Jake öffnete den Umschlag, um sich den Polizeibericht durchzulesen.
*
Nachdem der Helikopter die Gebirgskette der Appalachen hinter sich gelassen hatte, flog er über sanft gewellte Hügel, wo Black Angus-Herden in die Landschaft hingetupft grasten. Als der Hubschrauber zum Landeanflug ansetzte, konnte Jake erkennen, wo die Einsatzfahrzeuge der Polizei einen Abschnitt der Schotterstraße abgeriegelt hatten, damit Schaulustige vom Ort des Verbrechens ferngehalten werden konnten.
Das Flugzeug setzte auf der Grasweide auf. Jake und das Spurensicherungs-Team kletterten heraus und bewegten sich hinüber zu einer kleinen Gruppe uniformierter Menschen und einiger Dienstwagen.
Die Polizisten und das Team standen zu beiden Seiten des Stacheldrahtzauns, der die Straße an der Ecke der Weide säumte. Jake konnte etwas erkennen, das wie ein in sich verheddertes Drahtbündel aussah und an einem Zaunpfosten hing.
Ein kleiner, stämmiger Mann, der Jake in Größe und Statur ähnelte, trat aus der Gruppe, um ihn zu grüßen.
»Ich heiße Graham Messenger und bin hier in Dighton der Chief,« sagte er und schüttelte Jake die Hand. »Wir hatten hier eine ganze Reihe von ziemlich scheußlichen Vorfällen, zumindest für diesen Landstrich. Ich zeige Ihnen was.«
Der Chief ging voran zu dem Zaunpfosten, von dem unübersehbar das seltsame Bündel herabhing. Es wurde von Universalklebeband und Stacheldraht zusammengehalten. Wieder konnte Jake ein Gesicht und Hände erkennen, was darauf hindeutete, dass das Bündel in der Tat ein menschliches Wesen beherbergte.
Messenger sagte: »Ich nehme an, dass Sie bereits über Alice Gibson Bescheid wissen, das vorherige Opfer drüben aus der Nähe von Hyland. Das hier sieht schon wieder wie so ein verdammtes Ding aus. Dieses Mal ist das Opfer Hope Nelson.«
Crivaro sagte: »Wurde sie als vermisst gemeldet, bevor ihre Leiche gefunden wurde?«
»Ich fürchte ja,« antwortete Messenger und zeigte auf einen Mann mittleren Alters mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck, der in der Nähe eines der Fahrzeuge stand. »Hope war mit Mason Nelson da drüben verheiratet – dem Bürgermeister hier. Sie arbeitete gestern Abend noch in ihrem Laden für landwirtschaftlichen Bedarf hier, der den beiden gehört. Sie kam aber nicht zur gewohnten Zeit zurück. Nelson rief mich mitten in der Nacht an und klang ziemlich alarmiert.«
Der Chief zuckte schuldbewusst mit den Schultern.
»Na ja, ich bin schon ein wenig Leute gewöhnt, die für ein Weilchen verschwinden und dann irgendwann wieder auftauchen. Ich habe Mason gesagt, dass ich mich heute drum kümmern würde, falls sie nicht wiederkommt. Ich hatte ja keine Ahnung …«
Messengers versagte die Stimme. Dann seufzte er, schüttelte den Kopf und setzte hinzu …
»Den Nelsons gehört so ziemlich viel hier in Dighton. Sie waren immer gute, anständige Leute. Die arme Hope hat das nicht verdient. Aber ich schätze mal, dass das niemand verdient.«
Ein weiterer Mann trat hinzu. Er hatte ein langes, schon ziemlich gealtertes Gesicht, weißes Haar und einen buschigen, altmodischen Schnurrbart. Chief Messenger stellte ihn als Hamish Cross vor, den obersten Gerichtsmediziner im Regierungsbezirk. Er kaute auf einem Halm herum und schien ziemlich entspannt zu sein. Was hier vorging, interessierte ihn anscheinend nur milde.
Er fragte Jake: »Schon mal so was gesehen?«
Jake antwortete nicht. Die Antwort lautete natürlich nein.
Jake bückte sich hinunter zu dem Bündel und untersuchte es aus der Nähe.
Er sagte zu Cross: »Ich nehme an, dass sie am ersten Mordfall gearbeitet haben.«
Cross nickte, bückte sich auch neben Jake und zwirbelte den Halm im Mund.
