstellen. Immer noch hatte er einen Komplex, den er nicht abschütteln konnte. Sämtliche Vampire dort draußen, die noch nicht herbeigeeilt waren, um ihm Treue zu schwören, würden dafür bezahlen müssen. Genau wie all die unschuldigen Menschen. Sein Blutdurst war grenzenlos, wie Samantha wusste, und New York City würde bald sein Spielzeug sein.
Grob wurde Samantha durch das Chaos in die Mitte des Saales gezerrt.
Inzwischen saß Kyle auf Rexus’ Thron und kostete seine Macht aus. Ein böses Grinsen lag auf seinem Gesicht, während alle Vampire sich tief vor ihm verneigten.
Neben Kyle stand Sergei und stieß seinen Metallstab dreimal kräftig auf den Boden.
Im ganzen Saal stellten sich Tausende von Vampiren in perfekten Reihen auf. Alle hoben die Faust und riefen: »Hoch lebe Kyle!«
Samantha war verblüfft. Das Ganze war eine Demonstration von Macht und Loyalität. In ihrem ganzen Leben hatte sie solchen Gehorsam noch nicht erlebt. Kyle riss sie alle mit. Schon jetzt war er ein Tyrann.
Doch Kyle schien sich gar nicht für seine Anhänger zu interessieren. Stattdessen war sein Blick auf Samantha gerichtet. Als nach und nach allen Anwesenden sein Interesse an ihr auffiel, erstarb das Gemurmel, weil alle das Gespräch mitverfolgen wollten.
»Nun«, sagte Kyle zu Samantha. »Du bist mir zuvorgekommen und hast das Schwert gefunden. Aber wie du siehst, bin ich es jetzt, der es in der Hand hält.«
»Einstweilen ja«, fauchte Samantha.
Soll er ruhig darüber nachdenken, dachte sie. Denn sie war sich sicher, dass ihm das Schwert eines Tages nicht mehr gehören würde. Wer immer dazu bestimmt war, es zu schwingen, würde das Schwert bekommen – und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass diese Person nicht Kyle war.
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Weißt du eigentlich, warum du überhaupt noch lebst?«, fuhr er sie an.
Herausfordernd erwiderte Samantha seinen Blick. Sie hatte kein Interesse an einem Dialog mit Kyle, und sie wollte auch nicht diesem neuen Clan angehören. Alles, was sie wollte, war, diesen Ort so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Zusammen mit Sam. Falls Kyle sie lassen würde.