«Oh ja,« antwortete Cross. »Und dieser Mordfall ist fast identisch. Sie ist nicht hier gestorben, so viel ist sicher. Sie wurde entführt, erst mit Universalklebeband, dann mit Stacheldraht eingewickelt und ist langsam verblutet. Entweder das oder sie ist vorher erstickt. Wenn sie derart eng eingeschnürt wurde, wird sie kaum in der Lage gewesen sein, zu atmen. Das ist alles woanders passiert – es gibt es kein Anzeichen dafür, dass hier Blut geflossen ist.«
Jake konnte erkennen, dass Hopes Gesicht und Hände fast so weiß wie Papier waren. Sie glänzten in der späten Morgensonne wie Teile aus Porzellan. Die Frau sah für Jake einfach nicht nach einem echten Menschen aus, sondern eher wie eine Art grotesker Skulptur, die einem kranken Hirn entsprungen war.
Ein paar Fliegen kreisten um die Leiche. Sie landeten, wanderten darauf umher und flogen dann wieder weg. Dann begann das ganze Spiel wieder von vorne. Es sah so aus, als wüssten sie nicht, was sie mit diesem mysteriösen Objekt anfangen sollten.
Jake erhob sich und fragte Chief Messenger: »Wer hat die Leiche gefunden?«
Wie als Antwort darauf, hörte Jake die Stimme eines Mannes rufen …
»Was zum Teufel ist hier los? Wie lange dauert das denn noch?«
Jake drehte sich um und erblickte einen langhaarigen Mann mit einem zottligen Bart, der in ihre Richtung kam. Die Augen sprühten vor Zorn und seine Stimme klang schrill und zitterte.
Er rief: «Verflucht nochmal, wann nehmen Sie endlich dieses – dieses Ding ab? Das ist doch eine Riesen-Schererei - ich muss meine Rinder wegen all dem hier auf einer abgegrasten Weide lassen. Wie lange dauert das denn noch?«
Jake wandte sich Hamish Cross zu und sagte leise zu ihm …
«Sie können die Leiche jederzeit wegbringen.«
Cross nickte und erteilte seinem Team die nötigen Befehle. Dann führte er den wütenden Mann sachte weg und sprach mit ihm in leisem Tonfall. Offensichtlich beruhigte ihn das.
Chief Messenger erklärte Jake …
»Das ist Guy Dafoe, dem dieser Grund gehört. Er ist Biobauer – unser Hippie hier, könnte man wohl sagen. Er ist noch nicht lange da. Es hat sich herausgestellt, dass man in dieser Region gut Biorinder halten kann, die mit Gras gefüttert werden. Die Biolandwirtschaft hat die örtliche Wirtschaft wirklich angekurbelt.«
Messengers Handy klingelte und er nahm das Gespräch an. Er hörte einen Augenblick zu und sagte dann zu Jake …
»Dave Tallhamer ist dran, der Sheriff drüben in Hyland. Vielleicht haben Sie schon gehört, dass ein Tatverdächtiger im ersten Mordfall in Gewahrsam genommen wurde – sein Name ist Philip Cardin. Er ist der Ex-Mann des ersten Opfers und ein schlimmer Typ, der kein Alibi vorzuweisen hatte. Tallhamer dachte, dass er es totsicher gewesen wäre. Aber ich schätze, dass dieser neue Mordfall die Sachlage ändert, oder? Dave will wissen, ob er den Kerl gehen lassen soll.«
Jake dachte für einen Augenblick nach und sagte dann …
»Nicht bis ich die Gelegenheit hatte, mit ihm zu sprechen.«
Chief Messenger blinzelte neugierig und sagte: »Ähem, ist er nicht so ziemlich vom Haken, wenn eine andere Frau getötet wird, während er im Gefängnis sitzt?«
Jake unterdrückte einen Seufzer der Ungeduld.
Er wiederholte einfach: »Ich möchte mit ihm sprechen.«
Messenger nickte und vertiefte sich wieder in das Telefonat mit dem Sheriff.
Jake wollte sich jetzt im Moment nicht in Erklärungen ergehen. In Wahrheit wusste er gar nicht, dass gegenwärtig ein Verdächtiger in Untersuchungshaft saß. Nicht einmal, warum er verdächtigt wurde. Alles, was Jake wusste, war, dass Philip Cardin vielleicht einen Komplizen hatte, der den zweiten Mord begangen hatte. Vielleicht gab es auch etwas anderes …
Der Himmel weiß, was hier wohl los ist.
Zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung gab es immer tausend Fragen und keine Antworten.
Jake hoffte, dass sich das schnell ändern würde.
Während Messenger weiter telefonierte, ging Jake zum Ehemann des Opfers hinüber. Er lehnte an einem Streifenwagen und starrte vor sich hin.
Jake sagte: »Mein aufrichtiges Beileid, Mr. Nelson. Ich bin Special Agent Jake Crivaro und ich bin hier, um den Mörder ihrer Frau zur Rechenschaft zu ziehen.«
Nelson nickte fast unmerklich, als ob es ihm kaum bewusst war, dass jemand mit ihm sprach.
Jake sagte mit fester Stimme: »Mr. Nelson, habe Sie irgendeine Vermutung, wer das getan hat. Oder aus welchem Grund?«
Nelson sah in mit einem benommenen Gesichtsausdruck an.
»Was?« sagte er. Dann stieß er mehrmals hervor: »Nein, nein, nein.«
Jake wusste, dass es keinen Sinn machte, dem Mann noch mehr Fragen zu stellen, wenigstens nicht im Augenblick. Er befand sich ganz klar in einem Schockzustand. Das war kaum überraschend. Nicht genug damit, dass seine Frau tot war. Auch die Art, wie sie gestorben war, war besonders grotesk.
Jake bewegte sich zurück zum Tatort. Das Spurensicherungs-Team war dort schwer beschäftigt.
Er sah sich um und stellte fest, wie abgelegen dieser Ort zu sein schien. Wenigstens gab es keine Menge an Schaulustigen, die hier herumlungerte …
Bisher kein Anzeichen, dass sich die Presse schon einfände.
Aber genau in diesem Moment hörte er das Geräusch eines weiteren Helikopters. Er sah nach oben. Die Maschine eines TV-Senders setzte zum Landen auf der Weide an.
Jake tat einen schweren Seufzer und dachte …
Der Fall wird nicht leicht.
KAPITEL SECHS
Riley fühlte ein starkes, erwartungsvolles Kribbeln, als der Sprecher vor die ungefähr 200 Rekruten trat. Der Mann sah aus, als gehöre er in eine andere Zeit, mit seinem schmalen Reverskragen, der schmalen schwarzen Krawatte und dem Bürstenhaarschnitt. Er erinnerte Riley an Fotos von Astronauten aus den 1960er Jahren. Er sortierte einige wenige Karteikarten, dann ließ er den Blick über sein Publikum schweifen, während Riley auf seine lobenden Worte wartete, mit denen er alle willkommen hieß.
Der Direktor der Akademie, Lane Swanson, hob auch beinahe ihren Erwartungen entsprechend an …
»Mir ist bewusst, dass Sie alle hart gearbeitet haben, um sich auf diesen Tag vorzubereiten.«
Mit einem halben Lächeln fügte er hinzu …
»Jetzt darf ich Ihnen allerdings sagen, dass Sie nicht vorbereitet sind. Keiner von Ihnen ist vorbereitet.«
Ein vernehmbares Raunen ging durch das Auditorium und Swanson machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
Dann fuhr er fort: «Darum geht es in diesem zwanzigwöchigen Programm – Sie so gut wie möglich auf ein Leben bei der zentralen Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten, dem FBI, vorzubereiten. Und ein Teil davon besteht darin, die Grenzen Ihrer Vorbereitung kennenzulernen: Wie man mit unerwarteten Dingen umgeht, wie man genau in dem Moment schnell überlegt, wo man gefordert ist. Denken Sie immer daran – die FBI-Akademie wird mit gutem Grund als ›West Point der Strafverfolgung‹ bezeichnet. Wir haben hohe Standards. Nicht alle von Ihnen werden sie erreichen. Aber diejenigen von Ihnen, die sie erreichen, werden für die Aufgaben vorbereitet sein, die vor Ihnen liegen – so gut man nur hoffen kann.«
Riley hing wie gebannt an Swansons Lippen, als er über die Standards der FBI-Akademie referierte: die Sicherheitsförderung, den Kameradschaftsgeist, die Uniformität, die Eigenverantwortlichkeit und die Disziplin. Anschließend sprach er über den straffen Stundenplan – die Kurse in allen Fachbereichen, angefangen von Gesetz und Ethik bis zu Befragungstechnik und Spurensicherung.
Riley wurde bei jedem seiner Worte nervöser, als ihr klar wurde …
Ich bin keine Praktikantin mehr.
Das Sommerprogramm schien im Vergleich dazu, was sie jetzt erwartete, eine Teenie-Freizeit gewesen zu sein.
War sie dem hier überhaupt gewachsen?
War das mit der Akademie eine schlechte Idee gewesen?
Erst einmal fühlte sie sich wie ein Kind, als sie die anderen Rekruten auf ihren Stühlen betrachtete. Kaum jemand war in ihrem Alter. Sie hatte den Eindruck, als sie die Gesichter um sich herum betrachtete, dass fast alle schon nach einer gewissen Erfahrung aussahen - einige hatten wahrscheinlich sogar beträchtlich mehr Erfahrung als sie. Die meisten waren älter als 23 Jahre und einige sahen nach der maximalen Altersgrenze für neue Rekruten aus, die bei 37 Jahren lag.
Sie wusste, dass die Rekruten verschiedenster Herkunft waren und aus den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern stammten. Viele waren Polizeivollzugsbeamte gewesen, viele hatten im Militär gedient. Andere hatten als Lehrer, Rechtsanwälte, Wissenschaftler und Geschäftsleute gearbeitet und zeitweise noch viele andere Beschäftigungen innegehabt.
Aber eine gemeinsame Sache gab es – die absolute Verpflichtung, für den Rest des Lebens im Dienste der Strafverfolgung zu stehen.
Nur ein paar wenige kamen frisch vom Praktikantenprogramm. John Welch, der ein paar Reihen vor ihr saß, war einer von ihnen. Wie für Riley hatte es auch für ihn eine Ausnahmeregelung gegeben: Alle Rekruten mussten sonst mindestens drei Jahre durchgehend in der Strafverfolgung gearbeitet haben, um an der Akademie aufgenommen zu werden.
Swanson kam zum Ende seiner Rede …
“Ich freue mich darauf, die Hand aller derer zu schütteln, die hier in Quantico erfolgreich abschließen werden. Eines Tages werden Sie ihren Diensteid vor FBI-Direktor Bill Cormack persönlich ablegen. Ihnen dazu viel Glück.«
Und dann fügte er streng mit einem halben Schmunzeln hinzu: »Und jetzt – an die Arbeit!«
An Swansons Stelle auf dem Podium trat nun ein Ausbilder und rief nacheinander die Namen der Rekruten auf - ›NAT‹ wird ein Rekrut an der Akademie genannt, was ›New Agent in Training‹ bedeutet. Die jeweiligen NAT antworteten, wenn ihr Name aufgerufen wurde, und der Ausbilder fasste sie in kleineren Gruppen zusammen, die ihre Kurse gemeinsam besuchen sollten.
Als sie atemlos darauf wartete, dass ihr Name aufgerufen wurde, erinnerte sich Riley, wie nervtötend es gestern bei der Ankunft gewesen war. Nachdem sie eingecheckt hatte, war sie in einer Schlange nach der anderen gestanden: Formulare ausfüllen, eine Uniform kaufen, Zuteilung des Gemeinschaftszimmers.
Heute lief alles schon ganz anders.
Ein schmerzlicher Stich durchlief sie, als John Welchs Name fiel. Er wurde einer Gruppe zugeteilt, für die sie nicht ausgewählt worden war. Es hätte geholfen, dachte sie, einen Freund in der Nähe zu haben, auf den man sich verlassen konnte. Und mit dem man in den kommenden harten Wochen mitfühlen konnte. Andererseits dachte sie …
Das ist genauso gut.
Angesichts ihrer etwas verworrenen Gefühle für John, könnte seine Anwesenheit sie eventuell von den wichtigen Dingen ablenken.
Riley war dann schlussendlich erleichtert, als sie in der gleichen Gruppe wie Francine Dow landete, der Zimmergenossin, die ihr gestern zugeteilt worden war. Frankie, wie sie genannt werden wollte, war älter als Riley, vielleicht an die dreißig – eine Rothaarige mit guter Laune, deren rötliche Gesichtszüge darauf hindeuteten, dass sie bereits viel erlebt hatte.
Riley und Frankie hatten sich bisher kaum kennengelernt. Sie hatten gestern zu wenigen Dingen Zeit gehabt, außer ihre Sachen auszupacken und sich in ihrem kleinen Gemeinschaftszimmer einzurichten. Beim Frühstück war jede ihrer Wege gegangen.
Zu guter Letzt wurde Rileys NATs-Gruppe von Agent Marty Glick, dem Gruppenausbilder, im Flur zusammengerufen. Glick schien dem Aussehen nach in seinen Dreißigern zu sein. Er war groß gewachsen und hatte den muskulösen Bau eines American Football-Spielers. Er setzte ein ernstes, spaßbefreites Gesicht auf.